Brother, let me be your shelter
Erst gegen halb zwölf, als mein Magen es gar nicht mehr lustig fand, dass ich immer noch nichts gegessen hatte, stapfte ich durch den Schnee zurück ins Haus. Eigentlich hatte ich vorgehabt, einfach ohne Essen schlafen zu gehen, aber ich war es nicht mehr gewohnt, abends die Protestgeräusche meines Magens zu hören.
Brian saß an der Kücheninsel und aß ein Sandwich, drauf würde es bei mir wohl auch hinauslaufen. Gekocht hatte wahrscheinlich niemand. Dass Brian überhaupt noch hier war, wunderte mich auch. Normalerweise war er um diese Zeit schon längst wieder im Haupthaus.
»Hey ...«, murmelte ich, ohne ihn anzusehen. Langsam schlüpfte ich aus meinen Stiefeln und ging zum Kühlschrank. Ein Käsesandwich würde es werden, alles andere bereitete mir gerade Bauchschmerzen.
»Jo?«
»Mhm?«
Ich legte eine Scheibe Käse auf mein Brot und überlegte, ob ich noch eine wollte. Weil Brian nichts sagte und ich mich deshalb beobachtet fühlte, klappte ich einfach den Deckel drauf. Dann eben nur eine Scheibe, war auch gut.
»Ist bei dir alles okay?« Ich nickte verwirrt über diese Frage. Ich war es nicht, die vorhin auf dem Badezimmerboden einem Breakdown erlegen war. Das war ein beinharter Zusammenbruch gewesen, und in Brians Blick konnte ich deutlich erkennen, dass ich mit dieser Einschätzung nicht übertrieb. Jetzt wirkte er nämlich, als wäre ihm der Appetit vergangen. Sein Sandwich war erst zur Hälfte aufgegessen. Es war gefüllt mit Salat und Tomaten, und an den Seiten rann Ahornsirup heraus. Sah eigentlich ganz lecker aus, nur verstand ich echt nicht, wie man wirklich überall diesen klebrigen Sirup draufpacken konnte.
»Geht ... geht es Sam gut?«
»Nein«, sagte Brian sofort und das erschreckte mich doch etwas. Anscheinend wollte er sich nicht einmal Mühe geben, einen Hehl daraus zu machen. Der Blick, den er mir dabei zuwarf, ließ mich erschaudern. Mir wurde kalt. Und gleichzeitig heiß. Was hieß, es ging ihm nicht gut? Wieso nicht? »Jo, kann ich dich um was bitten?« Er klang irgendwie gequält, als wäre er viel zu müde und längst bereit für sein Bett.
»Klar. Soll ich ... irgendwas machen? Ich kann nach ihm sehen, oder soll ich ... ihm eine Suppe machen? Braucht er irgendwas?«
»Jo ...«
»Was hat er denn?«
»Er schläft schon. Und nein, das ... das ist es nicht, worum ich dich bitten will.«
»Ist er krank geworden? Ich kann für ihn ...«
»Jo«, unterbrach er mich erneut, sanft, aber so eindringlich, dass ich schlucken musste. »Er ist nicht krank.«
»Oh...okay«, krächzte ich überfordert. Was war dann mit ihm los? Das heute war doch nicht normal gewesen und ich machte mir Sorgen. Richtige, schmerzhafte Sorgen. Ich wusste nicht so recht, wie ich dieses Gefühl einordnen sollte, ich hatte auch nicht den blassen Schimmer, was ich damit anfangen sollte. Sorgen hatte ich mir bisher nie um jemanden machen müssen – nur um mich. Und ich war mir bisher immer nicht so wichtig gewesen. Auch hatte die gespielte Fürsorge meiner Eltern und die Tadeleien meines Bruders durchaus ausgereicht, um ein relativ sorgloses Leben zu führen.
Das war jetzt anders.
Auf einmal machte ich mir echte Sorgen um ... jemand anderen. Um Sam.
»Jedenfalls nicht körperlich«, meinte Brian, wodurch ich schon wieder von innen heraus erfror. Ich wollte etwas sagen, aber mir fehlten ganz einfach die Worte. Was bedeutete das? War er seelisch krank? Am Ende vielleicht psychisch? »Du musst mir was versprechen.«
»Okay ...«
Er stand auf. Schweigend packte er sein Sandwich in eine braune Tüte ein und stellte seinen Teller in die Spüle.
»Tu ihm nicht weh ... Jo ...« Ich erstarrte. Brian klang so ernst, fast flehentlich, als hätte er wirklich Angst davor, ich könnte seinen Bruder verletzen. Keine Ahnung, wie er darauf kam, dass ich dazu überhaupt die Macht besaß.
Erst als ich nickte, wandte er sich ab.
»Brian ...« Ich schluckte den Kloß runter, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. Ein Kloß aus Fragen, aus Sorgen, aus Frust. »Du hast Sam sehr lieb, oder nicht?« Langsam drehte Brian sich noch mal zu mir um. Seine Augen glitzerten, während er nickte. »Warum bist du dann immer so gemein zu ihm?«
»Ich bin nicht gemein zu ihm.«
Anscheinend dachte er das wirklich.
»Du beleidigst ihn oft.« Keine Ahnung, was ich da tat. Brian war Sams Bruder, es ging mich nichts an, wie er ihn behandelte. Was zwischen zwei Brüdern ablief, war ganz sicher nichts, wo ich mich einzumischen hatte. »Ich will das nur verstehen. Ich will Sam verstehen.« Weil du neugierig bist, Jo. Ganz einfach. Das warst du immer schon.
»Ich bin nicht gemein zu ihm«, sagte Brian leise, aber diesmal so bestimmt, dass ich ihm das fast abkaufte. Obwohl ich doch dauernd sah und hörte, wie gemein er zu ihm war. »Ich will nur, dass er endlich aus seiner Nussschale rauskommt.«
»Hast du mich deshalb hierhergeholt?«
»Nein, dich habe ich hergeholt, weil ich gedacht habe, Sam würde dich vielleicht ... ahm ...«
»... flachlegen?« Ich grinste, weil ich sehen konnte, wie ihm innerlich die Kinnlade runterfiel. Ja, ich hatte das Telefonat zwischen den beiden gehört – an meinem ersten Tag hier. Und ich hatte es nicht vergessen, und noch weniger hatte ich es verziehen. Ich mochte Brian, er war in Ordnung, aber er war ein Schwein, so viel stand fest.
»So ungefähr, ja.« Jetzt war er es, der grinste, während ich seine Ehrlichkeit kaum verarbeiten konnte. »Aber er kriegt ja seine Eier nicht zurück in seine Hose, also wird das wohl nichts werden.«
»Siehst du, genau das meine ich«, pflaumte ich ihn unvermittelt an. »Dauernd sagst du solche Sachen. Aber anderseits bist du so ... so wie heute. Oder was du an Silvester gemacht hast, das ... das war so ...«
»Was habe ich denn an Silvester gemacht?«
»Du hast mir in Sams Namen geschrieben, damit ich nach Hause fahre. Du wolltest nicht, dass Sam allein ist, oder? Deshalb hast du das gemacht. Und das war richtig lieb von dir.«
Ein amüsiertes Funkeln trat in Brians Augen. Ich konnte es nicht einordnen, aber es war so blitzend, dass ich bereute, meine Theorie geäußert zu haben.
»Es war mir scheißegal, ob Sam sich völlig allein ins neue Jahr langweilt.« Aber ... »Ihm war es nicht egal, mit wem du dich so ganz und gar nicht gelangweilt hast.« Jared? Aber woher ... »Ich habe ihm ein Video von eurer Showeinlage geschickt.«
»U...und dann?«, stakste ich völlig verloren.
»Dann hat er mich gebeten, was zu unternehmen.«
Mir stand der Mund offen.
Das war eine Lüge.
Oder?
Er zwinkerte mir zu, lächelte noch einmal und drehte sich dann weg. Ich starrte ihm benebelt hinterher, bis die Haustür ins Schloss fiel und ich allein zurückblieb. In völliger Stille, nur noch in Begleitung meiner lauthals schreienden Gedanken.
Er war eifersüchtig.
Sam war eifersüchtig auf Jared.
Und heute war er ... was war das gewesen? Furcht? Ja, so etwas ähnliches. Panik, Angst ... gewaltsam und eindringlich. Ich hatte sie gespürt. In seinen Augen, seinem Körper, dem Beben darin. Aber wovor? Was hatte ihm solche Angst gemacht?
Ob er sauer auf mich war? Wahrscheinlich schon, denn es war ja meine Schuld gewesen. Ich war immerhin in das Becken gestürzt. Ich, nicht Sam. Er war mir hinterhergehüpft, um mich zu retten.
Tu ihm nicht weh, hatte Brian gesagt. Wie kam er gerade jetzt darauf, dass ich ihm wehtun könnte? Was hatte dieser Abend mit Sams Gefühlen zu tun? Für mich ...
Oh Gott.
Der Gedanke wirbelte meinen Kopf durcheinander, ähnlich wie mein Herz. Gefühle. Wieder dieses Wort, aber vielleicht passte es diesmal. Vielleicht mochte er mich ja ein bisschen. Sonst müsste Brian sich meinetwegen doch nicht sorgen. Und mochte ich ihn auch? Hatte ich Gefühle für Sam? Für Dr. Samuel Finley? Klang surreal, fühlte sich surreal an, zauberte ein bedenklich reales Lächeln auf meine Lippen.
Es knackte hinter mir. Und als ich realisierte, dass es Sams Zimmertür gewesen war, stand er bereits vor mir in der Küche.
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