[vi.] Albtraum der Weihnacht [❄️3❄️]
Missmutig stampfte sie hinter dem Schneemann durch den Schnee. Die Situation fühlte sich so absurd an! Gerade, als Natalie sich dachte, es könnte gar nicht mehr schlimmer kommen, erreichten sie ihren Zielort. Es war die merkwürdige Feuerstelle am Waldrand, die Natalie neulich schon hatte stutzen lassen. Um sie herum scharten sich vier weitere Schneemänner ... oh, Mann. Wo bin ich da schon wieder reingeraten?
"Hallo, Menschling", begann einer der jetzigen fünf zu sprechen. Es klang, als wäre er Kettenraucher. "Es erleuchtet unsere Seelen, dass-" Gespieltes Husten von Seiten des kleineren Schneemanns zu seiner Rechten unterbrach ihn. Er trug eine hippe Bommelmütze mit Weihnachtsmuster. "Jaja, unsere Seelen. Als ob wir die noch hätten." Daraufhin boxte ihn der Schneemann neben ihm in die Kugel, aus der sein Bauch bestehen zu schien. "Still, Caspar! Verschrecke es nicht!"
"Aua", machte Caspar stumpf. Dann zog er nachdenklich an den Zipfeln, die zu beiden Seiten der Bommelmütze an seinem Kopf herunter baumelten. "Menschling", setzte er an Natalie gewandt an, "Vielleicht wird es dich verärgern, aber der Rat der Lamassu hat beschlossen, dich in unsere Mission auf Erden einzubeziehen."
Natalie war sich nicht sicher, ob sie irgendetwas von dem, was aus den Mündern der Schneemänner kam, überhaupt ansatzweise verstanden hatte. Perplex starrte sie die lebendigen Schneehaufen an. Sie kniff sich in die Wange. "Was seid ihr überhaupt?"
Gespielt dramatisch trat nun der Schneemann mit der rauchigen Stimme wieder vor und hob die Arme, als würde er gleich einen Fluch über die Welt aussprechen wollen. "Wir sind Wesen aus einer anderen Welt, emporgestiegen aus dem feurigen Abyss. Lange Zeit sorgten wir für Ordnung bei der Einbürgerung krimineller Seelen in die Nachlebenszeit. Bis unser lieber Caspar hier", er deutete anklagend mit einem Zweigfinger auf den Schneemann mit der Bommelmütze, "sich nicht mehr unter Kontrolle hatte und so große Scheiße angestellt hat, dass meine ganze Truppe zu einer Mission auf die Erde geschickt wurde."
"In der Hölle nennen wir das Sozialarbeit", ergänzte Caspar missmutig.
Stille entstand. "Was!?", fragte Natalie schließlich. "Ich bin da gerade nicht ganz mitgekommen. Hölle? Sozialarbeit? Kriminelle? Ich will nichts mit Kriminellen am Hut haben, danke. Ich glaube, ich ... ich gehe jetzt einfach. Tschüss." Unbeholfen wollte sie Anstalten machen, den Haufen verknackster Schneemänner hinter sich zu lassen, doch sie kam nicht weit.
Balthasar, der Schneemann mit den kleinen Hörnern, stellte sich ihr in den Weg. "Langsam, langsam", sagte er, "Erinnerst du dich nicht? Du kommst nicht von uns weg. Seit du an unserem Initiierungsritual teilgenommen hast, bist du an unsere Mission gebunden. Bis wir sie abgeschlossen haben."
Natalie grummelte. "Ich habe nirgendwo teilgenommen, nicht an meinem Lateinkurs heute und auch nicht an eurem komischen Ritual! Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie merkt, dass ich Schule schwänze." Sie hielt inne, als würde ihr erst jetzt etwas dämmern. "Oh nein, nein, nein. Natalie, du bist so dumm! Meine Mutter wird mich umbringen, wenn ich Schule schwänze! Das darf doch nicht wahr sein, verdammte Scheiße!" Aufgebracht raufte sie sich die Haare. "Ruhig bleiben", ermahnte sie sich, "ganz ruhig. Ruhig, ruhig, ruhig. Alles ist gut. Vielleicht denkt sie ja, ich wäre die Nacht bei Suko geblieben." Geistesgegenwärtig griff sie in ihre Tasche, um ihr Smartphone hervorzuholen und ihre Freundin zu bitten, dass sie ihr Rückendeckung geben sollte. Aber der Bildschirm blieb schwarz. "Mist! Mist, Mist, Mist!", zischte Natalie und sah hilfesuchend den kleinen Schneemann an. Der hob nur abwehrend die Hände. Na toll.
"Wo du jetzt schonmal hier bist, kannst du uns aber auch helfen."
"Das hier sind übrigens Myhrre", Balthasar deutete auf den Kettenraucher-Schneemann, "Bibber, unser jüngstes Mitglied", der kleinste der fünf riss eifrig sein linkes Ärmchen in die Luft, das durch eine Zuckerstange ersetzt worden war, "und Rudolf." Rudolf nickte bestätigend.
"Hallo", piepste Bibber und hielt Natalie das Zuckerstangenärmchen hin, damit sie es schütteln konnte. Fast hätte sie es ihm ausgerissen und schnell ließ sie seine Hand wieder los. "Und wie heißt du?"
"Natalie." Erst, als sie dieses Wort ausgesprochen hatte, schien Natalie wirklich zu begreifen, was es bedeutete. Sie hatte akzeptiert, dass die Schneemänner real waren. Bibbers Zuckerstangenärmchen hatte sich auf jeden Fall sehr real angefühlt und es war die deutlich angenehmere Option, die Existenz der Männchen zu akzeptieren, als daran glauben zu müssen, dass sie selbst unter Wahnvorstellungen litt.
Natalie seufzte. "Also schön. Was genau müsst ihr denn machen und wie kann ich euch dabei helfen?"
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Es war zunehmend dunkler geworden, als der Rat der Lamassu, wie sich die kleine Schneemanntruppe nannte, Natalie über alles aufgeklärt hatte. Ihre Augenbrauen waren während der Erzählung immer höher gewandert und jetzt wusste sie nicht so recht, wie sie die ganzen neuen Informationen einzuordnen hatte und gleichzeitig nicht einfach zu dem viel einfacheren Schluss kommen sollte, nämlich: verrückt zu werden.
"Okay, okay, okay. Damit ich das richtig verstanden habe", begann sie und legte sogleich eine kurze Denkpause ein, in der sie die vorangegangenen Absurditäten rekapitulierte. Fünf glänzende Augenpaare blickten sie erwartungsvoll an.
"Ihr ... ihr seid eine Art Ordnungstruppe aus der Hölle." Eifriges Nicken von Seiten der Schneemänner, die sich im Halbkreis vor Natalie auf den Boden gesetzt hatten. Natalie selbst hatte sich einen Baumstumpf in der Nähe ausgesucht, auf den sie sich einigermaßen bequem setzen konnte. "Und ihr ... hm. Ihr habt eure Ober verärgert-"
"Nein, nein! Caspar hat Ober verärgert!", korrigierte Rudolf sofort und stupste diesen verärgert in die Seite. "Viel Krawall, viel Kabumm gemacht."
Caspar grinste unschuldig. "Kommt schon, ihr müsst doch zugeben, dass es euch genauso viel Spaß bereitet hat wie mir, denen mal gehörig die Ärsche zu versohlen!"
Rudolf wollte gerade verärgert etwas erwiedern, da fuhr Natalie dazwischen. "Darum geht es jetz doch gar nicht!" Dankbar nickte Bibber, denn der Ausbruch der beiden hatte seine ohnehin schon zierliche Gestalt sichtbar ein wenig in sich zusammenschrumpfen lassen. "Es geht um eure Mission, oder wie auch immer ihr das nennen wollt. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist morgen, am 21. Dezember, Mondfinsternis. Ja?" Die anderen nickten erneut.
"Euer Problem liegt jetzt prinzipiell darin, dass eine Seele, die als angehender Dämon Dritter Klasse kategorisiert worden ist, eurem ganzen Bürokratiekram entwischt ist und weiß Gott wie auf der Erde-" Natalie stutzte. Die Schneemänner waren synchron zusammengezuckt. "Hey, was ist denn jetzt wieder los?"
Bibber schaute sie aus großen Augen an und flüsterte: "Du hast das böse Wort gesagt."
Verdutzt runzelte Natalie die Stirn. "Das Wort? Welches böse Wort? ... Meint ihr- Mein ihr Gott?"
Erneut zuckten die fünf Schneemänner synchron zusammen. Caspar verzog das Gesicht und Rudolf grummelte "Böses Wort, Böses Wort" vor sich hin, doch schließlich war es Balthasar, der die erstaunte Natalie ermahnte. "Lass das lieber, davon kriegen wir Kopfschmerzen."
"Ja! Wir nicht brauchen Schmerzen, weil Mission!"
"Wie Rudolf sagt", meldete sich nun Balthasar zu Wort. "Unsere Mission ist es, diese verlorene Seele bis zum Tag der Mondfinsternis zurück in die Hölle zu hohlen, sonst überhitzen die Zahnräder und einzelne Systemstränge kriegen einen Kreislaufzusammenbruch. Heißt, es passieren seltsame Dinge hier auf der Erde, Betroffene sehen Spukerscheinungen oder hören körperlose Stimmen, das nennt ihr Menschlinge Weihnachtsstress. Dadurch entstehen im Übrigen auch Wahnvorstellungen, die sehr gravierend enden können."
"Oh", machte Natalie eloquent.
"Eigentlich ist das in der Weihnachtszeit nicht unnormal. Es passiert schon regelmäßig, dass Seelen irgendwie verloren gehen. Und normalerweise sind dafür auch andere Abteilungen zuständig. Aber diesmal hat unser Ober aus lauter Bosheit nicht widerstehen können und uns den Sozialdienst aufgebrummt." Myhrre konnte sich einen bedeutungsschwangeren Blick in Caspars Richtung wohl nicht verkneifen. Der schrumpfte unter dem Blick des Älteren deutlich zusammen.
"Aber ... was genau hat es mit der Mondfinsternis auf sich?", fragte Natalie, ihre Neugierde war inzwischen geweckt worden und ließ sie über die Absurdität der Situation hinwegsehen.
"Weitere Fragen gibt es auf dem Weg", verkündete Myhrre und stellte mit einem Blick in den Himmel fest: "Wir sind schon spät dran. Wenn wir irgendeine reelle Chance haben wollen, unsere Mission zu erfüllen, müssen wir jetzt los."
"Na dann, auf ins Abenteuer!", krakeelte Caspar und sprang als erster auf.
Natalie schnaubte nur, setzte sich aber trotzdem hinter den Schneemännern in Bewegung. Es fühlte sich weniger nach einem Abenteur an als nach einem absurd wilden Fiebertraum, aus dem man schweißgebadet, tränenüberströmt und mit Realistätsverlust auf einem ganz anderen Level aufschreckte.
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