[vi.] Albtraum der Weihnacht [❄️5❄️]
Als Natalie und Bibber vor dem großen Weihnachtsbaum ankamen, lenkte Bibber Natalie sogleich flüsternd in die richtige Richtung. Hinter dem Baum war eine Säule in die Außenfassade der Kirche eingearbeitet worden, sodass die fünf Schneemänner und Natalie unbeobachtet dahinter Platz nehmen konnten.
"Ich hab Knopf", verkündete Rudolf stolz, als Natalie um die Ecke trat, "Knopf von Wut."
"Der wurde nach Rudolf geworfen", erklärte Caspar darauf und hielt seinerseits mit glänzenden Augen seinen Gegenstand in die Höhe. "Ich habe diesen Tannenzweig von einem kleinen Kind geschenkt bekommen, das aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen ist, als sie mich gesehen hat."
Myhrre grummelte. "Habt ihr euch etwa aus dem Zauber gelöst?", fragte er unmutig. Myhrre hatte ein buntes Verpackungspapier von Schokolade ergattern können, welche in einem Akt der Fürsorge weitergegeben worden war, wie er erzählte. Balthasar hatte die Scherbe einer zersprungenen Tasse mitgebracht, benetzt mit Trauer, die wohl so stark war, dass die fünf Schneemänner sie alle spüren konnten. Bibber hatte sogar eine kleine Träne vergossen, als er sie berührte.
Natalie stellte ihre Laterne vor und die merkwürdige alte Dame, der sie sie zu verdanken hatte. Dann lag die Aufmerksamkeit auf Bibber, der als einziges noch nichts beigetragen hatte und Natalie wollte die Situation schon erklären, da holte der kleine Schneemann zu ihrer Überraschung eine einzelne gebrannte Mandel hervor. "Ich habe diese kleine Mandel bekommen", sagte er und sah Natalie mit einem schüchternen Lächeln an. "Als Zeichen der Freundschaft."
Jetzt musste auch Natalie lächeln. Niemals hätte sie gedacht, von sich sagen zu können, mit einem kleinen Schneemann befreundet zu sein. Aber so war das Leben eben, eine Überraschung folgte auf die nächste. "Na dann", begann sie, "lasst uns euren Auftrag erledigen!"
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Die Straßen des Dorfes lagen wie leer gefegt da, als die sechs sich auf den Weg machten. Mithilfe der Gegenstände hatten die Schneemänner innerhalb kürzester Zeit eine Art Aufspürzauber aus der Laterne gebastelt, deren leitender Hand sie jetzt folgten, allen voran Myhrre.
Immer wieder warf dieser einen sorgenvollen Blick in den Himmel, doch der Mond leuchtete ihnen noch unverändert den Weg.
Je heller die Laterne aufleuchtete und desto stärker das Licht pulsierte, desto kälter wurde Natalie. Es fühlte sich an, als würde alle Energie aus der Umgebung gezogen werden und eisige Finger sich nach ihnen ausstrecken. Die kleinen Schneemänner schienen nichts davon zu bemerken, doch das war nicht verwunderlich, da sie nach wie vor aus Schnee bestanden.
"Ich kann es spüren", sagte Myhrre plötzlich mit seiner kratzigen Stimme und bedeutete den anderen, still zu sein. "Ich auch", piepste Bibber erschrocken und suchte sogleich hinter Natalies Beinen Schutz vor der bösen Präsenz, die er wohl wahrnehmen konnte, "es kommt aus dieser Seitengasse." Bibbers Worte waren kaum mehr wahrzunehmen, so leise flüsterte er.
"Also ich weiß nicht, wovon ihr redet", stellte Caspar klar und marschierte auf die Seitengasse zu. Balthasar trat warnend vor. "Geh da lieber nicht rein, Caspar!"
Doch Caspar wollte nicht auf ihn hören. "Nein, nein. Meine Nase täuscht sich nicht. Siehst du, da ist niichts ... " Abrupt verstummte er. Die anderen warteten gespannt. Als Caspar nicht mehr aus der Seitengasse herauskam, traten die verbliebenen fünf zusammen und entschlossen um die Ecke. Die Schneemannschar neben Natalie erstarrte synchron, mitten in der Bewegung.
Natalie musste jedoch zwei Mal hinsehen, um in dem riesigen Haufen Schneematsch, der sich jetzt vor ihnen auftürmte, eine schneemannähnliche Gestalt zu erkennen, doch es dauerte nicht lange, dann klappte auch ihr die Kinnlade herunter.
Der Schneemann war gut und gerne so groß wie die Container-Mülltonne, neben der er sich niedergelassen hatte. Der Schnee knarzte laut, als er sich langsam zu den Freunden umdrehte und sie aus seinen abgrundtiefen Augen anstarrte. Tiefe dunkelviolette Augenringe gruben sich in den Schnee unter seinen Augen und sein schwarzer Mund war zu einer unkenntlichen Fratze verzerrt worden, aus der scharfkantige Glasscherben ragten.
"Das- Das ist ja Penny!", rief Caspar überrascht aus und starrte den Albtraum an.
"Was?", fragte Balthasar perplex, "Du kennst diesen Schneematschhaufen auch noch?"
"Penny, kannst du mich hören? Ich bin's, Caspar! Der Caspar, der dir in der Hölle den Weg zum Schalter gezeigt hat, erinnerst du dich? Der, mit dem du so gut geplaudert hast!"
Der Albtraum grunzte und richtete sich drohend vor Caspar auf.
Natalie kam nicht umhin, den sehnsüchtigen Unterton in Caspars Stimme zu bemerken. Doch jetzt war der denkbar schlechteste Moment für eine glückliche Turteltauben-Zusammenführung. Sie schritt entschlossen zwischen die beiden Schneemänner und schwenkte ihre Laterne. Das helle Licht blendete den Albtraum und kreischend kniff er seine Augen zusammen.
Im Licht der Laterne fielen Natalie die schwarzen Schlieren auf, die sich durch den Schneekörper des Albtaums zogen und in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pulsieren schienen ... fast wie ein Herz. Sie stutzte. Der Schneemann sah sie aus tiefen, handtellergroßen Augen an.
Plötzlich flog ein Schneeball von hinten gegen den Kopf des Schneemanns, der daraufhin einen bestialisch hohen Schrei der Wut ausstieß.
"Vielleicht haben wir vergessen zu erwähnen, dass Albträume auf Entzug sind", schrie Balthasar und riss Rudolf zurück, denn der Albtraum hatte eine teerige, blubbernde schwarze Masse nach ihnen gespuckt.
Natalies Augen wurden handtellergroß. "Entzug ... Entzug wovon genau, bitte?"
Wie aufs Stichwort begann der Schneemann, wirres Zeug vor sich hin zu murmeln.
"Hey!", rief Natalie auf einmal, "Das kenne ich doch! Das ... das ist Latein! Sogar genau das Lied, das wir vor drei Tagen noch im Kurs bei Frau Brato gesungen haben! Das kann doch nicht sein ..."
"Kann sehr wohl sein", meldete sich Balthasar neben ihr zu Wort, die Augen wieder fest auf den Schneemann gerichtet. "Wenn ihr ihn beschworen habt."
"Quatsch, wir haben doch keinen-", wollte Natalie entgegnen, wurde aber von Myhrres Schrei unterbrochen. "Es ist soweit!", brüllte der kleine Schneemann und streckte die Arme zum Himmel wie ein Märtyrer. "Die Mondfinsternis! Es ist so weit! Wir sind alle verdammt!"
Ein Blick nach oben bestätigte Myhrres Ausrufe, denn der Mond war in blutrotes Licht getaucht und sandte seine Strahlen auch in ihre dunkle Seitengasse.
Der Albtraum riss seinen verzerrten Mund auf, um einen dunklen Schlund zu offenbaren und machte einen Satz nach vorne. Die sechs Freunde machten auf dem Absatz kehrt und rannten um ihr Leben.
Auf dem glatten Pflasterstein der Straße war das schwieriger als erwartet, Natalie musste höllisch aufpassen, dass sie nicht ausrutschte und der Albtraum hinter ihr über sie her fiel.
Plötzlich hörte sie einen piepsig hohen Schrei. Es war Bibber, der sich in einer Dornenhecke am Wegrand verfangen hatte und nicht mehr weiter kam. So schnell sie konnte, rannte Natalie zu Bibber und riss ihn mit einem Ruck los. Der Albtraum währendessen kam immer näher, die Augen weit aufgerissen wie zwei Abgründe, die sie jeden Moment verschlingen würden.
"Renn!", schrie Natalie Bibber zu, was der sich nicht zwei Mal sagen ließ und blitzschnell davon sauste.
Natalies Beine brannten, die kalte Luft schmerzte in ihrer Lunge. Lange würde sie nicht mehr durchhalten können. Plötzlich stolperte sie und ging mit der inzwischen stark pulsierenden Laterne, die sie eng an ihre Brust gedrückt hielt, zu Boden.
Wenige Sekunden später war der Schneemann über ihr, der kalte Matsch drückte auf ihre Beine und hielt sie vom Aufrappeln ab. Natalie schrie nach Hilfe, doch die kleinen Schneemänner waren schon zu weit weg, um ihr noch rechtzeitig zur Seite stehen zu können.
Der Albtraum beugte sich über sie, warmer Schneematsch tropfte in Natalies Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, wollte das Schlimmste nicht mitansehen. Hielt den Atem an.
Doch es passierte nichts.
Vorsichtig öffnete sie eines ihrer Lider. Der Albtraum rührte sich nicht von der Stelle, starrte sie nur aus seinen blicklosen Augen an. Der blutrote Mond lag aus Natalies Perspektive wie ein Heiligenschein um den Kopf des Schneemanns und sie bermerkte erneut die pulsierenden schwarzen Schlieren in seinem Körper. Aus der Nähe waren sie sogar noch deutlicher wahrzunehmen.
Bumm-bumm. Bumm-bumm. Bumm-bumm.
Wie ein Herzschlag, dachte Natalie erneut. Dann bemerkte sie das pulsierende Licht der Laterne, das sich dem Rhythmus der schwarzen Schlieren fügte. Natalies Augen weiteten sich und sie blickte den über ihr aufragenden Albtraum an. "Penny?", fragte sie vorsichtig. Jetzt waren ihre Augen keine alles verschlingenden Schlünder mehr, tief in ihrem Inneren leuchtete etwas, ein schwacher Wiederschein der Laterne in Natalies Händen.
Langsam hob sie die Laterne an, hielt sie dem Albtraum hin wie eine Opfergabe. Ehrführchtig beobachtete sie, wie der massive Schneemann das kleine leuchtende Stück Metall in seine matschigen Pranken nahm.
In der Sekunde, in der der Schneemann das Licht berührte, explodierte die Welt. Mehr als blendend weißes Licht bekam Natalie nicht mehr mit, nur fünf leise Stimmen in der Ferne, die immer mehr verblassten und ihr irgendetwas zuriefen ... dann wurde es dunkel.
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Schwer atmend rappelte Natalie sich von der Straße auf, mutterseelenallein. Eine einsame Katze strich auf dem Bordstein an einer Hecke entlang. Sie fasste sich an den brummenden Schädel. Genau wie viel von dem, was sie eben erlebt hatte, war eine Wahnvorstellung gewesen? Was hatte ihre Mutter ihr bitte in den Tee getan?
Nur ein Hauch von Honigduft und Kaminfeuerrauch kitzelten sie in der Nase, als sie sich auf den Weg nach Hause machte.
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