[ii.] Gedankenzirkus
»Du siehst Dinge, die andere nicht sehen. Was siehst du?«
Erneut eine Abgabe für sweet_predator!
TRIGGERWARNUNG
Drogen, Trauer und generell selbstzerstörerische Gefühle werden behandelt!
I. Blood // Water - grandson II. Pretty Pills for broken hearts -
Cloudy June III. WONDERLAND - Neoni
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Die Gefühle brodelten in ihrem Blut wie Lava in einem Vulkan.
Dickflüssig zog sich die rotorangene Masse durch ihren Körper, verbrannte ihre Gedanken und kommentierte diesen Pfad der Zerstörung mit nichts weiter als einem boshaften Zischen, bis sich das Mädchen die Höllenqualen ihrer gepeinigten Seele aus dem Körper schrie.
Der Schrei war stumm, hallte nur in ihrem Kopf wider und hätte doch Spiegel zerspringen lassen können. Einzig und allein hörbar war er für ebenbürtig gepeinigte Seelen.
Als ihr Körper schließlich einknickte wie ein morscher Ast und schlaff an der Wand hinter ihr herunter sank, rannen ihr Tränen die Wange hinab. Halbherzig versuchten sie, den gröbsten Feuerbrand zu löschen, doch die salzigen Tropfen waren nicht mehr als Spritzer auf heißem Stein.
Nach und nach versiegten die Tränenströme. War der salzige Ozean aus Trauer in ihrem Inneren ausgetrocknet? Die Überbleibsel nur mehr ein zerbrechliches Rinnsal? Der Lavastrom ergoss sich in den salzigen Ozean aus Trauer, doch statt in den Tränen zu ertrinken und das Problem ein für alle mal zu lösen, ersetzte die dickflüssige Masse das ans Ufer schwappende Wasser Tropfen für Tropfen. Träne für Träne.
An der Berührungsgrenze von Wasser und Lava stieg feiner Dunst auf. Immer dichter und dichter wurde er, stieg immer höher und höher und kroch noch in die hintersten Winkel ihres Kopfes. Er schlich sich in jede noch so kleine Ritze, setzte sich in jeder Gehirnwindung fest, die er erreichen konnte, und ummantelte ihre Gedanken in einem giftig grauen Schleier.
Nur noch verzerrt nahm sie ihre Umgebung wahr, als hätte jemand einen feinen Benzinfilm über das zuvor klare Wasser gegossen. Dessen Schlieren zogen sich über die gesamte Oberfläche und wanden sich bei jeder noch so kleinen Wellenbewegung ineinander.
Plötzlich nahm sie eine zarte Spiegelung in der Oberfläche des Wassers wahr. Je länger sie starrte, desto mehr Details schälten sich aus der von Schlieren, die in unzähligen Farben schillerten, verunreinigten Flüssigkeit. Vor dem inneren Auge des Mädchens erstreckte sich der Pfad ihres Lebens.
Vorher war er mit blühenden Kirschbäumen gesäumt gewesen, von träumerisch durch die Luft tänzelnden Schmetterlingen umflattert. Doch all das war zu entfernten Erinnerungen verblasst, die nur mehr wie eine kraftlose Aura um die Stämme flackerte. Der Asphalt des Weges schmolz unter ihren Füßen weg, wurde zu einem einzigen Strom an brodelnden blutroten, schwefelgelben und schuldorangenen Gefühlen.
Wo vorher noch fluffige, unbeschwerte Schäfchenwolken über den Himmel gezogen waren, tobte jetzt ein vernichtendes Gewitter. Knisternde Verzweiflung lag in der Luft, die Bäume reckten ihre krummen Äste in die Höhe, als würden sie um Hilfe flehen. Ihre Silhouetten, kahl und schwarz und abgebrannt. Sie stellten lange keinen Sauerstoff mehr her, nur endlose Hoffnungslosigkeit waberte zwischen den blätterlosen Ästen.
Die Schmetterlinge trudelten hilflos über der Lava, die Kontrolle über ihre Flügel war mit den herabfallenden Kirschbaumblüten längst verwelkt. Einer nach dem anderen stürzten sie sich in den blubbernden Tod.
Erst jetzt bemerkte das Mädchen die gähnende Leere, die in ihrem Magen herrschte. Etwas nagte unangenehm fordernd an ihrer Bauchinnenhöhle. Es wollte unter keinen Umständen ignoriert werden. Mit jeder verstreichenden Minute wurde das Kratzen zu einem Reißen; dann wurden ihre Sinne in einer einzigen Explosion an Schmerz ertränkt.
Es fühlte sich an, als hätte man ihr ein Organ herausgerissen.
Etwas Wichtiges fehlte; etwas, ohne das sie unter keinen Umständen laufen, atmen, leben konnte.
Sie brauchte es.
Das Gefühl des Verlangens wuchs immer weiter, bis es all ihre Gedanken verschluckte und sie vollkommen ausfüllte.
Ihr Blick glitt zu dem kleinen, unscheinbaren Fläschchen, das auf ihrem Nachttisch stand. Das dunkle Ebenholz des Tisches bildete einen starken Kontrast zu seinem Inhalt.
Weiß.
Die Farbe der Unschuld.
Sie gluckste.
Wie ferngesteuert griff sie nach dem Fläschchen und schraubte in geübten Bewegungen den Deckel ab.
Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an, als sie es schluckte.
Sie spürte ganz deutlich, wie es ihre Speiseröhre hinabrutschte, doch es war keine unangenehme Erfahrung. Sie war es gewohnt. Außerdem kam es mehr einem freudigen Erwarten gleich, denn das Mädchen wusste genau, was folgen würde.
Der Arzt hatte es ihr gesagt.
Oder ... hatte er sie nicht eher davor gewarnt? ... Nein ... Nein, nein. Er hatte es sogar verschrieben. Genau. Verschrieben hatte er es. Das hatte er. Sie war frei, den Inhalt des Döschens in die Tonne zu treten. Wann immer sie wollte. Das war sie. Jederzeit. Oh, ja. Das war sie. Immer. Das war sie. Ja. Immer.
Doch tief in ihrem Inneren existierte diese nervenaufreibende kleine Stimme. Wie nannte sie sich noch gleich? ... Vernunft? Sie raunte ihr immerzu Dinge ins Ohr. Die Wahrheit?
Nein.
Nein, nein, nein.
Lügen. Alles Lügen.
Oder?
Sie würde es lange nicht mehr freiwillig nehmen, flüsterte die Stimme. Sie sollte sich endlich eingestehen, dass das Verlangen danach sie jedes mal aufs Neue auffraß, wisperte die Stimme. Und jedes mal aufs Neue würde sie dem Verlangen nachgeben.
Doch diese leise Stimme am Grunde der Kluft, die sich die Lava in ihren Verstand gefräst hatte, ertrank, zusammen mit den Schmetterlingen, restlos im endlosen Fluss der dickflüssigen Masse. Ein letztes mahnendes Zischen war alles, was von ihr blieb. Und nicht einmal daran würde das Mädchen sich in fünf Minuten noch erinnern können.
Es war sowieso egal.
Egal.
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Jeden Moment sollte es so weit sein.
Sie wartete nicht gerne darauf, dass sich die Wirkung entfaltete, doch wenn sie es tat, umarmte sie das Mädchen wie einen alten Freund.
Ruhe für ihren Geist.
Frieden für ihre Gedanken.
Rettung für ihre Seele.
Die Umarmung blieb aus.
Verdammt!
Eine böse Vorahnung streckte ihre knochige Finger nach dem Mädchen aus und streichelte zart über ihre Wange. Streckte vorsichtig die Fühler aus, griff mit Mühe durch den schweren grauen Vorhang der Gefühlslosigkeit und zog ihn dann ruckartig beiseite.
Was dahinter zum Vorschein kam, trieb dem Mädchen Tränen in die Augen.
An dem Platz, an dem ihr Herz schlagen sollte, lagen Scherben verstreut.
Eine hellrote Flüssigkeit tropfte an ihren Kanten herab, deren Anblick ihr tiefer ins Fleisch schnitt, als die Scherben es mit ihren scharfen Kanten taten. Auf dem Weg durch ihren Körper durchtrennte der Schmerz jeglichen Nerv, der ihrem Gehirn Lebenswillen fütterte.
Beinahe schon panisch griff sie nach der Dose, schüttete sich den Inhalt restlos auf die Handfläche. Es war nicht mehr viel übrig. Egal. Sie würde es schon irgendwo auftreiben können. Es war egal. Alles was zählte, war, dass der Schmerz aufhörte.
Sie erinnerte sich nicht daran, ein Wasserglas aus der Küche geholt zu haben. Doch auf einmal hielt sie es in der rechten Hand.
Trinken. Schlucken. Trinken. Schlucken. Trinken. Schlucken. Trinken. Schlucken. Trinken.
Schlucken.
Warten.
Bald schon setzte die ersehnte Taubheit ein und ersetzte die brennende Säure, die sich durch ihre Gedanken ätzte. Der Lavafluss kam zum Stillstand, langsam erstarrte die rote, orangene, gelbe Masse zu einem abweisenden Dunkelgrau. Doch sie wusste, der Zustand war nur vorübergehend. Die Zeit spielte gegen sie.
✻ ✻ ✻
Langsam nahmen ihre Gedanken Fahrt auf. So unglaublich langsam. Als säße sie in einem Karussell, dem ein Riese einen sanften Stupser mit dem kleinen Finger gegeben hätte, sodass es gemächlich in die Gänge kam und begann, seine Runden zu drehen.
Umdrehung.
Eine Umdrehung.
Noch eine Umdrehung.
Drei Umdrehungen.
Schwindel setzte ein und zupfte auffordernd an ihrem Verstand.
Mit der Zeit wurde das Karussell schneller, immer schneller, bis sich die Farben ineinander verloren, zu einer einzigen Wand aus vorbeiziehenden Wirbeln wurden und das Mädchen nichts mehr auseinanderhalten konnte. Oben war unten, rechts war links, Rot war Grün, Gelb wurde zu zartem Rosa und Orange wechselte in Hellblau.
Der Wind zerrte an ihren Haaren, doch das Mädchen lachte und jauchzte und riss ihre Hände in die Luft. Sie spürte den Wind zwischen ihren Fingern - die Gefahr brauste mit ihm hindurch, doch dafür war sie blind. Selbst als sie spürte, wie die Fliehkraft sie immer drängender von der Figur des Pferdchens zog, von der sie sich nicht erinnern konnte, jemals darauf Platz genommen zu haben, trug sie ein breites Grinsen auf den Lippen.
Dann wurde sie in die Schwärze davon gerissen.
✻ ✻ ✻
Sie fand sich in freiem Fall wieder.
Sie wollte schreien, doch es drang kein Laut über ihre Lippen. Der Wind stahl ihr die Worte aus dem Mund. Auf einmal teilte ein Blitz den Raum wie eine gigantische Schnittstelle im Universum. Das leuchtende Weiß fraß sich in ihre Netzhaut und ersetzte das Schwarz mit solcher Ruckartigkeit, dass hinter ihren Augen ein pochender, dumpfer Schmerz erblühte. Sie wartete. Sobald er verwelkt war, empfand sie jegliche Empfindungen als seltsam abgestumpft, taub.
Vertrocknetes gelbes Gras stach ihr in den Rücken und knisterte leise unter ihrem Körper, als sie sich hastig aufrappelte. Über ihr erstreckte sich ein endloser Himmel, nur vereinzelt waren Sterne darüber gestreut, die glommen wie einsame Hoffnungsfunken in dem Meer aus Schwarz. Das Flachland zog sich nach allen Seiten hin, überall sah sie die toten Grasstoppeln aus der Erde ragen.
Einzig und allein ein heller Lichtschimmer in einiger Entfernung behauptete sich erfolgreich gegen die Trostlosigkeit der Umgebung. Die rein weißen und leuchtend roten Streifen der Plane des Zirkuszelts waren nur sehr schwer zu übersehen.
Eine Weile starrte das Mädchen wie hypnotisiert darauf und versank in dem warmen goldenen Schimmer, der das Zelt umgab. Dann erst bemerkte sie die Brise, die über die unbeugsamen Grasstoppeln fegte, doch die Haare des Mädchens ließ sie unberührt an ihrem Kopf herab hängen.
Ihre Stirn runzelte sich leicht, trotzig bereitete sie die Arme weit aus und drehte sich im Kreis. Jetzt schwangen ihre Haare aufgefächert hinter ihr her, den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt und die Sterne drehten sich mit ihr.
Zentrum des Universums. So musste es sich anfühlen.
Durch das eintretende Schwindelgefühl kam es dem Mädchen vor, als würde ein riesiger Strudel entstehen und die Sterne einsaugen wie ein Staubsauger. Das gackernde Lachen entschlüpfte ihrer Kehle, bevor sie es davon abhalten konnte. Seltsam laut hallte das Geräusch auf dem weiten Feld, sodass sie überrascht innehielt. Das Echo kam verzerrt zu ihr zurück, wie auseinander genommen und falsch wieder zusammengesetzt. Ihr Gehirn konnte zu keiner logischen Schlussfolgerung kommen, also zuckte das Mädchen nur mit den Schultern und torkelte auf das Zirkuszelt zu, von dem sie angezogen wurde wie eine Motte vom Licht.
Auf dem Weg dorthin bekam sie das merkwürdige Gefühl, dass der Boden unter ihr blitzschnell weggezogen und durch ein fingerdickes Drahtseil ersetzt worden war, über das sie wie eine Ballerina tänzelte. Sie strauchelte. Doch anstatt in die Tiefe zu fallen, fand sie sich unverletzt auf dem Boden vor dem Zirkuszelt wieder. Erstaunlich schnell war der zuvor so lang erschienene Weg überbrückt und das Mädchen hätte eine Hand ausstrecken können, um den rauen Zeltstoff zu berühren.
Doch sie zögerte. Die Streifen des Zirkuszelts sahen aus der Nähe anders aus, als von weitem. Das Weiß war nicht strahlend rein, sondern von einem leicht schwefelgelben Ton angehaucht; das leuchtende Rot erschien viel abgestumpfter, dunkler, verheißungsvoller. Am Fuß der Plane, an dem der Stoff auf die toten Grashalme traf, bemerkte sie flüchtig eine dunkle, rotbräunliche Kruste. Doch das Licht des Zirkus vereinnahmte sie zu sehr. So sehr, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die Sterne über ihrem Kopf zu flackern begannen.
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Das Mädchen hielt den Atem an und schob vorsichtig die Zeltplanen beiseite. Was sie sah, ließ sie ihre Augen vor Staunen weit aufreißen.
Bunte Tücher flatterten wild durch die obere Hälfte des Zelts, die Enden der Stoffbahnen verschwanden in den Schatten, die sich in der spitz zulaufenden Decke des Zelts festgesetzt hatten wie hartnäckige Spinnen. Akrobaten schwangen auf Trapezen und an silbern glänzenden Metallringen anmutig durch die Lüfte, vollführten Überschläge, Sprünge, Drehungen. An einem grashalmdünnen Drahtseil, das hoch über dem sandigen Boden aufgespannt war, balancierte ein elegant gekleideter Mann von Welt in Frack und Zylinder, den Blick konzentriert auf seine Füße gerichtet und doch ein charmantes Lächeln auf dem Gesicht.
Am Boden sah man einen riesigen Elefanten mit gutmütig aufblitzenden Augen, der auf einem Hinterbeinen stand und einen grellbunten Ball mit dem Rüssel in die Luft hob, so hoch er konnte. Ein Feuerspucker vollführte einen ausdrucksstarken Tanz mit der Feuerbrunst, die kontinuierlich aus seinem Mund quoll und sich wie eine treue Schlange zu seinen Bewegungen wand. Doch das Geräusch, dessen Schwingungen dem Mädchen bis ins Mark gingen, stammte von einer Frau.
In ein silbriges, erhabenes Kleid gehüllt, stand sie in der Mitte des Geschehens. Ihr Schrei, der laut durch die Luft vibrierte, ließ den hinter ihr aufgebauten Spiegel zerspringen. Erst bildeten sich feine Risse, die sich über die gesamte Fläche ausbreiteten und größer wurden, bis er schließlich zerbarst.
Im flackernden Schein des Feuers glitzerten die Scherben mystisch, als sie in Zeitlupe durch die Luft davon stoben. Wie gebannt verfolgte das Mädchen ihren Weg, bewunderte das Farbspiel, das sie auf das Geschehen warfen, betrachtete die Reflektion in ihnen und sah - Blut.
Die Scherben waren benetzt von dünnen, in Blut getauchten Spinnwebfäden. In dem gebrochenen Spiegel erkannte sie ihr Ebenbild.
Erschrocken keuchte das Mädchen auf. Erinnerungen kamen hoch. Sie griff sich an die Brust.
Ihr Herz ...
Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, entdeckte sie den Schatten inmitten des geordneten Zirkuschaos, eingehüllt von Flammen, mit denen der Feuerspucker um sich spie, und doch vollkommen unberührt. Feuer.
Rot, gelb, orange.
Beinahe überhörte sie das leise Wispern in ihrem Kopf.
»Alice ... Alice ... willkommen ... im ... Gedankenzirkus. Willkommen ... zu Hause.« Bei der rauchigen Sanftheit der Stimme lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Aus den Augenwinkeln fing sie ein silbernes Aufblitzen auf. Hektisch sah das Mädchen zu der Frau hinunter. Vorher war es ihr entgangen, doch nun sah sie es deutlich vor sich. Die Frau stand inmitten einer Feuerbrunst, ihr strahlendes Kleid brannte lichterloh und sie schrie sich vor Höllenqualen die Seele aus dem Leib.
Es war keine Zirkusvorstellung mehr.
War es nie gewesen.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Der Feuerspucker spie nicht länger Feuer; die lechzenden Flammen umkreisten ihn, spielten mit ihm und verschlangen ihn in ihrem einstudierten Tanz aus Grausamkeit.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Der Elefant starrte mit Augen voller trüber Hoffnungslosigkeit auf das Feuer, das ihn umgab und an seiner dicken Lederhaut leckte; den gekrümmten Rüssel reckte er in einem letzten Akt des verzweifelten Flehens in die Höhe. Sein bunter Ball war längst zu Asche zerfallen.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Der Mann auf seinem Drahtseil hob den Blick von den Füßen, sah dem Mädchen am Zelteingang fest in die Augen, dann wurden seine sicheren Schritte zu einem Torkeln, zu einem Taumeln und er fiel. Die inzwischen wild tobende Feuerbrunst empfing seine Einlage mit donnerndem Applaus.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Die Akrobaten versuchten noch, den Flammenfontänen auszuweichen. Überschläge, Sprünge und Drehungen retteten sie oft in letzter Sekunde, doch dem aufsteigenden, dichten Rauch konnten sie nicht entweichen. Er nahm ihnen die Sicht, ließ sie hilflos an ihren Stangen und Reifen baumeln, bis ihre Kräfte nachließen und sie einer nach dem anderen in den brausenden Tod stürzten.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Die flatternden Tücher, in die das Feuer Löcher brannte, die wie schmerzverzerrte Münder und leidende Augen über dem Geschehen hingen, hatten ihre farbenfrohe Pracht verloren. Schwarzer Ruß bedeckte sie gänzlich, manche bestanden nur noch aus verbrannten Fetzen.
Blutrot, Schwefelgelb, Schuldorange.
Die hungrigen Flammen schlugen jetzt auch nach dem Mädchen aus, und sie zuckte zusammen, stolperte zurück und schlug die Zeltplane mit einem Ruck hinter sich zu. Abrupte Stille breitete sich aus. Das Toben des Feuers war verstummt. Nicht mal ein zaghaftes Grillenzirpen durchbrach die Stille.
Als sie realisierte, was da eben passiert war, schlugen Wellen der Erkenntnis über ihr zusammen und prügelten ihr die Luft aus den Lungen. Ich habe sie alle sterben lassen. Ich konnte nicht helfen. Ich konnte nicht. Sie brach, schnappte verzweifelt nach Luft, krümmte sich auf dem Boden. Da begann ein feines Nieseln aus den aufgezogenen Wolken am sternenleeren Himmel zu dringen. Der Himmel weinte die Tränen, die sie nicht weinen konnte.
Das Mädchen spürte das angenehm warme Auftreffen der Tropfen auf ihrer Haut, gab sich der Berührung und seiner Sanftheit hin, dem Versprechen nach Sicherheit und Geborgenheit. Vergebung. Ihre Augen waren fest verschlossen. Doch wie ein böser Scherz kehrte plötzlich die rauchige, sanfte Stimme zurück und riss sie mit ihrem mitfühlenden Säuseln aus ihrer Trance heraus.
»Alice, Liebes, du weiß es doch genau. Mach dir nichts vor. Du hast die Frau schreien gehört. Du hast ihre Seele leiden gehört und konntest sie nicht retten. Du hast deine Seele leiden gehört und konntest sie nicht retten. Wo ist der Unterschied?«
Entsetzen machte sich breit, flutete jede Gehirnwindung. Das Mädchen riss die Augen auf.
»MEIN NAME IST NICHT ALICE!«
»Ich weiß. Ich weiß doch. Liebes. Aber bald wird er es sein ... «
Panisch schlug sich das Mädchen die Hände vors Gesicht. Nass waren sie, und schlammig. Sie schrie. Kreischte. Ihre Ohren schmerzten. Sie brüllte noch lauter. Und stand einfach nur da. Dann schmeckte sie eine metallische Note auf der Zunge. Sie riss sich die Hände vom Gesicht, ruckartig. Als hätte sie sich verbrannt. Das Geschrei stoppte. Stattdessen erfüllte Gelächter die Luft, lautes, rauchiges, gefährliches Gelächter. Das Mädchen starrte fassungslos auf ihre Hände. Ein trockenes Schluchzen folgte.
Blut.
Ihre Hände waren in schlammiges Blut getaucht. Es tropfte von ihren Händen, Haaren, Klamotten. Es war überall.
Den unförmigen Schatten hinter ihr, der von Bindfäden des blutigen Regens verschleiert wurde, bemerkte sie nicht. Sie konnte nur fassungslos auf den Boden starren, auf den schrecklich aufgeweichten, schlammigen Boden, der von den herabstürzenden Massen in einen blutdurchtränkten Sumpf verwandelt worden war. Sie spürte schon, wie der Schlamm an ihren Füßen zog. Sie durfte nicht hier bleiben. Doch wo konnte sie sonst hin? Ihre Füße waren schon beinahe vollständig versunken.
Sie sollte gehen. Dieser Sumpf war blutverseucht. Tränenverseucht.
Doch sie konnte nicht.
Ich konnte die Frau nicht retten. Ich kann mich nicht retten.
Blutrote, schwefelgelbe, schuldorangene Gefühle schwappten in ihrem Kopf über. Der Regen schwemmte die erste Schicht Schlamm weg, der ihr nun schon bis zu den Oberschenkeln reichte. Zum Vorschein kam etwas Helles.
Knochen.
Der Totenschädel grinste sie an. Blutstropfen sammelten sich in seinen Augenhöhlen und liefen wie Tränen an dem schwefelgelben Schädel herab. Regentropfen für Regentropfen wurden mehr grausam grinsende Schädel freigelegt.
Ein Prickeln in ihrem Nacken, Gänsehaut. Bald schon würde sie zu ihnen gehören.
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