36 ~ Das Karussel
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf den kleinen, zerfetzten Körper. Sally? Nein, nein, das kann sie nicht sein. Das ist nicht Sally.
Die Leute um mich herum starren mit entsetzten Mienen auf den Anblick, der sich ihnen bietet. Zerrissene Körper überall. Aber nicht Sally, nicht meine Sally. Nicht meine Tochter.
Ich kämpfe mich vor, taumele durch die Leichen und wühle mich durch die umgekippten Holzstreben und Metallteile.
"Sally!", brülle ich. Ich muss sie finden. Sie darf nicht unter ihnen sein.
Wir sind doch nur zum Rummelplatz gegangen, an einem ganz normalen, sonnigen Tag. Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben. Und dann kam dieser verdammte Irre.
Warum? Warum musste er sich direkt neben das Karussel stellen? Er wusste, was er anrichten würde, und er hat gegrinst, kurz bevor alles in die Luft gegangen ist.
Ich krieche weiter, drehe Leichen um und wische sie wieder beiseite, etwas, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es jemals tun würde. Aber das ist mir im Moment egal. Ich will nur mein Kind finden.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die anderen Eltern mir folgen. Auch sie graben sich durch die Trümmer, verzweifelt, mit fahrigen Bewegungen, keiner kann glauben, was hier gerade passiert ist.
Wo ist Sally?
Ich weine nicht. Keiner tut das. Denn das hier ist nicht wahr. Das darf es nicht. Es muss einfach ein Albtraum sein, der Schlimmste, den ich jemals hatte.
"Sally!", rufe ich wieder, aber meine Stimme geht in den Rufen unter, die von allen Seiten kommen. Leon. Linni. Dean.
Ich wühle mich weiter, meine Hände fliegen geradezu über die Körper. In so einem Moment schaltet der Körper auf Autopilot, heißt es. Und es stimmt. Mein Innerstes ist eiskalt, eiskalt vor Angst.
Da treffe ich es. Ein blaues Kleid mit Blumenmuster. Zerrissen. Verbrannt. Vorsichtig drehe ich sie um. Und da liegt sie. Blutverschmiert. Tot.
Mein Herz zersplittert wie das Karussel vor meinen Augen und ertrinkt in dem Blut, das ihr gehört. Meine Sicht verschwimmt vor Tränen, die auch die Welt um mich herum ertränken wollen.
Wäre ich doch nur näher gewesen. Dann würde ich jetzt neben ihr liegen, anstatt sie in den Händen halten zu müssen. So sollte es nicht sein. Kein Elternteil sollte sein Kind sterben sehen. Es sollte umgekehrt sein. Sie sollte mich sterben sehen.
Ich werfe den Kopf in den Nacken und lasse einen Schrei in die Welt hinaus, der alles ausdrückt. Ein Schrei, der der Welt, dem Schicksal, all die Wut entgegenspuckt, all das Leid, all die Tränen. Die anderen Eltern fallen mit ein, bis ein unendlicher Chor entstanden ist, ein Heulen, das klingt, als würde man die Totenwelt selbst herausfordern.
Schüsse begleiten unseren Chor, den Chor der Verzweifelten. Derjenigen, die gerade alles verloren haben. Derjenigen, die nichts mehr haben. Doch sie gelten nicht uns. Sie sind anderen gewidmet. Denjenigen, die laufen. Die sich verstecken. Die betteln.
Ich werde nicht flehen.
Sanft bette ich Sally zurück auf den Boden. Ein letztes Mal streiche ich über ihren Kopf. Gleich bin ich bei dir, Sally.
Schweigend stehe ich auf. Die anderen sind schon bereit. Sie werden es tun, so wie ich. Daran gibt es keinen Zweifel. Gemeinsam schreiten wir los, wie eine lautlose Kolonne, die zu ihrem letzten Gericht antritt. Wir laufen nicht. Wir verstecken uns nicht. Wir betteln nicht.
Sie haben uns bemerkt, drehen sich zu uns um, laden neu, zielen auf uns.
Ich komme, Sally.
Ich komme, Leon.
Ich komme, Linni.
Ich komme, Dean.
Sie drücken ab. Ich kann das Klicken der Kugel kurz vor dem Knall hören. Aber wir haben bereits alles verloren. Diese Kugeln sind unsere Erlösung. Unsere Wiedervereinigung.
Und gemeinsam stürzen wir uns in den Tod, denn es gibt nichts mehr, das uns am Leben hält.
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