Juni
Juni: Schreibe eine Kurzgeschichte über ein buntes Einhorn, das auf ein Metal-Festival geht.
„Kommst du endlich?"
Die Stimme meiner besten Freundin Lila klingt genervt, als sie hinter einem Baum hervorkommt und auf meine Lichtung tritt. Ihr dichter Wolfspelz schimmert dunkler als sonst und tropft, was mir verrät, dass ich nicht die einzige bin, die sich heute mehr Gedanken um ihr Aussehen macht als sonst. Wenn sogar Lila badet...
„Ich hab's gleich", antworte ich nicht ganz so gelassen, wie ich es möchte.
„Vielleicht sollten wir sie doch noch färben?", frage ich die blau schillernden Kolibris, die um meinen Kopf herumschwirren.
Wie bereits so oft an diesem Tag mustere ich das Spiegelbild meiner bunten Regenbogen-Mähne im Teich. Meistens mag ich die leuchtenden Farben, die einen starken Kontrast zu meinem weißen Fell und dem elfenbeinfarbenen Horn auf meiner Stirn bilden. Doch bei dem Festival, zu dem ich Lila überredet habe, werde ich so gar nicht in die Menge passen. Und auch, wenn ich gerne etwas Besonderes bin, wünsche ich mir heute einen Abend, an dem ich in der Menge untergehen kann. An dem ich Teil von etwas Größerem sein darf, Teil der Musik.
Die Kolibris sehen das anders, denn sie tun ihre Ablehnung mit einem bösen Zwitschern kund. Wie immer haben sie mir die Mähne geflochten, aber bei Haar-Experimenten scheinen sie mir nicht helfen zu wollen. Lila dagegen verdreht nur die Augen und tritt zu mir, um mich vom Teich wegzuschubsen.
„Nichts da", widerspricht sie mir. „Wir müssen los, Ende der Diskussion."
„Aber...", setze ich an.
„Nein", unterbricht sie mich. „Du siehst toll aus. Falls jemand das anders sehen sollte, bekommt er es mit dem großen bösen Wolf des Märchenwalds zu tun."
Sie schüttelt sich, sodass Wassertropfen auf meinem Fell landen. Als ich mich noch immer nicht rühre, schürzt sie die Lefzen und schnappt spielerisch nach meinem Bein. Ich kann nicht anders – mein Instinkt zwingt mich bei der Geste dazu, einige Schritte zurückzuweichen.
„Braves Mädchen", lobt sie mich. „Nur bitte bring mich nicht dazu, das den ganzen Weg über machen zu müssen."
Mit einem Seufzer ergebe ich mich meinem Schicksal und trotte voraus. Schließlich bin ich selbst schuld: Ich wusste von Anfang an, worauf ich mich bei diesem Festival einlasse, und konnte dennoch nicht Nein sagen. Als ich gesehen habe, dass meine Lieblingsband zu diesem Festival kommt, musste ich einfach hin. Und wer sagt, dass Einhörner kein Metal mögen dürfen? Vielleicht werde ich aus der Menge rausfallen, aber ich habe eine Eintrittskarte gekauft und damit ebenso ein Recht, da zu sein, wie jeder andere.
Lila und ich sind nicht die einzigen, die das Festival besuchen. Je näher wir dem Gelände kommen, desto mehr bekannte Gesichter entdecke ich. Die Kobolde aus dem Nachbarhügel winken uns zu, Lilas halbes Wolfsrudel begrüßt sie mit einem lauten Bellen, sogar Rumpelstilzchen und die böse Königin schließen sich der Menge an. Jeder überraschte Blick, der mich von den anderen trifft, lässt mein Selbstbewusstsein etwas mehr in sich zusammensinken, doch ich lasse mir nichts anmerken und antworte auf jede Begrüßung nur mit einem Wiehern.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir endlich auf dem Gelände angekommen. Am Eingang werden unsere Karten kontrolliert, dann dürfen Lila und ich uns in diese Mischung aus Schwarz, Grau und Dunkelblau stürzen, die sich Metal-Fans nennt. Die überraschten Blicke über meine Anwesenheit werden hier nicht weniger, im Gegenteil. Ich sehe zahlreiche Fremde über mich tuscheln, im Augenwinkel bemerke ich, wie auf mich gezeigt und gelacht wird. Dass ich es mir nicht nur einbilde, wird daran deutlich, wie viel näher Lila bei mir läuft und ihren schützenden Wolfskörper an meinen presst.
„Vielleicht war das keine gute Idee", murmle ich, während Lila böse Blicke an alle verteilt, die uns auch nur schief ansehen.
„Ein Einhorn hier zu sehen, ist schon eher ungewöhnlich", gibt Lila zu. „Aber sobald wir da sind, wird es das wert gewesen sein."
Ich hoffe, sie hat recht.
Weiter kann ich nicht darüber nachdenken, denn sobald die Bühne in Sicht kommt, bleibe ich abrupt stehen.
„Ist das... Meliorn?", fragt Lila neben mir ungläubig.
„Ich... ja", erwidere ich ebenso erstaunt wie sie.
Der Einhornhengst aus dem Nachbarwald, den ich durch seine zurückhaltende Art bisher für recht schüchtern hielt, steht auf der Bühne und tanzt. Und nicht nur das – seine Stimme dröhnt durch die Lautsprecher und die Menge jubelt bei jedem Wort, während er als Leadsänger einen Metal-Hit zum Besten gibt. Einen Hit, den ich mehr als nur kenne.
„Meliorn ist der Leadsänger von Stepmother's Crown? Wie konnten wir das nicht wissen?"
Ich habe keine Antwort auf diese Frage, kann nur mit offenem Maul den Hengst anstarren, dessen silbrig goldene Mähne im Beat wippt. Meliorn ist in meiner Lieblingsband? Ein Einhorn singt in einer der erfolgreichsten Metal-Gruppen, die es gibt?
Jemand stößt mich von der Seite an, sodass Lila und ich weiter mit dem Strom gehen. Immer weiter nähern wir uns der Bühne und ich traue meinen Augen kaum. Aber nach jedem Blinzeln zeigen sie mir dasselbe Bild – Meliorn, der Metal rockt und voll in der Musik aufgeht. Und erst jetzt verstehe ich das ganze Getuschle um mich herum.
„Ob er sie wohl kennt?", mutmaßt ein Redcap hinter mir.
„Vielleicht ist sie seine Freundin!"
„Oder seine heimliche Geliebte?"
„Boah, ich wünschte, ich wäre auch ein Einhorn... So schade, dass Meliorn öffentlich verkündet hat, dass er nicht an Interspezies-Beziehungen interessiert ist!"
Die letzte Aussage kommt von einer Rabendame, die klein genug wäre, um sich auf mein Horn zu setzen, ohne dass ich ihr Gewicht bemerken würde. Keine Ahnung, wie sie sich das mit Meliorn vorstellen würde...
Wie von selbst heben sich meine Mundwinkel und die Anspannung, die ich den ganzen Tag in mir trug, löst sich aus meinem Körper. Ja, ich bin nicht Teil der Menge, wie ich es wollte. Ich falle auf – aber die Leute schauen nicht auf mich herab, sie wollen ich sein. Verdammt, ich kann es kaum erwarten, beim nächsten Einhorntreffen mit Meliorn darüber zu sprechen. Aber jetzt – jetzt lasse ich mich erstmal mit einem Wiehern in der Musik fallen.
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