[i.] Die Goldene Schwalbe
Hier meine Abgabe für den Schreibwettbewerb von sweet_predator. Gleichzeitig auch meine erste offizielle Kurzgeschichte, yayy! Während dem Schreiben habe ich Folgendes hier gehört, allerdings liegt es ganz bei euch, ob ihr es auch während dem Lesen hören wollt. Mir hat es dabei geholfen, in den Schreibfluss zu kommen und in die passende Atmosphäre einzutauchen.
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»Lass's bleiben, Jungche'. Bist scho lebensmüd g'nug, eh?«
»Des hat 'r von seenem Vatter. V'rmaldeite Piratenbrut!«
»De L'genden seend's net wert, dei' Leben auf's Spiel z' setzen. Jed'r weiß, wie g'fährlich de Klippe seen. Ee felsche Tritt ...«
»Dei' Vatter wird's scho schaffe. Er'is ner tücht'ger Seemannskäpt'n. Und seend's do all's nur L'genden.«
»Wenn dier dei' Lebe lieb is, bleb weg vom Kap. Vielleicht schaffst deh's, zurückzukomme, aber deh wirs' ... anders sei. Ganz anders.«
Kopfschütteln. »So'ee töricht'ger Bub.«
All das hatten sie gesagt, in ihrem verwaschenen Nordküstler-Akzent, in dem die meisten Leute in dieser Gegend tratschten.
Die Worte hallten noch immer in seinem Kopf nach. Anders würde er sein.
Was war so schlimm daran?
Sie hatten doch keine Ahnung! Ein verschreckter Haufen alter schrulliger Klappergestelle, die in ihrem Leben nicht weiter gesehen hatten als ein paar Schafslängen hinter den wackeligen Holzzaun, der das kleine Dorf umschloss!
Schützen würde der Zaun sie, das bläuten sie sich immer wieder gegenseitig ein. Doch wahrscheinlich wiederholten sie es nur, damit es für sie irgendwann tatsächlich zur Wahrheit wurde. Denn es war nicht die Wahrheit. Der Zaun sperrte sie in einen Käfig.
Wie Gänse waren sie panisch in alle Richtungen davon gestoben und hatten laut und lauter geschnattert und geschnattert und geschnattert, als sie von seinem Vorhaben erfuhren. Er hatte den Staub aufgewirbelt, der sich über die Jahre auf den alten Legenden niedergesetzt hatte und nun durch die Luft wirbelte, tanzte, Pirouetten drehte.
Er war lange kein törichter Bub mehr. Er war ein Junge, der aufgebrochen war, um die Wahrheit zu finden. Anders als die Leute im Fischerdorf, die er mit jedem Schritt weiter hinter sich brachte.
Jeder Schritt lüftete ein weiteres Stück des schweren Drucks von seinem Herzen, den das festgefahrene Landleben ihm aufgezwängt hatte. Mit jedem weiteren Schritt fühlte er sich freier.
Er wollte seinen Vater finden.
Vielleicht war er verzweifelt.
Vielleicht war er mutig.
Vielleicht war er aber auch einfach nur unsagbar dumm.
Mit jedem weiteren Schritt näherte er sich der Klippe.
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Der Wind fuhr durch die sanfte Hügellandschaft und schlug seichte Wellen im Gras. Es wirkte, als wäre das Gräsermeer ein lebendiges, atmendes Wesen und der Junge sog den Anblick gierig in sich auf. »Wundersche«, murmelte er leise.
Egal, wie sehr er es auch versuchte, er hatte es nicht geschafft, seinen Nordküstler-Akzent mit all den anderen Dingen im Dorf zurückzulassen, die ihn an sein früheres Leben fesselten. Der Abscheu, den er deshalb für sich empfand, blubberte schon lange wie Säure in seinem Kopf vor sich hin.
Hohe Schilfhalme wogten in der seichten Brise hin und her, die vom Meer heimkehrte und landeinwärts fegte. Sie kühlte seine aufgewühlten Gedanken, streichelte sein Gesicht, spielte mit seinem Haar und raunte ihm Worte ins Ohr. Sie erzählte Abenteuergeschichten, flüsterte von großem Unheil und behauptete, auf See schon die größten Helden fallen gesehen zu haben.
Der Junge stolperte und landete mit der Nase voran im Gras.
Beinahe sofort rappelte er sich wieder auf und verfluchte dabei mit Worten die grünen Grasflecken und den Dreck, der nun an seinem Leinenhemd klebte, für die ihm Priesterin Elisabeth den Mund mit Seife ausgewaschen hätte. Mindestens fünf Mal.
Sie war genauso alt und vom Leben ausgezehrt wie all die anderen. Sie wünschte sich Veränderung, konnte die Vergangenheit aber nicht loslassen und klammerte sich an längst vergangene Bräuche wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring. Keiner von ihnen konnte den ersten Schritt wagen.
Zum Glück war er keiner von ihnen.
In den letzten vergangenen Stunden war Nebel aufgezogen. Beinahe unbemerkt hatten sich die Schwaden angeschlichen, um über ahnungslose Wanderer herzufallen und sie orientierungslos ihrem Schicksal zu überlassen. Wie weiße knöcherne Finger streckten sie ihre Fühler nach der friedlichen Landschaft aus und ergriffen von allem Besitz, was nicht schnell genug war, zu entrinnen.
Nach einiger Zeit hatte die Orientierung den Jungen endgültig verlassen und sein Zeitgefühl sich verflüchtigt.
Wie lange war er schon unterwegs?
Stunden? Vielleicht sogar Tage?
Nein, das konnte nicht sein.
Oder doch?
Er schüttelte den Kopf. Es war ihm egal.
Er wollte seinen Vater finden. Er wollte seinem Vater helfen.
Das stellte sich jedoch als schwieriger heraus, als erwartet. Der Junge konnte gerade noch ein paar Schritte weit sehen, bevor die Welt in dem kalten Grau versank. Wie sollte er da zur Klippe kommen?
Er wollte seinen Vater finden. Er wollte seinem Vater helfen. Er wollte mit ihm gehen.
Beinahe so, als hätte das Gräsermeer seine Frage erhört, flammte in einiger Entfernung ein Licht auf. Es durchschnitt den Nebel mit seinem warmen Schein und glomm wie ein kleiner Hoffnungsfunke inmitten der erdrückenden Nebelsuppe.
Er wollte seinen Vater finden. Er wollte seinem Vater helfen. Er wollte mit ihm gehen. Er musste den Leuchtturm erreichen.
Der Junge hielt an. Zögernd. Er hatte bereits viele Geschichten über Irrlichter gehört, die hier, an den mystischen Küsten des Gräsermeers bei Nacht und Nebel ihr Unwesen trieben und verirrte Wanderer ins Verderben führten. Doch das Licht ergoss sich so sanft wie Honig in den Nebel und allein sein Anblick vertrieb ein wenig die Kälte, die sich in seinem Herzen angesammelt hatte. Er wusste doch, wohin er wollte.
Oder?
Ganz auf das Licht fokussiert, bemerkte er nicht die bedrohlichen Schatten, die sich im Schutz des Nebel geformt hatten, unruhig hin und her schlichen und warteten. Darauf lauerten, dass die Hoffnung ihn verlassen würde. Dass er aufgeben würde, wie all die verzweifelten Seelen vor ihm. Dass sie sich hungrig auf seine Seele stürzen, sich über den Strom goldener Hoffnung hermachen konnten, der wie Blut aus seinem Herzen fließen würde.
Bedrohlich dunkle Augen glommen auf und Blicke brannten sich in den Rücken des kleinen Jungen, gierige Hände streckten sich nach ihm aus. Doch er bemerkte nichts davon.
Zu sehr war sein Blick auf das Licht fokussiert. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten näherte er sich ihm. Dann wurden seine Schritte immer größer und er wurde immer schneller, bis es sich anfühlte, als würde er über das Gras fliegen.
Die rauchigen Schattenfinger griffen hinter ihm ins Leere.
Träge lösten sie sich in Fetzen auf, bis nicht einmal mehr eine Erinnerung an ihrer Stelle zurück blieb.
Der Schein jedoch kam stetig näher und mit ihm schwoll das Gefühl der Hoffnung in der Brust des Jungen weiter an. Er wusste genau, wohin er gehen wollte, tief in seinem Herzen brannte die Gewissheit.
Er würde seinen Vater finden. Er würde seinem Vater helfen. Er würde mit ihm gehen. Er musste den Leuchtturm erreichen.
Verblüfft und mit keuchendem Atem blieb er plötzlich stehen.
Eine Laterne.
Es war eine gusseiserne Laterne, die auf einem flachen Schieferstein stand. Sie machte einen verlorenen Eindruck auf ihn, denn man konnte ihr deutlich ansehen, dass sie nicht hierher gehörte. Genauso wenig wie er selbst.
Das Metall fühlte sich merkwürdig weich unter seinen kalten Fingern an, als er es vorsichtig berührte. Es war, als würde das Licht es von innen heraus wärmen; so ganz anders, als er Laternen von sich zu Hause kannte, die kalt und hart und unnachgiebig waren. Der Junge hob sie vorsichtig hoch und nahm das warme Licht an sich. Die kleine Flamme flackerte unmerklich höher.
Sie begleitete ihn auf seinem Weg und spendete ihm Trost. In ihrer Nähe überfiel ihn eine friedliche Sicherheit. Endlich konnte er wieder mehr sehen, die kalten Nebelschwaden zogen sich ehrfurchtsvoll zurück.
Kurz darauf hatte er den Rand der Klippe erreicht und ein starker Wind blies ihm wie eine überschwängliche Begrüßung entgegen. Er fröstelte.
Das nächtliche Firmament erstreckte sich in endloser Weite über seinem Kopf, die vielen Sterne funkelten und glitzerten verheißungsvoll. Mit jedem Schritt, mit dem er sich der Klippe genähert hatte, hatte der Nebel sich ein Stück weiter gelüftet. In einiger Entfernung konnte er nun eine Landzunge ausmachen, auf der sich ein großer dunkler Turm in den Himmel erhob. Kalt und trostlos; etwas fehlte ihm. Und der Junge würde es ihm bringen.
Zwischen der Klippe und der Landzunge erstreckte sich Wasser - der Junge strahlte jedoch über das ganze Gesicht. Fast hatte er es geschafft!
Eine Weile lauschte er dem sanften Rauschen des Meeres und atmete in tiefen Atemzügen die salzige Seeluft ein. Das Ziehen in seinem Herzen wurde stärker, je länger er lauschte. Sein Puls beschleunigte sich beinahe unmerklich und fand einen neuen Rhythmus. Den Rhythmus der Wellen, die unter ihm an den Strand schwappten. Den Rhythmus des Meeres.
Das Meer rief ihn, und er würde diesem Ruf folgen.
Leise begann er, eine Melodie zu summen. Es war eine neue Melodie; eine Melodie, die den Alten im Fischerdorf gänzlich unbekannt war; eine, die sie niemals summen würden.
Es war die Melodie der Freiheit, die er in die Nacht hinaus hauchte.
Nach einiger Zeit entdeckte der Junge den schmalen Pfad, der sich in einem Zickzackmuster den Weg in die Bucht hinab schlängelte. Scharfkantige Felsen ragten zu seiner Linken aus der Klippenwand, zu seiner Rechten gähnte die Leere des freien Falls. Im Takt seiner Schritte hüpfte die Laterne auf und ab, ein wenig so, wie ein verirrtes Irrlicht. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln und spendete ihm gleichzeitig etwas Trost. Selbst Irrlichter verloren sich manchmal.
Für Vater.
Dann fasste er sich ein Herz und machte sich an den Abstieg.
✻ ✻ ✻
Unten angekommen, war der Mut bereits wieder aus ihm heraus geflossen wie der Rum aus einer löchrigen Flasche. Das Licht der Laterne hatte sich seltsam gedimmt, als würde es etwas bedrücken. Die Flamme flackerte niedriger, schlug dafür aber umso wilder um sich. Eine Warnung?
Nein, das konnte nicht sein. Wovor sollte er schon gewarnt werden? Hier draußen gab es niemanden außer ihm selbst und dem Meer...und den Legenden.
Doch selbst, wenn die Geschichten und Erzählungen wahr wären - wurde es nicht langsam Zeit, sich ihnen zu stellen?
Kaum einer wagte sich je ins Gräsermeer, geschweige denn über die düstere Nebelfront hinaus. Manche hatten es versucht, doch keiner war jemals zurück gekehrt.
Keiner - mit der Ausnahme einer einzigen Person.
Vater.
Vater hat es geschafft.
Vater ist zurück gekommen.
Aber kaum war er da, wollte er wieder fort und ich war zu klein. Viel zu klein. Ich konnte nicht mit ihm gehen. Jetzt bin ich groß. Jetzt werde ich ihn suchen und finden. Ich bin ein Freigeist, wie er! Ich lasse mich nicht an Land in Ketten legen und ein Leben führen, das ich nicht führen will!
Ich werde auf dem Deck seiner «Gol'dn Svhweellbe» stehen!
Bevor die ersten Strahlen der Sonne seine Mauern in ihren Glanz tauchten, musste er den Leuchtturm erreicht haben.
Schaffte er es nicht ... Er schauderte. Er wollte nicht daran denken und doch drifteten seine Gedanken wie von selbst ... Er würde seinen Vater niemals wieder sehen. Er würde zurück kehren müssen in das Fischerdorf, sich vom Zaun einschließen lassen und sein jämmerliches Leben fristen, in dem Wissen, dass er versagt hatte. Dass er genauso war, wie all die anderen Bewohner des Dorfes.
Feige. Erschöpft. Ausgezehrt.
Wartend, auf ein Wunder, das nicht kommen würde.
Das wollte er nicht sein.
Das würde er nicht sein.
Er war ein Freigeist.
Dunkler, feinkörniger Kies knirschte unter seinen Schuhen, als der Junge sich in Bewegung setzte. Er folgte der Strandlinie, sein Blick wanderte unruhig über das Wasser. Es war eine klare Nacht, der Mond schien hell und seine Reflexion im Wasser zwinkerte dem Jungen aufmunternd zu, doch dieser spürte nur das gespenstische Knistern in der Luft liegen.
Legenden umrankten den alten Leuchtturm wie Efeustränge eine hohe Mauer.
Sie gingen von Mund zu Mund und wucherten durch die vielen Ausschmückungen immer weiter, immer höher, bis man die ursprüngliche Wahrheit lange aus den Augen verloren hatte. Dort, wo Löcher in den Gedächtnissen der Menschen entstanden, wurden sie mit wilden Fantasien und haarsträubenden Illusionen geflickt. Doch was davon war Wahrheit und was ausgedacht? Was würde ihn erwarten?
Bald schon entdeckte er einen Steg, an dem ein einziges kleines Ruderboot im sanften Wellengang hin und her schaukelte. Wellen schwappten gegen die von Seepocken vernarbten Stelzen, die hinter dem Steg aus dem Wasser ragten und aussahen wie Stacheln eines großen Meeresungeheuers, das sich in der Bucht schlafen gelegt hatte.
Die Bretter knarzten unheilvoll, als er über sie ging.
Sein sorgenvoller Blick schweifte über das dunkle Wasser der Bucht. Doch als er wieder auf dem hölzernem Ruderboot landete, huschte ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht. Ein kleines Boot für einen kleinen Jungen. Was konnte er sich anderes wünschen?
Freiheit, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
Entschlossen setzte er einen Fuß über die Reling.
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Die Laterne befestigte er vorsorglich an einem hölzernen Stab, der aus der Mitte des Bootes ragte, sodass sie nicht verloren gehen konnte.
Wohl oder übel würde er rudern müssen. Er verzog kurz das Gesicht, doch dann zuckte er die Schultern, nahm die zwei Holzstangen in die Hand und stieß sich ab.
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Sanft glitt er in dem Boot auf dem ruhigen Wasser dahin, zog die Ruder an, holte aus und ließ sie erneut ins Wasser gleiten. Seine Arme waren schnell erschöpft, doch der Wunsch in ihm war lange nicht verloschen. Er brannte weiter und erfüllte ihn mit seiner Wärme.
Ich werde Vater finden. Ich werde ihm helfen. Ich werde auf dem Deck seiner «Gol'dn Svhwallbe» stehen.
Plötzlich ließ ein lautes Platschen die friedliche Stille zersplittern wie ein Gewehrschuss.
Das Boot schwankte.
Der Junge erstarrte.
Da war eine zarte Hand, die sich an den Rand des kleinen Boots klammerte und gleich darauf schob sich ein Kopf in sein Sichtfeld.
Es war der Kopf einer Frau. Sie war so wunderschön, der Junge wurde sofort in ihren Bann gerissen.
Obwohl er einen Schatten auf ihr Gesicht warf, glitzerten die Wasserperlen, die sich in ihren Wimpern verfangen hatten, mit dem Glanz in ihren Augen um die Wette. Sie wirkten wie die glitzernden Oberflächen tiefer Seen, in denen er sich verlieren konnte und die ihn auffingen würden, falls er fallen sollte. Anmutig warf sie ihr silbernes Haar zurück und verzog ihren Mund zu einem hinreißenden Lächeln.
Doch der Junge zuckte mit schreckgeweiteten Augen zurück.
Die teuflische Wahrheit lachte ihm hämisch ins Gesicht, Reihen spitzer Haifischzähne spickten ihren Mund. Die Seen in ihren Augen fingen ihn nicht länger auf. Sie zogen ihn hinab in ihre endlose Tiefe und ertränkten seinen Atem.
Hastig versuchte er, so viel Platz wie möglich zwischen sich und die Frau zu bringen- Gerade noch rechtzeitig. Eine scharfe Klaue fuhr aus dem Wasser und verfehlte seine Wange um Haaresbreite.
Zumindest dachte er das, bis er spürte, wie etwas Warmes über seine Haut rann.
Der Junge sah gieriges Verlangen in den Augen der Frau aufflackern, doch plötzlich fauchte sie gepeinigt auf, als der Schein der Laterne auf ihre perlmuttfarbene Haut traf. Für einen kurzen Moment konnte er filigrane, durchsichtige Schuppen aufblitzen sehen, dann war der Moment vorbei und der zarte Kopf verschwunden.
Meerjungfrauen.
Wie paralysiert starrte er auf die Stelle, an der der glitzernde Fischschwanz abgetaucht war.
Vorsichtig fasste er sich ins Gesicht und augenblicklich schoss ein scharfer Schmerz durch seine Wange.
Ein kurzer Blick nach unten - seine Fingerkuppen waren rot.
Ungläubig starrte er auf das Blut.
Eine einzelne Träne rollte seine Wange hinab und er presste die Lippen aufeinander, als sich das salzige Wasser mit dem Blut vermischte und schmerzhaft in seiner Wunde brannte.
Das hier war real.
Es war nicht irgendeine Legende.
Es war real.
ES WAR REAL, VERDAMMT!
Ich muss Vater finden! Ich muss ihm helfen! Ich muss auf dem Deck der «Gol'den Svhwallbe» stehen!
Überall dort, wo der zarte Schimmer der tänzelnden Flämmchen jetzt auf die dunkle Wasseroberfläche traf, zischte und schäumte es unheilvoll. Blasen stiegen an die Oberfläche und zerplatzten. Hin und wieder blitzten Schuppen auf, Schwanzflossen glitten durchs Wasser. Außerhalb des Lichtpegels hielt das Platschen an, begleitet von einem Keckern und Klicken, das Delfinlauten ähnelte.
Auf einmal wurden die zuvor sanften Wellen stürmischer und das Platschen lauter, es kam aus allen Richtungen. Das Ruderboot wurde unsanft hin und her geworfen wie eine Nussschale im Sturm und der Junge krallte sich mit weiß hervorstechenden Knöcheln an der Reling fest.
Dann herrschte Stille.
Verwundert richtete er sich auf.
Es war eine Wand aus Dunst, die sich einige Bootslängen von ihm entfernt zusammenzog und sich zu einem Vorhang verdichtete, durch den er nur noch schemenhafte Umrisse erkennen konnte.
Die Laterne flackerte unheilvoll. Der Nebel schloss sich um sie und es wirkte, als wolle er das Licht ersticken, doch der Junge riss sich zusammen. Das bildete er sich doch nur ein.
Weit konnte es nicht mehr sein - er glaubte, bereits die Umrisse der Landzunge und des Leuchtturms ausmachen zu können und kniff angestrengt die Augen zusammen.
Was er jedoch sah, ließ seinen Atem stocken.
Das war nicht der Leuchtturm und auch nicht die Landzunge, die sich mit jeder Sekunde weiter aus dem Nebel schälte. Ein Schauer fuhr über seinen Rücken und sein Mund öffnete sich einen Spalt weit.
Die Ausläufer der Nebelwand wichen wie von Geisterhand langsam zurück und enthüllten den Bug eines riesigen Schiffes. Dunstschwaden klebten an dessen von Algen behängten Planken, zerfledderte Segel flatterten wie Leichentücher im Wind und das laute Knarren und Knarzen der Masten schnitt gespenstisch durch die Stille.
Wie ein Gerippe pflügte das Geisterschiff durchs Wasser. Es steuerte direkt auf sein kleines Ruderboot zu.
Panik überfiel den Jungen, doch er konnte sich nicht rühren. Seine Muskeln waren wie gelähmt, sie gehorchten ihm nicht mehr. Mit vor Schreck geweiteten Augen wartete er auf den Aufprall. Er spürte bereits, wie das glitschige Holz sich in seine Haut bohrte, wie das kalte Meerwasser über seinem Kopf zusammenschlug und das Stechen in seinen Lungen, als sein Atem versagte.
Aber ... es blieb aus.
Durch seine geschlossenen Augenlider vernahm er plötzlich ein immer stärker werdendes rötliches Leuchten, das alle Kälte aus der Umgebung vertrieb. Schließlich wurde es so gleißend, dass es sich trotz seiner geschlossenen Augen in seine Netzhaut einbrannte.
Auf einmal fühlte er sich seltsam leicht.
Frei.
So fühlt es sich an, frei zu sein, begriff er. Doch beinahe sofort ergriff ein schrecklicher Gedanke von ihm Besitz: War das der Tod? Starb er just in diesem Moment? Wo er doch schon so nah am Ziel gewesen war?
So konnte es nicht enden! Unglauben erfüllte ihn und doch war es ihm, als könne er noch immer den leisen Nachhall der Wellen hören, die gegen die hölzernen Wände seines Ruderboots geklopft hatten.
Eine salzige Brise wehte ihm ins Gesicht und warf ihn unsanft aus seinen Gedanken in die Realität.
Mit aller Kraft mühte er sich ab und öffnete sein Augenlid einen Spalt breit. Es fühlte sich an, als würde er eine schwere Eisentüre aufstemmen, doch er gab nicht auf.
Vorsichtig linste er in das Licht. Von Sekunde zu Sekunde wurde es schwächer und je länger er es anstarrte, desto bewusster wurde ihm, wie knapp er dem Tod entronnen sein musste. Hatte das Licht ihn gerettet?
Ob es durch den rauchigen Rumpf des Geisterschiffs geschnitten war, als wären die Holzplanken nichts weiter als feine Seidentücher? Auf einmal wünschte er sich, er hätte die Augen nicht geschlossen.
Oder hatte er sich das Schiff nur eingebildet? War es eine Warnung seines Unterbewusstseins gewesen?
Aber er war doch ein Freigeist! Er würde sich selbst nicht in Ketten legen, sogar wenn ihm sein Schicksal ins Gesicht lachte.
Vielleicht ... ein Fluch? Er hatte keine Angst vor dem Fluch des Meers, den die Wellen Seefahrern und ihren Schiffen auferlegten, die gegen ihren Codex verstießen. Das Salzwasser floss in seinem Blut, wie es auch in den Adern seines Vaters floss.
Im Osten schmolz der Nebel schon langsam dahin, der Himmel über der Bergkette verfärbte sich zauberhaft lila. Doch die Mundwinkel des Jungen sanken nach unten.
Ich werde zu spät kommen, war alles, woran er denken konnte. Ich bin nicht schnell genug. Nicht stark genug.
Schon eine ganze Weile war er so in Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie das Wasser links und rechts an ihm vorbei zog.
Verwundert beugte er sich nun über die Reling und entdeckte ein sanftes, goldenes Glimmen dort, wo Meerwasser und Holz aufeinandertrafen.
Das Boot nahm Kurs auf den Leuchtturm. Mit jedem zurück gelegten Meter fühlte er sich ausgelaugter, doch gleichzeitig rauschte das Gefühl von grenzenloser Freiheit durch seine Adern.
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Da war der Leuchtturm! Mit wackeligen Schritten kämpfte er sich an Land.
Der Junge nahm kaum noch wahr, wie er sich Stufe um Stufe die steinerne Wendeltreppe hinaufschleppte, die den Turm umarmte. Er nahm kaum noch wahr, wie die Kälte der Nacht versuchte, ihn auf den letzten Metern auszuzehren.
Doch das Licht der Laterne in seiner Hand war nicht verloschen. Die Sonne hatte sich noch nicht vollständig erhoben. Er würde nicht aufgeben. Niemals. Nicht, solange das Licht noch brannte. Nicht, solange noch Hoffnung bestand. Das Licht brannte noch...das Licht...
Dann sackte er in sich zusammen.
Er bemerkte nicht mehr, wie sich Stränge aus geschmolzenem Honig aus seiner Laterne ergossen und über die restlichen steinernen Stufen flossen wie kleine Bäche aus purem Licht. Entgegen aller physikalischer Gesetze bahnten sie sich ihren Weg die Stufen hinauf, bis sie schließlich das große gläserne Leuchtfeuer in der Spitze des Turms erreichten.
Auf ihrem Weg hatten sich einzelne Tropfen von den Strömen gelöst, die nun durch die Luft schwebten und den Turm in einen weichen, geheimnisvollen Schimmer tauchten.
Die Stränge wanden sich um das Glas, bis es vollkommen bedeckt war. Auf einmal explodierten die in der Luft schwebenden Tropfen und regneten als kleine Sternenschauer zu Boden. Das Leuchtfeuer erwachte. Und das keine Sekunde zu spät.
Denn am Horizont war bereits ein majestätisches Schiff aufgetaucht, das vom noch etwas verschlafenen, jedoch nicht weniger freudigen Aufblitzen des Leuchtturms begrüßt wurde.
An seinem Bug prangte in geschwungenen Lettern der Name des Schiffes.
Es war die «Goldene Schwalbe».
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Wörter: 3558
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