Der Seidenspinner
Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen des Wettbewerbs "Oktober" von eisbaerlady . Als Grundlage dafür diente eine Collage und das Genre Horror.
Es war ein durchwachsener Tag in den Suburbs von London. Rot gepflasterte Riesen leuchteten schwach durch den trüben Nebel, der sich wie ein Schleier über die Stadt gelegt hatte, die dank dem prasselnden Regen einer ewigen Pfütze glich. An der Stadt hatte sich wenig geändert. Sie war historisch - müffelnd, ihre Straßen wurden von Wellen an Regenschirmen überrollt und in den rauchigen Pubs stank es schon seit den späten Mittagsstunden nach teurem Bier und billigen Schnäpsen.
Was wie die Szenerie eines schlechten Films klang, war der Traum eines jeden Londoner Kindes und jener Bewunderer, die ihr Leben ganz dem Anblick vergilbten Papiers und dem Geruch herben Kakaos verschrieben hatten.
Es war Halloween 1998.
Wie so oft hatte sich die kleine Freundesgruppe in dem kleinen Café in einer unscheinbaren Seitengasse getroffen und saß bei Tassen voller Kakao und frischem Kürbiskuchen zusammen. So war es jedes Halloween gewesen. Die Zeit, die früher das Kürbisschnitzen eingenommen hatte, verbrachte die Gruppe nun in den Gassen Londons.
Das frisch gefallene Laub knirschte unter ihren Schritten, als sie sich ihren Weg durch die Altstadt bahnten. Die Stufen so mancher Häuser wurden von leuchtenden Kürbisgesichtern geziert, ansonsten war es ruhig. Erst 17 Uhr, die Kinder würden traditionell erst zu Beginn des Abends auf die Jagd nach Süßem gehen.
"Ein Albtraum", nannte Jakob es, als er einen besonders miss geratenen Kürbis betrachtete, dessen Gesicht eine Mischung aus Ekel und grundlegender Abneigung zeigte.
"Sei nicht so gemein." Ann zog ihn von der Haustür weg. "Halloween ist nun einmal für Kinder und du bist keines mehr."
Jakob schürzte die Lippen und blieb trotzig stehen. "Das ist kein Kinderfest." Verbissen schaute er zu der Blondine, die jedoch bereits ein paar Schritte weiter gegangen war und eine Brünette begrüßte, die Hand in Hand mit ihrem Freund aus einem Lädchen spaziert kam. Ihr Freund war ein großer, schlacksiger Kerl mit einem Gesicht, das irgendwie leer aussah. Jakob sah keinen Grund seiner besten Freundin zu folgen, die sich lachend um den Hals ihrer Freundin geschmissen hatte und direkt anfing mit leuchtenden Augen auf sie einzureden. Stattdessen beobachtete er noch einmal den leeren Blick des Kürbisses, dessen Fratze ihn zu verfolgen schien. Komisch eingefallen war er bereits, als gehöre das dargestellte Gesicht einer schrumpeligen Mumie. Hatte er eben schon so ausgesehen? Plötzlich schienen die schwarzen Höhlen gar nicht mehr so leer. Plötzlich war es das Gesicht eines alten Mannes, der ihn aus blassen, aber wachen Augen anschaute.
Der Anblick graute ihm. Er konnte sich nur schwer losreißen, als sich der orangene Mund zu einem Lächeln zu verziehen schien, dessen Kraft bis in sein Gehirn vordrang, es bei seinem Stamm packte und zu sich zog. Vor ihm stand Ann, ganz unbeeindruckt von der Situation.
"Was ist los?", fragte sie ihn, den Kopf leicht schief gelegt, als hätte sie nichts von der Situation mitbekommen.
Unsicher kehrte sich Jakob zu dem Kürbisgesicht um, das ganz unverstohlen zu ihm blickte, ihm beinahe zu zwinkerte. Er riss seinen Kopf herum, mit weiten Augen starrte er seine Freundin an, nur um zu sagen: "alles ist gut". Diese schüttelte nur den Kopf. "Manchmal bist du echt komisch", bemerkte sie, nahm es jedoch humorvoll. "Willst du weiter?"
Jakob nickte und bemühte sich angestrengt nur noch auf die Straße vor ihn zu schauen und alles andere auszublenden. So bemerkte er auch nicht die Vielzahl an Kürbisgesichtern, die ihn mit einem amüsierten Blick verfolgten.
"Wie wäre es hier mit?", fragte Ann und deutete auf einen kleinen Dekorations-Laden, in dessen Schaufenster kleine, selbst bemalte Keramikkürbisse standen. "Wir könnten selber welche bemalen, was meinst du?". Ihre Stimme war voller Begeisterung. Mit den Händen in den Taschen ihres Mantels und der viel zu großen Wollmütze auf dem Kopf, unter der zwei geflochtene Zöpfe hervorkamen, wirkte Ann wie ein kleines Kind, dem man einfach nicht nein sagen konnte. Angesichts der Kälte, die Jakob sobald sie standen zum Zittern brachte, schien ihre Frage um so verlockender. Doch etwas in ihm hielt ihn davon ab ihre Hand zu nehmen und ins Warme zu gehen.
"Wollen wir nicht lieber etwas richtig Halloween-isches machen?", fragte er daraufhin und schaute Ann flehend an. Aus großen braunen Augen schaute Ann enttäuscht zurück. Sie schürzte ihre Lippen, die ganz rot und trocken von der eisigen Luft waren. "Woran denkst du genau?"
Es war klar, dass sie keine Lust auf einen noch längeren Spaziergang hatte, obwohl die Zeit des Sonnenuntergangs ihre liebste war. Doch zuvorkommend wie sie war, war sie immer zu Kompromissen bereit. "Ich dachte an das alte Weber-Haus. Für ein richtiges Halloween-Feeling, du weißt schon."
Das alte Weber-Haus war die letzte, heruntergekommene Holzhütte (und größer war das Haus auch nicht), dass man im Herzen Londons finden konnte. Ihre Türen und Fenster waren schon vor langer Zeit vernagelt und der alte Metallzaun durch Ketten verschlossen worden. Trotzdem stand das Haus alle paar Jahrzehnte in den Schlagzeilen, wenn irgendwelche Jugendliche sich an Halloween einen Spaß daraus machen, dort einzubrechen, um die Kinder auf der Straße zu erschrecken.
Ann's Blick verriet genau was sie von der Idee hielt. Und zwar gar nichts. Doch das wollte sie Jakob nicht so ins Gesicht sagen. Alles sprach dagegen, ihre tauben Glieder und brennende Haut und vor allem die Tatsache, dass wenn sie erwischt werden würden, es massiven Ärger geben würde. Die Idee daran führte zu einem Ziehen in ihrer Magengegend. Wenn sie etwas gar nicht leiden konnte, dann Ärger.
"Gut", sagte sie entgegen aller Erwartungen, "wir gehen." Jakobs Blick hob sich und seine eingefrorenen Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. "Aber glaub bloß nicht, dass ich das gutheiße", fügte sie hinzu. Ihr Gelächter erfüllte die Kälte und ließ Jakob warm ums Herz werden.
Mit einem etwas leichteren Gefühl machten die beiden sich auf dem Weg. Der steife Stoff seiner Hose rieb unangenehm an Jakobs Beinen, seine Haut fühlte sich an als würde sie brennen. Ann musste es ähnlich gehen als sie sich bei Jakob unterhakte und versuchte auch das letzte bisschen Körperwärme aufzunehmen. Der Weg zum Haus war nicht weit, ganz im Gegenteil. Das Haus lag in der Seitengasse einer der meist belaufenen Straßen Londons. Trotzdem wurde es nur selten von Einheimischen bemerkt, von Touristen gar ignoriert. Es war einfach nur unpassend, ein Haufen Holz zwischen Backsteinbauten.
Der starke Wind trug ihnen den metallischen Geruch von rostenen Eisen und modrigem Holz entgegen. "Sicher, dass wir das machen sollen?", fragte Ann, ihre Fäuste hatten sich um die kalten Stangen des Eingangstors geklammert. "Wieso nicht?", entgegnete Jakob, dem das rostene Metall in die Handflächen schnitt. Das Eisen war kalt, auch durch das Material seiner Handschuhe. Doch es hielt ihn in der Gegenwart. Das war kein dummer Horrorfilm.
Ann gab ihm keine Antwort, stattdessen machte sie sich an dem Zahlenschloss zu schaffen, das die beiden Torflügel mit einer Kette sicherte.
"Ann, lass das", zischte Jakob und sah sich verstohlen um. Wenn er eines vermeiden wollte, dann, gesehen zu werden. Ann wollte gerade etwas erwidern - und Jakob sah in ihrem Gesicht, dass es nichts Positives gewesen wäre - als eine Gruppe Kinder mit Tüten voller Süßigkeiten um die Ecke kam. Er hielt ihr die Hand vor den Mund. Für den Moment, bis die Kinder um die nächste Ecke waren, konnte Ann nur den Rost an seinen Fingern riechen.
"Was soll das?" Ihre Stirn färbte sich rot unter dem Ansatz ihrer blonden Haare. "Wir sollten uns nicht erwischen lassen. Niemand sollte überhaupt wissen, dass wir da sind."
Ann nickte, immer noch wütend und setze dann einen Fuß auf den bröckeligen Stein der hohen Mauer. "Mir nach", flüsterte sie und zog sich an einem anderen Stein hoch und immer so weiter, bis sie rücklinks auf der Mauer saß und frech auf ihren Kompagnon hinab schaute. "Kommst du?" Ein breites, teuflisches Grinsen überkam ihr Gesicht. So eines, dass Jakob noch nie gesehen hatte. Er schluckte einmal schwer, der Kloß in seinem Hals, der sich durch die Äußerung seiner Idee gebildet hatte, wuchs um ein Vielfaches. In dem Moment der Stille zwischen ihnen, setze Jakob einen Fuß nach dem anderen auf die Steine der Mauer, klammerte sich mit seinen Händen fest und zog sich Stück für Stück hoch. Er hörte das Blut in seinen Adern ulsieren, spürte das raue Material der Steine, das seine Fingerkuppen reizte. Seine etwas zu langen Fingernägel kratzten unangenehm an der Mauer, während er seine Füße beinahe gewaltsam auf die Tritte stemmte. Er war gerade oben angelangt und schlang seine Arme um den oberen Teil der Mauer, da gab einer der Steine krachend unter seinem Gewicht nach und fiel bröckelnd in die Tiefe. Jakobs bein rutschte ab, seine Kniescheibe traf schmerzhaft auf den Stein, er schrie. "Sei leise, verdammt!" Das war Ann, die, weiterhin auf der Mauer sitzend, Jakobs Arm packte und versuchte ihn hochzuziehen. Panisch klammerte sich dieser an ihre Handgelenke, bis die Knöchel seiner Finger weiß wurden.
Mit Anns Hilfe schaffte er es auf die Mauer und konnte sich hinsetzen. "Mein Knie", stöhnte er elendig und schaute auf die blutende Schürfwunde, die durch die Fetzen seiner Hose zu erkennen war.
"Willst du immer noch in das Haus?", fragte Ann leise, die ihn etwas mitleidig beobachtete. Jakob drehte sich um und blickte auf den Schuppen. "Ich will, es ist Halloween. Das ist nur einmal im Jahr."
Ann gluckste, nahm seine Hand und zog ihn mit von der Mauer hinunter in den kleinen Vorgarten. Sie landeten so leise es ging auf der durchnässten Erde, die sofort an ihren Schuhen haften blieb. "Ekelhaft", kommentierte Ann und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab.
Jakobs Blick war bereits zu dem gewandert, was sie jetzt erwarten würde. Aus dieser Distanz sah das Haus größer aus, als er es zuvor geschätzt hatte. Statt einem Schuppen erwartete ihn ein stattliches, wenn auch über die Jahre verfallenes Handwerkerhaus. Unter seinem Vordach lagerte ein Stapel modrigen Feuerholzes, ein paar Eimer und merkwürdige Glaskäfige, in denen sich braunes Regenwasser gesammelt hatte. An einem Haken neben der Tür hing ein verschlissener Baumwollmantel, an dem sich schon die ein oder andere Motte zu schaffen gemacht hatte.
"Und wie kommen wir jetzt da rein?", fragte Ann, die die vernagelte Holztür vor ihnen musterte. Jakob sah sich um. Bis auf eine alte Gartenschere konnte er nichts ausmachen, was ihm als Werkzeug helfen könnte. Er nahm sie von dem Holzhaufen, auf der sie lag, wog ihr Gewicht in seiner Hand und überlegte, während Gruppen von Kindern an den Mauern des Grundstücks vorbeizogen.
Dann krachte es. Nachdem Jakob die Fensterläden aus den Angeln gehoben und den passenden Moment abgewartet hatte, hatte er die vergilbte Glasscheibe eingeworfen. Scherben flogen umher und die Schere landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Holzboden des Hauses.
"Ladies first", wies Jakob sie an und streckte und einladend seine Hand aus. Ann lächelte gespielt, folgte aber seiner Einladung und kletterte zunächst mit einem, dann mit dem anderen Bein durch das Fenster, bemüht sich nicht an den spitzen Enden der Glasscheibe zu schneiden. Drinnen angekommen empfing sie ein Schleier von Spinnenweben, die die Wände schmückten. "Wie ein Horrorhaus hier", kommentierte Jakob, der nach ihr durch das Fenster gesprungen kam. Ann lachte. "Stimmt, der letzte der hier war hat sogar einen Dekoschädel hinterlassen." Sie tippte gegen einen menschlichen Schädel, der auf einem Stapel staubiger Bücher stand. Bevor Ann den Schädel festhalten konnte, rollte dieser zur Kante des Stapels und fiel hinunter. Doch anstatt des holen Geräuschs von Plastik oder den Scherben von Keramik knallte der Schädel mit einem dumpfen Geräusch auf den harten Boden und blieb bis auf ein paar Risse unversehrt.
"Ann", begann Jakob und wich erschrockenen einen Schritt zurück. "Das ist kein Dekoschädel. Der ist echt." Ihm stockte der Atem. Jakob war schon immer ängstlich gewesen. Umso mehr hatte es ihn selbst gewundert, dass er Ann nach diesem Besuch gefragt hatte. Doch nun kam alles in ihm hoch. In Anns weit aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Mund traf ihn die Erkenntnis: Das hier war echt. Der Schädel war echt.
Eine ganze Weile lang versuchte er die Panik, die in ihm hoch kochte, hinunter zu schlucken, während sie das erste und scheinbar einzige Stockwerk des Hauses durchforsteten. Über all den antiken Möbeln lag ein Teppich aus Staub und Spinnenweben. Doch irgendwie passte alles zusammen. Der alte Webstuhl, an dem ein unvollendetes Werk aus bunt gefärbter Schaafswolle hing, eine hölzerne Handspindel, die an ihren Beinen schon von Mäusen angefressen worden war und genau daneben eine kleine, aber durchaus behaarte Spinne, die sich langsam auf den Boden abseilte.
"Ekelhaft", kommentiere Ann mit verzogenem Gesicht. Sichtlich angewidert trat sie einen Schritt zurück, um der herab fallenden Spinne auszuweichen, stolperte dabei über Jakobs Fuß und knallte geradewegs gegen seine Brust. Dieser begann unter dem plötzlichen Stoß zu straucheln und versuchte sich an dem Tisch hinter sich abzustützen. Vergebens. Der Tisch rutschte über den Boden wie über Eis und krachte in die Vitrine hinter ihm. Es glirrte gewaltig, als die Glasscheiben auf dem Boden aufkamen und zerbrachen.
Ein dumpfer Aufprall und das nächste was Jakob wusste war, dass er auf einem staubigen Teppich lag und höllische Kopfschmerzen hatte. Vor ihm stand Ann, die sich zu ihm hinunter gebeugt hatte und ihn besorgt anschaute. Die Spitzen ihrer Haare kitzelten sein Gesicht, als er sich aufrichtete.
"Tut mir wirklich leid, Jakob, ist alles okay bei dir?", fragte sie besorgt und kniete sich hin, sodass sie auf Augenhöhe sprechen konnten. Jakob hielt sich nur benommen den Kopf.
"Tut mir wirklich Leid." Jakob hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. Er schaffte es sich vollends aufzusetzen und schaute ihr in die Augen.
"Du siehst nicht gut aus, wir sollten verschwinden."
Jakob schüttelte den Kopf.
"Doch wirklich, du musst zum Arzt. Komm, bitte."
Abermals schüttelte Jakob den Kopf. "Nicht heute, Ann." Er versuchte aufzustehen, doch Ann hielt ihn zurück.
"Was versprichst du dir hier?" Ihre Stimme war ernst, ungewohnt ernst dafür, dass das alles hier nur ein Kinderstreich war. Jakob rappelte sich entgültig auf und ignorierte Anns protestierende Blicke.
"Ich bin mir sicher, dass hier noch etwas ist. Ann, es ist unser letztes Halloween als Minderjährige. Lass uns noch einmal Spaß haben." Flehend blickte er sie an, bewusst, dass Ann es nicht gutheißen würde. Doch sie nickte, auch, wenn sie immer noch mit sich zu kämpfen schien.
"Schau, da", lenkte Jakob ihre Aufmerksamkeit auf den roten Teppich, der durch seinen Sturz zur Seite geschoben war und ein Stück gut erhaltetenen Parketts freigab, das sich nicht nur farblich vom restlichen, staubbedeckten und gealterten Boden abhob.
"Sieht aus wie eine Falltür", meinte Ann und fuhr mit einem Finger über die hellen Holzdielen. "Eher wie ein alter Keller Zugang. Die Gebäude hier hatten früher Gewölbekeller", erklärte Jakob und schob seine Fingerkuppen in den Spalt zwischen den Dielen. Die rauen Enden des Holzes gruben sich in sein Fleisch und pressten seine Nageplatte gegen die Nerven, die unter ihnen lagen.
"Autsch", ruckartig zog er seine Hand zurück. "Wir brauchen etwas um das aufzuhebeln. Ein Stück Metall oder so."
"Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist?", Ann stand mittlerweile hinter ihm und schaute argwöhnisch über seine Schulter.
"Was soll schon passieren?" Jakob lachte.
"Was soll schon passieren?" Dieser Satz hallte in Anns Kopf wider, während sie die knarzenden Holzstufen hinunter stieg. Jakob hatte darauf bestanden vor zu gehen und war in dem Tiefen See von Nichts und Dunkelheit verschwunden, das nun auch sie in Empfang nehmen sollte. Ihre Finger klammerten sich an den Balken der Treppe, der wohl einmal als Geländer gedient hatte, während sie Schritt für Schritt weiter in die Dunkelheit des Kellers ging. Als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte knallte es plötzlich über ihr und der gesamte Raum wurde zu einem einzigen Nichts.
"Fuck, Jakob!", rief sie in dieses Nichts. Erstmal keine Antwort. Dann Schritte. "Jakob!", sie rief lauter, die Schritte kamen näher. Sie hallten von den Wänden wieder als wären es die Schritte eines Riesen. Ann trat einen zögerlichen Schritt zurück und fand sich an die Seite der Treppe gepresst wider. Ihr Atem stockte.
"Ann, alles okay?" Jakobs Stimme brachte sie dazu, dass die Anspannung in ihren Muskeln mit einem Mal zusammen fiel. Ann nickte, dachte nicht daran, dass Jakob es nicht sehen konnte.
"Alles okay, Ann? Wieso hast du die Klappe zu gemacht?" Er streckte die Hand nach ihr aus, wie als suche er nach einem Lebenszeichen. Ann ergriff sie und zog ihn zu sich.
"Das war nicht ich", flüsterte sie, als könnte jemand lauschen. Sie hörte wie Jakob schluckte. "Ann, wer war es dann?" Schweigen, jetzt war Ann dran zu schlucken. Doch das war nicht das einzige Geräusch, dass durch die Stille hallte.
"Ann!", sprach Jakob energischer, rüttelte an ihrem Arm. Sie schwieg weiter, es war ein unangenehmes, drückendes Schweigen. Ein Schweigen, dass sie einzusaugen schien.
Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte Jakob sehen können, wie sich Anns Augen von Moment zu Moment mehr weiteten, wie sie in das nicht ganz so leere Nichts starrte - und zurück angestarrt wurde.
Anns Schrei drang durch Mark und Bein, sie riss ihren Mund auf, rotes Fleisch und Speichelfäden, die niemals Ausdruck genug sein könnten für das, was jetzt geschah.
Innerhalb einer Millisekunde wurde Jakob am Hals gepackt und mit so einer Wucht zurück gerissen, dass es ihn in tausend Teile zerschmettert hätte, wäre er nicht von einem wenn auch nur halbwegs lebendigen Körper aufgefangen worden. Ein röchelnder Atem, der nach altem Fisch stank, ging neben seinem Ohr, während er selbst keinen Mucks hinaus brachte. Seine Kehle wurde von etwas Hartem, aber zugleich Warmen zusammengedrückt, stählerne Fingerkuppen gruben sich in sein warmes Fleisch und in seine Rippen.
Ann schrie weiter wie am Spieß und blieb weiterhin wie eingefroren stehen. Jakob wollte mit ihr schreien, sie anflehen aufzuhören und wegzurennen, alles gleichzeitig. Er wollte um sich drehten, die Gestalt beißen, verletzten, töten, sich einfach nur befreien. Doch er merkte wie seine Gedanken langsamer wurden. Die Luft in seinen Lungen wurde weniger, langsam sank er in seine Knie. Alles war so merkwürdig ruhig, als würde die Gestalt hinter ihm gar nicht da sein. Seine Knie berührten fast den harten Boden unter ihm, als er seine letzte Kraft zusammen nahm und krächzte: "Ann!"
Ihr Name und Jakobs Stimme war wie ein Weckruf für sie. Es war wie als würde das Eis in ihren Gliedern wieder zu Wasser werden, als die Starre von ihr abfiel. Doch da wo Jakob kniete ... war nichts. Sie hörte sein Röcheln, roch den unangenehmen Gestank von Schwefel, doch außer Jakob war da niemand. "Jakob!", sie schrie, bewusst, dass es nichts half. Sie packte ihn, versuchte ihn hoch zu zerren, doch irgendetwas drückte ihn nach unten.
"Jakob, was-", Jakob zeigte auf seine Kehle und umfasste diese mit beiden Händen, als würde er sich selbst erwürgen.
"Was tust du da?", Ann starrte auf die Szene vor ihr. In der Phase der Aufregung wunderte sie sich gar nicht darüber, wer die schwach leuchtende Glühbirne angeschaltet hatte. Erst als Jakob entgültig auf die Knie sank und sein Kopf knallrot anlief fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. "Fuck", stöhnte sie zu sich selber und presste ihre kalten Hände an Jakobs Hals. Doch dort war nichts. Sie suchte weiter, ihre Hände tasteten um seinen Nacken herum. Immer noch nichts. Hilfesuchend jagten ihre Blicke durch den Raum und fielen auf einen angespitzten Wollwickler, der die gleiche Farbkombination hatte wie der Teppich, den sie im Obergeschoss gesehen hatten.Sie packte das dünne Stück Holz und rannte zurück zu Jakob, der mittlerweile kaum noch zu atmen schien. Intuitiv stieß sie mit dem Holz an an Jakobs Hals vorbei dort hin, wo sie das Bein des Angreifers erwartete. Tatsächlich, ein lautes Pfeifen ertönte, wie als würde Luft aus einem Ballon entweichen. Dann ein markerschütternder Aufschrei. Doch es war nicht Jakob, der, vom Angreifer befreit, bewusstlos zu Boden fiel. Der Schrei kam aus dem Schlund eines halb-transparenten, altertümlich gekleideten und faltigen Mannes, der sich mit einer von Venen überzogenen Hand auf die Wunde presste, die der Stab hinterlassen hatte.
"Verdammtes Auswuchs der Kapitalisten!", grölte der Mann und schleuderte eine Spindel nach Ann, die an der Wand gegenüber zerschellte. Mühelos überstieg er Jakobs leblosen Körper und kam mit großen, schweren Schritten auf Ann zu. Diese hielt panisch den Holzstab vor sich, der den Geist tatsächlich einzuschüchtern schien. "Ausgeburt der Hölle!", schrie er weiter, "Teufelsbrut, Unheilbringer, Menschenhasser!" Er warf eine weitere Spindel nach ihr, die Ann an der Schulter traf. Sie strauchelte und fiel mit einem schmerzvollen Klatschen zu Boden. Doch der Geist schritt weiter auf sie zu, in seiner Hand ein undefinierbarer, steinerner Gegenstand. Ann versuchte sich aufzurappeln, fiel jedoch wieder nach hinten auf ihre nackten Handballen. Panisch suchte sie nach einer Waffe, ihr Stock war ihr aus der Hand gefallen. Neben ihr lag nur der Regenschirm, den sie mitgebracht hatte. Sie packte ihn und schleuderte ihn an seiner Kordel geradewegs in sein Gesicht. Er grunzte und lachte schämisch. Es schien ihm nichts anzuhaben. "Miststück", er warf den Stein nach ihr, der ihr Ohr um nur ein Haar verfehlte. "Wir wollen dir nichts tun", versuchte Ann es, doch es half alles nichts. Er kam weiter auf sie zu.
"Nicht mal im Tod könnt ihr Kapitalisten mich in Ruhe lassen. Erst nehmt ihr mir meine Arbeit, dann mein Land und zuletzt mein Leben."
Seine verunstaltete Visage thronte über Ann, sodass sie seinen heißen Atem an ihrer Stirn spüren konnte. Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust und schlug gegen ihre Rippen. "Wir können beide ungeschadet davon kommen", schlug Ann halbherzig vor. Ohne Erfolg. Um ein Haar hätte der Geist sie erstochen, wäre es nicht um ihre schnelle Reaktion gewesen. Sie packte den Holzstab, den sie hinter sich entdeckt hatte, sprang auf und stach ihn in seine Brust. Es gab einen Moment der unendlichen Stille und dann einen Sog. Dann wurde alles schwarz.
3498 Wörter
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