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Am nächsten Morgen beginnen endlich die lang ersehnten Sommerferien, auf die die Freundesgruppe schon seit Jahren hin fieberte. Immerhin hatten die Freunde nun ihr Abi in der Hand und wollten noch einen letzten Sommer gemeinsam Zuhause in dem kleinen Dorf verbringen.
Am nächsten Morgen steht Lian auf, um sich gleich darauf um die Schafe zu kümmern. Er holt das Futter aus der Küche und macht sich auf den Weg über die große Wiese. Schon von weitem kann er die Schafe erkennen, die alle in der Sonne liegen und ihr Leben genießen. Die letzten paar Meter sprintet er zu den Schafen, denn immer wenn er aufgeladen ist, hilft es ihm, ein paar Meter zu rennen. Wahrscheinlich hat er dies von seiner Mutter, denn sie war eine echte Sportskanone. Seine Eltern leben getrennt. Lian hat seine Mutter nie kennen gelernt, doch sein Vater redet auch nicht gerne über sie. Sie war abgehauen, als Lian noch ein kleines Kind war.
Nun begibt er sich auf die große Wiese, auf der die Schafe stehen und treibt sie zusammen, damit er ihnen das Futter geben kann. Manche kommen sofort angerannt, wenn sie Lian auch nur von weitem sahen. Andere hatten überhaupt kein Interesse an ihm, auch wenn er das Futter dabei hatte. Er kann sich bis heute nicht erklären weshalb. Obwohl die Schafe ihn schon seit Jahren kennen, scheinen einige immer noch Angst vor dem Jungen zu haben.
Er steht auf der Wiese mit seinem Eimer in der Hand. Er könnte den Eimer einfach ausleeren und in den Trog kippen, doch das wäre viel zu einfach für Lian. Er liebt die Tiere und mag es, wenn sie aus seiner Hand fressen. Somit setzt er sich inmitten der Schafe und beginnt einige, die sich an ihn herantrauen, zu füttern.
„Lian?", ertönt auf einmal eine Stimme hinter ihm. In Lians Bauch tobt ein ganzer Zoo, denn er kann die Stimme sofort zu ordnen. Allein ihre Stimme löst in ihm Wirbelstürme aus, die die ganze Menschheit auslöschen könnten.
„Storm?", fragt er. Er hört, dass seine Stimme gewaltig zittert. Wieso hatte sie auf einmal so eine Wirkung auf ihn? Sie waren doch seit Jahren beste Freunde und er war noch nie so aufgeregt in ihrer Gegenwart gewesen. Er betet heimlich, dass sie seine Aufregung nicht bemerkt.
„Seit wann bist du hier?", fragt er.
„Ich bin definitiv vor dir da gewesen", grinst sie ihn an. Bei diesem Lächeln könnte er schmelzen. Ihre hellen blonden Haare glitzern in der Sonne und ihre blauen Augen strahlen, da sie von der Morgensonne angestrahlt werden. Dieses Erscheinungsbild macht sie bloß noch verführerischer und Lian würde sie am liebsten küssen. Doch er weiß auch, dass sie ihm wehtun würde, wenn er es versuchen würde. Das mit Lian und Storm kann nicht funktionieren, denn Storm ist eine Herzensbrecherin, durch und durch.
Sie war noch nie mit einem Jungen zusammen gewesen, aber hatte schon mindestens tausend Körbe verteilt. Hatte mindestens hundert Jungs das Herz gebrochen. Niemand wusste, weshalb man Storm so faszinierend fand, aber er tat es ja auch. Vielleicht war es, weil sie so geheimnisvoll war, schön aussah und einen wunderbaren Charakter besaß. Niemand wusste weshalb, doch alle wussten, wie. Storm war seit heute Morgen vor Sonnenuntergang bei den Schafen, denn sie liebt es sich bei den Schafen zurückzuziehen. Genauso, wie Lian ist sie unglaublich tierlieb. Nur passte es nicht zusammen, dass sie tote Tiere sammelt.
Lian schaut an Storm herunter und sie trägt das gleiche, wie den Großteil der Zeit. Normalerweise lästerten die Menschen, wenn andere drei Mal hintereinander den gleichen Pullover tragen. Bei Storm bewunderten sie sie dafür. All das passte auf einmal nicht mehr für Lian zusammen. Er wollte der einzige sein, der für Storm schwärmt, denn es ist ihm bewusst, dass die beiden von Grund auf an verschieden sind und wahrscheinlich niemals zusammen finden werden. Immerhin konnte Storm jeden haben.
Er schaut grinsend auf ihre Füße herunter, denn sie trägt wieder einmal ihre gelben Doc Martens, die sie wirklich immer trägt. Es ist, als würde sie gar keine anderen Schuhe besitzen und diese nicht ausziehen. Lian hat sie gefühlt noch nie ohne diese Schuhe gesehen. Außerdem hat sie eine weite Latzhose an und darunter trägt sie ein langärmliges Streifenshirt mit einem T-Shirt darüber. Zum Schluss hat sie ihre Collegejacke von Bowie drüber gezogen, obwohl es über dreißig Grad sind. Sie sitzt lächelnd neben einem der Schafe und streichelt es.
„Willst du mir helfen, sie zu füttern?", fragt er und hält ihr den Eimer hin, sodass sie sich etwas herausnehmen kann. Sie entscheidet sich für eine Mohrrübe und hält es einem der kleineren Schafe unter die Nase.
„Hier. Das schmeckt wirklich großartig", sagt sie und beißt von der Karotte ab. Lian muss lächeln, denn Storm weiß, dass manche der Schafe Probleme mit dem Essen haben. Sie ist so liebevoll zu den Schafen, als wenn es ihre kleinen Geschwister wären. Die beiden genießen das beisammen sein. Man hört die Grillen zirpen und das Wetter riecht nach Sommer. Es ist noch früh morgens und still, keine Traktoren rauschen über die Felder. Storm und Lian sind glücklich.
„Wir müssen noch die im Stall füttern", sagt er nach einer Weile.
„Wen?"
„Wir haben ein Neugeborenes und das wurde von ihrer Mama verstoßen. Wir müssen es mit der Flasche füttern. Es darf noch nicht raus", erklärt Lian.
„Darf ich es füttern?", ruft Storm begeistert.
„Wenn es dich mag, dann ja. Aber wenn es die Flasche von dir nicht annimmt, muss ich übernehmen"
„Ich will es versuchen!", ruft Storm aufgeregt, wie ein kleines Kind.
Die beiden schlendern über die Wiese und Lian kippt den Rest des Futters in den Trog, sodass die Schafe, die nicht gefüttert werden wollen, auch etwas abbekommen. Den leeren Eimer stellt er auf der Wiese ab und dann gehen sie beide gemeinsam in den Stall, in dem das kleine Schaf schon hungrig auf ihn wartet. Das kleine Schaf fängt fröhlich an zu blöken. Storm setzt sich vorsichtig neben sie und hält die Flasche. Tatsächlich trinkt das kleine Schaf sofort.
„Du bist ein Naturtalent", ruft Lian begeistert.
„Noch nicht einmal bei mir hat sie so schnell getrunken"
„Vielleicht, weil ich weiblich bin. Wie seine Mama" , sagt sie gedankenversunken. Die beiden füttern die restlichen Schafe und dann müssen die beiden auch schon nach Hause. Da sie beide in der gleichen Richtung wohnen, können sie gemeinsam gehen.
„Wie findest du den Abiball eigentlich? Mochtest du ihn? Ich kann es immer noch nicht richtig glauben, dass wir jetzt einfach da raus sind. Nie wieder in die Schule. Irgendwie ist das alles noch immer so surreal", fragt Storm ihn.
„Ich hatte die beste Begleitung, die man sich hätte wünschen können", grinst er. Man könnte meinen, dass Storm ein wenig rot wird. Dabei müsste sie solche Komplimente doch andauernd bekommen. Sie wuschelt ihm durch die schwarzen Locken und sagt dann „Gleichfalls". Die beiden schlendern gemeinsam nach Hause und bei Lian verabschieden sie sich schließlich mit einer Umarmung.
„Bis nachher", sagt Storm.
„Bis nachher", erwidert auch Lian. Er weiß zwar nicht, weshalb die beiden sich nachher noch einmal sehen würden, aber es ist ihm nur recht so. Sie müsste sich nun erst einmal um die Hühner kümmern und Lian muss seinem Vater helfen. Während der Umarmung kitzelt Storm die Aufregung wieder aus ihm hinaus, denn als die beiden eine Weile miteinander verbracht haben, ist er nicht mehr so aufgeregt, wie am Anfang. Immerhin sind die beiden besten Freunde. Er wusste, dass sie ihm zu einem gewissen Grad mag. Diese Aufregung musste er nicht ertragen, wie andere, die ein 'Date' hatten. Ob dies nun ein Vor- oder ein Nachtweil ist, das kann er selbst nicht einmal einschätzen. Er will auf keinen Fall die Freundschaft zwischen den beiden gefährden.
Storm kommt nach vier Stunden wieder Zuhause an und setzt sich erst einmal in den Hühnerstall, um ihre Lieblingshühner hinaus zu locken und diese zu streicheln.
„Was geht?", fragt sie grinsend und schließt die Tür hinter sich. Auch wenn sie keine Geschwister hat, fühlt es sich manchmal so an, als wären die Hühner ihre Geschwister. Sie mag es nicht, den Hühnern ihre Eier weg zu nehmen, doch es ist ihr Job. Ihr Vater und sie hatten nie besonders viel Geld, denn mit der Landwirtschaft machte man nicht besonders viel Geld. Seit ihre Mutter damals gestorben war, war ihr Vater nie mehr derselbe gewesen. Die Landwirtschaft und ein eigener Bauernhof war immer deren Traum gewesen. Doch als sie sich den Traum endlich erfüllen konnten, war sie verstorben. Manchmal gab Storm sich selbst die Schuld daran, denn ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Storm hatte oft damit zu kämpfen, nicht in ihrem Zimmer zu sitzen und zu weinen. Deshalb war sie morgens oft bei den Schafen. Sie suchte Trost bei den Tieren, denn ihr Vater hatte durch die Landwirtschaft wirklich wenig Zeit. Man unterschätzt die Arbeit eines Bauern wirklich sehr. Er stand morgens früh auf und fand abends erst spät ins Bett. Da war eigentlich gar kein Platz mehr für ein trauerndes Kind. Auch nach neunzehn Jahren schleppte Storm dieses Gefühl noch mit sich herum.
„Alma!" , schreit Storm lachend, denn Alma läuft vor ihr weg. Dann bleibt Alma, ihr Lieblingshuhn wieder stehen und schaut sie verdattert an. Storm muss lachen.
„Storm?", fragt jemand lachend.
„Marzia?", fragt Storm, nun das Huhn in ihrer Hand.
„Ich hab Frühstück mitgebracht", lächelt ihre Freundin sie an.
„Genau das, was ich jetzt brauche", grinst sie und kippt den Rest des Futters einfach in den Hühnerstall. Die Eier hatte sie inzwischen eingesammelt. Sie beschließt, dass die restlichen Eier den Hühnern ganz alleine gehören sollten, auch wenn dies vielleicht ein schlechteres Geschäft ihres Vaters bedeuten könnte. Sie liebte ihren Vater wirklich sehr, aber sie hasste die Aufgabe ihren Lieblingen etwas wegzunehmen. Sie war ein Dieb, der ihnen das heiligste wegnahm, was sie besaßen. Storm wusste, dass sie dies nicht mögen würde, wenn man das mit ihr machte und sie behandelt auch Tiere so, wie sie gerne behandelt werden würde, wenn sie das Tier und die Tiere der Mensch sein würde.
„Soll ich die restlichen Eier noch einsammeln?", fragt Marzia und wartet noch nicht einmal auf eine Antwort. Sie drückt Storm den Korb in die Hand, den sie mitgebracht hatte und verschwindet in dem Stall. Nach fünf Minuten kommt Marzia wieder aus dem Stall heraus und hat noch einen ganzen Korb voller Eier gesammelt.
„Ich glaube, dein Vater kann endlich wieder einmal ein gutes Geschäft machen", freut ihre Freundin sich für die Familie. Die beiden setzen sich an den Tisch auf der Veranda, denn ein großes Grundstück besaßen die Sommervilles auf jeden Fall. Immerhin wohnten sie auf einem Bauernhof. Marzia trinkt lächelnd ihren Kaffee und erzählt von der gestrigen Nacht mit Stean. Die beiden waren wirklich das Traumpaar schlecht hin. Storm wünschte sich insgeheim auch so eine Beziehung, wie die beiden sie hatten.
„Ich habe extra was aus dem Laden mitgebracht", versichert Marzia, als sie den gedeckten Tisch sieht. Sie packen noch schnell die letzten Sachen aus ihrem kleinen Jutebeutel aus. Marzia hat neben der Schule immer in einem kleinen Tante-Emma-Laden gearbeitet, bei dem sie nun auch noch den restlichen Sommer verbringen würde, bis sie einen Ersatz für sie gefunden hätten.
„Brötchen, Franzbrötchen, natürlich Kaffee und nur das Beste für meine beste Freundin", grinst sie. Storm holt noch den Aufschnitt aus dem Kühlschrank und obwohl die beiden sich erst gestern über drei Stunden bei Storm Zuhause gesehen hatten, redeten sie wieder ununterbrochen.
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