Dreamcatcher
Ich war in Mein Auto gestiegen und wirr in der Gegend herumgefahren. Mein Blick war verschleiert gewesen, vor Tränen und Schmerz, meine Gedanken vernebelt von Sams Worten und dem zutiefst verletzten Glitzern in seinen Augen.
Er hat es verdient, dieses Glitzern. Er hat dir auch wehgetan. Das redete ich mir zumindest ein, so richtig half es nicht.
Drei Stunden waren vergangen. Er hatte mir nicht geschrieben, mich nicht angerufen, nichts. Einfach nichts. Ich könnte auch gegen einen Baum gekracht sein, weil ich seinetwegen die Straße nicht hatte sehen können. Aber er machte sich keine Sorgen um mich. Offensichtlich. Es war vorbei. Das mit uns hatte nicht einmal richtig angefangen, da war es auch schon wieder dem Erdboden gleich gemacht worden.
Von Hunger getrieben parkte ich meinen Wagen vor dem Kennedy. Es war mir egal, dass ich aussah wie ein übernächtigter Nacktmull. Alles war mir egal. Hope blickte auf, als ich klingelnd durch die Tür trat. Es war kaum jemand hier. Nur Hope, die hinter der verchromten Kaffeemaschine den Tresen wischte, und ein Mädchen, das auf dem Platz am Fenster saß, den ich so mochte. War ja klar.
»Oh oh«, bemerkte Hope leise, während sie mich musterte. Ich ging auf sie zu. »Das sieht ganz nach dem Ich-hasse-Sam-Finley-Syndrom aus.«
Ich hörte, wie sich der Stuhl beim Fensterplatz über den Holzboden schob, wandte mich aber nicht um. Ich hatte echt keinen Bock auf eine feindselige Bemerkung irgendeiner blöden Kleinstadtgerüchtehexe. Stattdessen nickte ich Hope zu, die mich mitfühlend anlächelte und mir über die Theke hinweg den Arm tätschelte.
»Maple Macchiato und ein Mandelcroissant?«
Ich nickte dankbar und wandte mich um, um mir einen Platz zu suchen. Als mein Blick auf den der einzigen anderen Person hier drin traf, erstarrte ich in meiner Bewegung. Sie sah mich tatsächlich immer noch an. Sie hatte sich nicht nur kurz umgedreht, um zu sehen, wer hereingekommen war, sich ihre Gedanken gemacht, und sich wieder abgewandt. Sie musterte mich absichtlich und sie verblümte es nicht mal.
Ich hatte sie schon mal gesehen, irgendwo.
Ganz tief in mir suchte ich nach dem Moment, suchte nach Orten und Erinnerungen und ... »Hi«, sagte ich wie automatisch. Sie war das Mädchen aus Jareds Wohnung. Von dem Foto. Jetzt erkannte ich sie. Mit den hübschen blauen Augen, den dunklen Haaren und ... der Traumfängerkette. Verdammt. Natürlich. Ich starrte ich sie an, und sie mich. Ihre Haare waren zu einem wilden Knödel zusammengebunden, sodass ich jetzt erkannte, dass sie teilweise zu Dreadlocks geflochten waren. An vielen Stellen standen sie wild ab und überall waren die mit bunten Holzperlen verziert.
Ich ging einen Schritt auf sie zu.
»Dein Kaffee«, riss Hope mich aus unserem Starrwettbewerb. Ich wandte mich schnell ab, das Dreadlockmädchen tat dasselbe, und damit war's das wohl. Sie hatte mich angesehen, als wären wir irgendwie miteinander verbunden, und ich hatte eine wohlige Wärme in meinem Herz gespürt. Ausgelöst durch den Blick einer Person, deren Namen ich nicht mal kannte.
Ich nahm Kaffee und Croissant entgegen und suchte erneut nach einem Platz. »Magst du dich zu mir setzen?«
Verschreckt blickte ich auf und sah zu, wie das Dreadlockmädchen seine Sachen von dem Knautschsessel ihr gegenüber wegräumte. Ihre Strickjacke sah besonders aus. Sie war beige mit allerlei bunt gestickten Verzierungen, die sich kreuz und quer darauf erstreckten. Im Grunde fand ich ihr ganzes Outfit besonders. Ein langer Rock und ausgetragene vintage Birkenstock, dazu ein weißes Oberteil, das ihr zu groß war, aber dennoch nicht schlampig wirkte.
Ich nickte, weil ich nicht unhöflich sein wollte, und setzte mich. Meine Tasse und den Teller stellte ich auf den kleinen Tisch zwischen uns.
»Hallo, ich bin ...«
»Joana«, kam sie mir dazwischen, »ich weiß. Wir haben uns schon mal getroffen. Erinnerst du dich?« Ich nickte. Und trotzdem wusste ich ihren Namen nicht. Ihre Stimme war weich und angenehm, eine melodische Wolke. »Ich bin Lucia.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen, lächelnd und freundlich.
Lucia.
Kurzzeitig war ich erstarrt, dann schaffte ich es, ihre Begrüßung zu erwidern. Sie trug ein paar Ringe, alle aus Holz und ähnlich verziert wie die Perlen in ihrem Haar.
»Wow«, entglitt mir meine Meinung dazu völlig unverblümt. Lucia lächelte und zog ihre Hand verlegen zurück. »Deine Ringe sind wunderschön.«
»Danke«, sagte sie. Ihre Wangen wurden ein bisschen rosa. »Eine Freundin von mir macht die selbst.«
»Tatsächlich?«, entfuhr es mir ungläubig. Wieder starrte ich auf die Ringe an ihrer Hand, konnte nicht glauben, dass es Menschen gab, die so etwas mit ihren eigenen Händen erschufen. »Gibt es eine Möglichkeit, auch so einen zu bekommen?«
Lucias Lächeln wurde breiter. Sie nickte wild. »Sie verkauft ihren Schmuck vier Mal im Jahr beim Rodeo.« Das kam mir seltsam vor. Ein Rodeo war nicht unbedingt der erste Ort, an dem ich eine Schmuckverkäuferin erwartet hätte. Lucia schien meine Verwirrung zu bemerken, was sie erneut zum Lächeln brachte. »Ich hab ihr den Kontakt vermittelt. Sie lebt im Reservat und hat selten die Möglichkeit ...« Dass meine Augen sich weiteten, konnte ich förmlich spüren. »Was ist?«
»Deine Freundin ist Indianerin?«
Lucia zuckte zusammen, was ich sogar sehen konnte. »Sie ist Ureinwohnerin, ja. Jedenfalls zur Hälfte, aber sie ist im Reservat geboren und aufgewachsen.«
»Oh.« Verlegen wandte ich den Blick ab. »Tut mir leid, ich wollte nichts Unangemessenes sagen.«
»Schon okay«, winkte Lucia ab. Ihr Lächeln war zurück und ich atmete auf. Sie hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase, wodurch ihr ganzer Anblick noch faszinierender wurde. »Du kommst nicht von hier, du kannst das nicht wissen. Man sagt Natives.« Sie zuckte mit der Schulter. »Indianer ist einfach falsch.«
»Warum?« Ich trank einen Schluck Kaffee.
»Weil sie keine Indianer sind. Ganz einfach.« Interessiert nickte ich, während ich meine Tasse wieder abstellte. »Columbus dachte, er hätte Indien entdeckt. Also hat er alle Bewohner dieses Kontinents so genannt. Aber sie sind keine Indians. Keine Inder. Das hier ist nicht Indien.«
»Offensichtlich nicht«, platzte es aus mir heraus, was Lucia sogar zum Kichern brachte. »Ich werde mich ab jetzt bemühen, es nicht mehr falsch zu sagen.« Es war ein Versprechen, das ich einer völlig Unbekannten gab, nur weil es etwas zu sein schien, das ihr unendlich wichtig war.
»Damit habe ich heute schon einen Erfolg gelandet«, sagte sie stolz und lehnte sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück.
Ich lächelte sie an, weil sie so zufrieden mit sich wirkte, während sie in ihr Avocado-Sandwich biss. »Und du?«, fragte ich, weil ich plötzlich neugierig wurde. Ich musterte sie und ihre dunklen Haare, die natürlich sonnengebräunte Hautfarbe, die Sommersprossen, diese wunderschönen blauen Augen, die mich fragend durchdrangen. »Wo wohnst du?« Meine Stimme wurde etwas leiser, aber im Grunde war ziemlich offensichtlich, was ich meinte. Wohnte sie auch in einem Reservat?
»Ich?« Sie sah mich an. »Nein, ich bin keine Ureinwohnerin, auch wenn ich das Gefühl habe, meine Seele passt dort eher hin als zu euch anderen.« Verlegen betrachtete ich meine Hände, die mit einer zusammengeknüllten Serviette spielten. »Dort kennen sie meine Seele, weißt du?« Ich blickte hoch, wodurch ich bemerkte, dass Lucia lächelte. »Fragst du wegen meiner dunkleren Haut?«
Lieber nickte ich nicht, wich ihrem Blick aber vorsichtshalber wieder aus.
»Irgendwie ist das diskriminierend, weißt du?« Ich fuhr hoch, traf auf Lucias Blick und erschrak erst mal zu Tode. Dann hellten sich ihre Augen auf und sie lächelte. »War nur ein Witz.« Sie grinste gemein, aber ich konnte trotzdem aufatmen. »Ich komme aus Texas.« Ach so ... »Und nein, nicht alle Menschen in Texas haben diese sonnengeküsste Bräune, wie ich sie habe. Wenn du das jetzt denkst.« Lucia zuckte mit der Schulter. »Das liegt in der Familie.«
»Aber du ... du lebst hier, oder?« Anders formuliert: Du lebst hier, kennst Sam und hast eine Geschichte mit ihm, die mehr ist als nur im Sandkasten spielen, oder?
»Den großen Geistern da oben sei Dank, ja.« Das verächtliche Schnauben, das sie auf diesen Satz hin entließ, gab keinen Raum zur Spekulation. »Bleib mir bloß weg mit Texas. Dieser menschenfeindliche Staat hat mir nichts zu bieten. Konservative Idioten, die nichts anderes im Sinn haben, als ihr Land, das ihnen gar nicht gehören sollte, zu Geld zu machen. Öl, Rinder, Hitze. Weiße, alte Männer verbieten die Abtreibung ... Muss ich mehr sagen? So sind sie alle.«
»Ich bin mir sicher, dass es auch Texaner gibt, die anders sind.« Dabei dachte ich an Jared. Er kam mir nicht so sehr wie ein konservativer Idiot vor, aber soweit ich das kapiert hatte, kam er auch aus Texas.
Lucia zog die Schulter hoch. »Jedenfalls habe ich nie einen kennengelernt, der anders war.«
Ich starrte sie an.
Etwas zu lange wahrscheinlich, denn sie wand sich plötzlich unter meinem Blick. »Das war jetzt komisch, oder? Ich kann manchmal ein bisschen aggressiv werden, wenn es um ... na ja. Texas ist eben nichts für mich. Normalerweise hasse ich es, alle Menschen einer Nationalität in einen Topf zu werfen, aber Texas ist so ...« Sie zog erneut die Schulter hoch und seufzte. »Lass das nicht meine Familie hören, ja?«
»Großes Ehrenwort«, sagte ich mit einem aufmunternden Lächeln. Ein Versprechen, das ich mit Leichtigkeit würde halten können, zumal ich ihre Familie ja gar nicht kannte.
Ich betrachtete die Traumfängerkette, die sie um den Hals trug, und ... ich erkannte sie endlich wieder. Gebannt starrte ich drauf. Sam hatte die gleiche.
Sam.
Er hatte die gleiche Kette wie das Mädchen, das mir nicht nur in diesem Moment gegenübersaß, sondern das auch jedes Mal bei Erwähnung seines Namens Herzrasen in Sams Brust auslöste. Beim Gedanken daran setzte mein Herz kurz aus. Es wollte einfach nicht mehr normal schlagen.
Lucia bemerkte mein Starren und griff nach dem Traumfänger, um ihn unter ihrem T-Shirt zu verstecken. Mein Blick klärte sich und wanderte wieder zu ihren blauen Augen. »Was hat er getan?«
Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, dass sie mir eine Frage gestellt hatte. So richtig konnte ich es ihr ja auch gar nicht erklären, ich fand keine Worte.
»Tut mir leid, das ... geht mich nichts an.«
»Schon gut, ich kann nur noch nicht darüber reden.« Lucia nickte. Sie sah aus, als verstünde sie mich. Nicht nur meine Worte, sondern alles. Wirklich alles. »Du kennst Sam gut, oder?«
Ich konnte sehen, wie sie sich versteifte, und irgendwie wünschte ich mir auf einmal, ich hätte ihr diese Frage nicht gestellt. Von draußen erklang ein Hupen, das mich zusammenzucken ließ.
»Ja, ich kenne ihn ganz gut.«
Sie künstelte ein Lächeln.
»Er war einer meiner besten Freunde.«
»Er war auch einer meiner besten Freunde«, gab ich zu und spürte, wie sich schon wieder Tränen hinter meinen Augen sammelten. »Vielleicht mein bester.«
Lucia nickte wieder.
Schon wieder erklang diese Hupe von draußen und diesmal gab Lucia ein entnervtes Brummen von sich. Sie verdrehte die Augen und seufzte. Dann summte ihr Handy, das mit dem Display nach unten auf dem Tisch lag. Sie nahm es hoch und ging ran. »Ich komme ja schon. Kannst du einmal im Leben weniger nervig sein?«
Ich runzelte die Stirn, während sie sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte, um umständlich in ihre wunderhübsche Strickjacke zu schlüpfen.
»Ja.« Sie trank ihren letzten Schluck Kaffee aus und stand schließlich auf. »Mhm. Ja, ich bin gleich da. Darf ich vielleicht noch zahlen?« Genervt drückte sie ihren Anrufer weg und schob das Handy in ihren bestickten Beutel.
Dass ich sie anstarrte, bemerkte sie erst jetzt.
»Das war mein Bruder. Er ist fürchterlich anstrengend. Typisch Texaner«, fügte sie mit einem Zwinkern hinzu. »Immer am Drängeln und am Glauben, ihnen gehöre die Welt.« Seltsamerweise musste ich darauf lachen, während Lucia die Augen verdrehte. »Aber er ist mein Bruder, also muss ich ihn wohl oder übel liebhaben. Nicht wahr?« Ein komisches Gefühl breitete sich in meinem Herzen aus. Es drückte mich. »Na ja, jedenfalls muss ich los, bevor er noch die ganze Stadt mit seinem Hupkonzert beglückt.« Ich nickte etwas perplex. »Kopf hoch. Vielleicht hast du Glück und Sam kriegt sich zur Abwechslung mal wieder ein.«
Ich konnte mich nur wundern.
»Er mag dich. Ich kenne ihn und ich ...«, sie zog die Schulter hoch, »... na ja, ich kenne ihn.«
Mein Nicken darauf war voll von verwirrter Hoffnung. Sie schien keine Ansprüche oder so auf Sam erheben zu wollen, schien mir eher zu wünschen, dass alles wieder gut werden würde. Das wärmte mein Herz.
»Oh, eine Frage noch«, sagte sie und kramte dabei nach ihrem Handy, das sie kurz davor noch verstaut hatte. »Darf ich deinen Kaffee und das Croissant fotografieren? Du hast noch nicht abgebissen und es sieht hübsch aus.«
»Äh ... okay«, sagte ich ein bisschen irritiert, bevor Lucia sich neben mir hinkniete und über meinen Teller und Kaffee hinweg durch das bemalte Fenster nach draußen fotografierte. »Wozu?«
»Ach, ich fotografiere nur gern«, meinte sie, zuckte mit der Schulter und lächelte mir zum Abschied noch mal zu.
Damit ging sie weg, zahlte bei Hope für ihren Kaffee und verschwand begleitet von wildem Hupen nach draußen. Das war also Lucia. Lucia, die Sam kannte. Lucia, die die gleiche Kette trug wie Sam. Lucia, deren Namen Sam einmal erwähnt hatte, um sich kurz darauf beinahe die Zunge abzubeißen deshalb. Lucia.
Lucia, die unglaublich liebenswert war. Und die wahrscheinlich niemandem außer einer Horde Texaner etwas zuleide tun könnte.
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