[vi.] Albtraum der Weihnacht [❄️4❄️]
Fröhlich listete Caspar mit der Hilfe von Rudolf alle Gegenstände auf, die sie seiner Meinung nach für ihre Aktion benötigten. "Tiara, Alexandrit, Mitochondrie ... Anorak, Aorta, Kardamon-"
"Büroklammer", ergänzte Rudolf.
"Büroklammer?" Die Verwirrung war deutlich aus Caspars Stimme herauszuhören. "Was ist das?"
Rudolf nickte. "Büroklammer", sagte er und beließ es dabei, als wäre das Wort Erklärung genug. Fragend sahen sich die Schnemänner an, bis Natalie sich schließlich grinsend einschaltete und ihnen die Funktion einer Büroklammer erklärte.
Zuvor hatte sie mit Myhrre das Schlusslicht gebildet, der ihr einige ihrer drängenden Fragen beantworten konnte. Den anderen hatte sie dabei nur mit halbem Ohr zugehört.
Jetzt wusste Natalie zum Beispiel, dass bei einer Mondfinsternis die Grenzen zwischen der Erde und der Nachwelt ineinander verschwammen und es so möglich wurde, abhanden gekommene Seelen wieder zurück zu schicken. Doch Myhrre hatte ihr auch die Dringlichkeit der Situation berichtet. "Wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, dann reißt das Band zwischen Seele und Nachwelt, das sie zuvor einigermaßen in Schach gehalten und sie an ihren Nachweltseelenvertrag gebunden hat. Das bedeutet, die Seele kann auf der Erde unkontrolliert tun und lassen, was sie will - meistens nimmt das keinen schönen Ausgang, weshalb wir solche Seelen auch Albträume nennen. Und so einen suchen wir heute."
Schon bald kamen sie an den Ausläufern des kleinen Weihnachtsmarkts vorbei, den die Dorfbewohner jedes Jahr auf dem großen Marktplatz vor der Kirche abhielten.
Die kleinen Schneemänner kamen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Die warmen Lichter der Lichterketten, die zwischen den Dächern ringsum aufgespannt worden waren, spiegelten sich in ihren Kohleaugen und der Geruch von gebrannten Zimtmandeln wehte zu ihnen herüber. "Da müssen wir hin", flüsterte Bibber ehrfürchtig.
"Aber das geht doch nicht", erinnerte Natlie, "wir müssen eure Gegenstände holen gehen. Welche waren das noch gleich?" Da bemerkte sie, dass die fünf sich bereits in Richtung der Hütten davon gemacht hatten. Entnervt schlug sie die Hände vor dem Kopf zusammen und eilte ihnen hinterher, bevor die Schneemänner zwischen den weihnachtlich dekorierten Ständen verschwinden konnten.
"Halt! Wartet Mal! Wo geht ihr hin?!"
"Wir Gegenstände holen!", rief Rudolf aufgeregt und Bibber nickte begeistert.
"Es zählt nur das Gefühl, das vom Besitzer mit dem Gegenstand verknüpft wird", piepste Bibber, "Nur das Gefühl ist wichtig, das Gefühl! Der Gegenstand ist egal. Deswegen haben wir Caspar vorhin auch seine Fachbegriffe faseln lassen ..."
"Und das hättet ihr nicht früher erwähnen können? Aber sowieso, habt ihr nicht daran gedacht, dass es ein wenig auffällig ist, wenn fünf sehr lebendige Schneemänner hier auf dem Weihnachtsmarkt rumspazieren? Warum habt ihr euch eigentlich für Schneemänner entschieden und nicht, ich weiß nicht, für so eine unauffällige Erscheinung wie Vögel oder so?"
Die fünf begannen unter Natalies tadelndem Blick peinlich berührt herumzudrucksen, bis Caspar sich schließlich zusammenriss. "Das ist vielleicht ... ein ganz kleines bisschen meine Schuld." Als Caspar nicht mehr weiter redete, fuhr Balthasar an seiner Stelle fort: "Caspar hat auf seiner Spähmission sehr viele Schneemänner im Dorf und in der Umgebung herumstehen sehen. Da hat er angenommen, es wären Menschen. Und niemand von uns hat daran gezweifelt." Eindeutig schwang da Bedauern in seiner Stimme mit.
"Aber du musst wissen, wir haben noch nie einen echten Menschen gesehen", merkte Myhrre mit seiner rauchigen Stimme an. "Dass wir da einem Irrtum auferlegen sind, ist uns erst aufgefallen, als es schon zu spät war." Insbesonders Caspar blickte daraufhin so betreten drein, dass Natalie unwillkürlich schmunzeln musste. Zu sehr erinnerte der Schneemann sie an ihren kleinen Bruder Josh.
"Ist schon gut", beschwichtigte sie die Schneemannschar. "Aber was machen wir jetzt deswegen?"
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Kurze Zeit später stiefelte Natalie scheinbar alleine über den Weihnachtsmarkt vor der Kirche. Eben hatte ein grummeliger Weihnachtsmann sie angesprochen, ihr eine Tüte gebrannter Mandeln in die Hand gedrückt und irgendetwas von "111ter Besucher bei mir heute" gemurmelt, weshalb sie sich jetzt eine der zuckerüberzogenen Mandeln in den Mund steckte. Es knirschte laut, als sie zu kauen begann.
"Krieg ich auch was?", fragte auf einmal eine piepsige Stimme neben Natalie. Zwei schwarze Knopfaugen und ein kleiner Schneemannmund poppten einen halben Meter über dem Boden auf. Schnell drängte Natalie Bibber hinter eine kleine Bank, die etwas Sichtschutz vor neugierigen Blicken bot. "Bibber! Reiß dich zusammen, ich dachte, wir hätten einen Deal! Wir kümmern uns jeder um einen Gegenstand und treffen uns dann beim großen Tannenbaum vor der Kirche! Was machst du noch hier?"
Bibber war jetzt wieder vollkommen sichtbar geworden und blickte betreten zu Boden. "Ich ... die anderen waren alle schon weg. Und ich ... ich ... ich will nicht ... alleine sein." Traurig hingen seine unterschiedlichen Ärmchen an seinem Schneekörper herab und Bibber sah mit großen glänzenden Augen zu Natalie auf. "Bitte, darf ich bei dir bleiben?"
Unwillkürlich musste Natalie lächeln. "Klar kannst du", sagte sie und hielt Bibber die Tüte mit den gebrannten Mandeln hin. "Na komm schon", forderte sie ihn auf, "Probier mal."
Die Augen des kleinen Schneemanns begannen unmerklich heller zu glänzen, als er sich eine der Mandeln in den Mund steckte. "Wow", hauchte er andächtig, "Das schmeckt so gut!" Bibber machte einen kleinen Luftsprung.
"Komm, nimm dir noch eine", sagte Natalie schmunzelnd, "Aber dann müssen wir wirklich weiter. Die anderen warten sicher schon auf uns und ich brauch noch einen Gegenstand."
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Kaum hatten die beiden - Bibber wieder unsichtbar geworden - ein paar weitere Stände hinter sich zurück gelegt, zupfte es vorsichtig an Natalies Jackensaum. Sie blieben stehen.
"Natalie?", flüsterte Bibbers zaghafte Stimme aus dem Nichts. "Natalie! Schau dir dieses kleine Zelt dort an, neben dem Stand mit dem großen Teddybären. Siehst du es?"
Natalie nickte. Das merkwürdige Zelt bestand aus fließendem violettem Stoff, der im Licht der Weihnachtsbeleuchtung samtig weich schimmerte. Fast schon magisch wirkte das Zelt.
"Ich glaube, du musst da rein. Ich weiß nicht recht. Aber ich spüre einen Sog. Du musst da rein, Natalie."
Natalie zögerte. "Und was ist mit dir? Kommst du nicht mit?"
Bibber schüttelte vehement den Kopf. "Nein, nein. Nein, Bibber wartet draußen. Ist besser."
"Mhm. Na gut." Mit einem letzten Blick zu den in der Luft schwebenden Knöpfen schlug Natalie die Eingangsplane zurück und betrat das Zelt.
Augenblicklich hüllte sie eine angenehme Wärme ein.
Die Atmosphäre in dem kleinen Zelt hieß Natalie willkommen, die staunend im Eingang stehen blieb. Zu allen Seiten erstreckten sich Regalreihen und Tische voll mit glitzerndem Krempel, vollgestellt mit kleinen Phiolen, tickenden Taschenuhren und Teetassen, die mit floralen Ornamenten verziert waren. Alte dicke Bücher und Pergamentrollen, auf denen jemand mit unordentlicher Schrift Notizen hinterlassen hatte, lagen über die Tische vertreut und hier und da lugten Kristalle oder verzierte Handspiegel hervor.
Inmitten des heimeligen Chaos saß eine alte runzelige Frau in einem violetfarbenen Ledersessel, die Hände ruhig über dem Schoß gefaltet, die Augen geschlossen. Ihre Haare fielen offen in weißen Wellen über ihre Schultern und selbst in dem trüben Licht schienen sie aus sich heraus zu leuchten.
Natalie räusperte sich. "Entschuldigung?"
Als Antwort öffnete die Alte träge ihre Augen. Strahlendes Violett blitzte Natalie entgegen, doch die Farbe konnte auch nur dem spärlichen Lichteinfall geschuldet sein und den vielen bunten Dingen, die das Violett reflektierten.
Als würde sie Natalie plötzlich erkennen, hoben sich auf einmal ihre ebenfalls schlohweißen Augenbrauen und sie griff nach einem Gegenstand auf dem Tisch neben sich. Mit einer einladenden Geste bedeutete sie Natalie, näher zu kommen.
Die zögerte. Kam der Aufforderung jedoch schlussendlich nach, denn welche Gefahr konnte schon von der alten Frau ausgehen? Schließlich hatte Natalie immer die Möglichkeit, aus dem Zelt zu fliehen, wenn das auch kein sehr höflicher Abgang wäre.
Die Frau reichte ihr eine lichtlose Laterne, deren Metall sich angenehm glatt anfühlte. Natalie fiel sofort auf, dass in dem Metallgestell kein Docht oder sonst eine Möglichkeit zum Anzünden angebracht worden war. Sie stutzte und wollte es gerade zur Sprache bringen, da griff die Alte nach ihrer Hand.
Ihr Griff war unerwartet fest und warm, die runzelige Haut fühlte sich erstaunlich kraftvoll an. Dann sprach die merkwürdige Frau mit einer rauchigen, weisen Stimme: "Pass auf dich auf, Mädchen. Und sei gütig. Nicht alles ist so, wie es scheint."
Natalie musste das Zelt wieder verlassen haben, denn wenige Momente später stand sie draußen im Schnee neben den schwebenden Knopfaugen, die ihr Bibbers Anwesenheit angaben. Als sie einen rätselnden Blick zurück warf, war da nur eine leere Lücke zwischen den beiden angrenzenden Ständen. Das violette Zelt und seine seltsame Bewohnerin waren verschwunden.
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