ᛒ × Sie kleidete sich darin
Das Fell ruhte auf Jaanas Schultern, während sie ihre Fäuste zusammenballte und den Blicken Asenas und Eiks auswich.
Es war warm und weich und versprach Ruhe für das Chaos in ihren Gedanken und den Geruch von Freiheit.
Freiheit, die ihr verwehrt bleiben würde.
Jaana rückte das Fell noch einmal zurecht, legte es sich ein wenig anders über die Schultern als zuvor.
»Sitzt es richtig?«, wollte sie wissen. Vielleicht lag es daran, dass sie es sich falsch übergeworfen hatte. Sie hatte versucht, Eemeeli zu imitieren, denn bei ihm hatte sie die Verwandlung zu einem Wolf schon gesehen. Sie musste es sich falsch gemerkt haben.
Eik presste seine Lippen aufeinander. Asena öffnete ihren Mund, allerdings nur, um einmal auszuatmen.
Damit hatte sie ihre Antwort.
Mit einem Mal kam es ihr so vor, als rückten die Bäume näher, die den Garten umgaben, als senkten sich die Baumwipfel langsam hinab, um mit langen Ästen spottend auf sie zu zeigen.
Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie bemerkte sie erst, als sie ihr Kinn berührten und dort wieder trockneten.
Schnell drehte sie sich um und wandte den beiden den Rücken zu. Sie sollten nicht sehen, wie für sie gerade eine Welt zusammenbrach.
Ihre Arme hob sie an und presste sich das Fell gegen das Gesicht.
Sie hatte es so sehr gehofft, dass sie sich verwandeln würde. Dass es eine Erklärung für ihre Augen gab, wenn diese zu goldenen Scheiben wurden. Sie fühlte sich entblößt und nicht einmal das Fell über ihren Schultern konnte dagegen helfen.
In einer einzigen Bewegung riss sie es sich von den Schultern, beobachtete, wie es als kleines Fellbündel zu ihren Füßen landete.
»Jaana...«, sprach Asena langsam und ruhig, als schien sie zu spüren, dass Jaana innerlich komplett aufgewühlt war. Das Mädchen jedoch dachte nicht daran, auf sie zu hören.
Sie fühlte sich, als wäre ihr etwas genommen worden. Etwas, das sie nie besessen hatte und das ihr genommen worden war, noch bevor sie überhaupt davon gewusst hatte.
Sie hatte jedes Recht dazu, wütend zu sein. Und es war ihr egal, wer ihre Wut zu spüren bekam, auch wenn sie tief in sich drinnen wusste, dass es nicht Asenas Schuld war, dass sie sich nicht verwandelt hatte.
»Jaana, warte bitte«, sagte Eik und stand auf, als Jaana ihre Hände zu Fäusten ballte und den Gedanken bereits geformt hatte.
Sie musste hier weg, das stand für sie bereits fest! Sie hätte gar nicht erst herkommen sollten. Dann hätte sie nicht diese Enttäuschung spüren müssen, die sich in ihr breitgemacht hatte und jede Faser ihres Seins unangenehm brennen ließ.
»Nein«, antwortete sie mit erstickter Stimme und unter Tränen. »Ich verschwende hier meine Zeit. Vergesst es, ich will dieses Fell überhaupt nicht haben!«
Und mit diesen Worten kehrte sie den beiden endgültig den Rücken zu und lief schnellen Schrittes von dannen. Zunächst ging sie einfach nur sehr schnell, doch noch bevor sie den Garten verlassen hatte, wurde sie schneller und schneller, bis sie zu laufen begann.
Die Bäume zogen zu ihren Seiten an ihr vorbei und sie konnte nicht einmal daran denken, angsterfüllt zu sein. Doch als sie jetzt rannte, dachte sie nicht an die Bestie und das was vor nicht allzu langer Zeit hier im Wald passiert war, nicht an die Wunden, die noch immer ihre Brust zierten und gerade beim Laufen ziemlich schmerzten. Da waren andere Gedanken, die sich wie Dunkelheit in ihr breitmachten.
Sie war etwas nachgejagt, das sie nicht haben konnte. Und dem musste sie sich trotzdem noch irgendwann stellen, denn schließlich schien das Geheimnis des Runenstein sich auch um die Wölfe zu drehen.
Außerdem wusste sie nicht recht, wie sie sich fühlen sollte. Sie wusste überhaupt nicht mehr, wer sie war. Ob sie noch diejenige war, die mit ihrem Vater den Stein zum ersten Mal gesehen hatte.
Es war, als kenne sie sich selbst nicht mehr, habe sich nie selbst gekannt. Als wäre ihr ihre Identität von den Schultern gezogen worden, als wäre sie nur eine zweite Haut, als wäre sie nicht alles, was Jaana ausmachte.
Irgendwann, als die Trauer ihr die Brust zuzuschnüren begann, blieb sie stehen. Leise atmend blieb sie stehen. Normalerweise hätte sie ewig so weiterrennen können, doch nicht, wenn ihr nebenbei die Tränen über die Wangen liefen und sie sich einfach unter einer Baumwurzel zusammenrollen wollte und dann im Erdboden versinken würde.
Verschwinden würde sie zwar nicht einfach, und sie wusste, irgendwann würde sie sich all dem stellen müssen, doch für den Moment setzte sie sich einfach auf eine Schneewehe neben einem breiten Baumstamm und ließ ihren Kopf dann gegen die Rinde sinken. Die Kälte kroch ihr über die Beine und bis über den ganzen Körper empor, doch sie nahm diese nur am Rande wahr. Was sie spürte, war die Kälte, die sich um ihr Herz zu legen begann.
Sie war alleine. Da war niemand auf der Welt wie sie.
Sie war kein Mensch, denn sonst würden ihre Augen nicht dann und wann golden aufleuchten. Sonst hätte sie niemals die Wunden, die ihr die Bestie zugefügt hatte, überleben können, so hatte Asena gesagt. Aber zu den Werwölfen gehörte sie auch nicht.
Jaana wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es hätten wenige Minuten sein können oder schon eine volle Stunde oder aber auch schon später Nachmittag und der Tag würde bald zu Ende sein. Sie wusste nur, dass sie nichts gegen das schleichende Gefühl tun konnte, das sich mit eisernen Schellen um ihr Herz legte. Einsamkeit. Enttäuschung.
Die Knie zog sie bis zur Brust und den Kopf legte sie dann darauf ab. Die Tränen waren versiegt, nur ihre Wangen waren noch ein wenig nass und boten eine gute Angriffsfläche für die klirrende Kälte des Winters.
Dies ließ sie müde werden. Die Aufregung, ihre Flucht, das Weinen, all das hatte sie Kraft gekostet und sie wollte nun nichts lieber tun, als nach Hause zu gehen und in ihr Bett zu fallen. Und damit meinte sie ihr richtiges Zuhause, nicht ihre vorübergehende Bleibe auf Hankos Hof. Das rote Blockhaus am See auf einer Lichtung, umgeben von Bäumen und zwei kleinen Wiesen. Der einzige Ort auf dieser Welt, wo sie alles hinter sich lassen konnte, abschalten und sich selbst wieder aufladen, nachdem ihr alles genommen wurde.
Und sie war im Wald. Irgendwo, nicht allzu weit weg, müsste ihr Zuhause sein.
Jaana stand auf und sah sich um. Normalerweise orientierte sie sich an den plattgetrampelten Pfaden, um sich in dem riesigen Wald zurechtzufinden, doch als sie sich jetzt um sich selbst drehten, konnte sie keinen Weg entdecken, keinen bekannten Baum, nicht die Spitze des Turmes ihrer Schule. Wo war sie?
Noch einmal drehte sie sich um sich selbst. Die Bäume ragten hoch und dicht in den Himmel, also hatte sie auch gar keine Chance, irgendwelche Gebäude zu erkennen. Was sie aber eigentlich von überall im Wald hätte erkennen müssen, war der Ginnungagap, dessen Bergspitzen bis in den Himmel ragten.
Und tatsächlich! Zwischen den Bäumen konnte Jaana die sturmgraue Silhouette einer der Berge ausmachen. Sie wusste ungefähr, wo sie war, doch sie war schockiert, wie weit sie doch gerannt war.
Das Blockhaus, ihr Zuhause, ihre Schule, Hankos Hof und die Berge lagen eigentlich an den vier Seiten der Himmelsrichtungen des relativ quadratischen Waldgebietes in Vargöldfjell. Das Problem, vor dem sie sich jedoch gerade sah, war, dass sie nicht in jenem Gebiet war. An einer Stelle ging der Wald noch weiter, führte um den ganzen Berg herum, lief noch weit unterhalb und oberhalb von Vargöldfjell weiter. Und irgendwo dort musste sie sein, in der Nähe des Berges, in dem Waldstück, aber ziemlich weit weg von ihrem Zuhause. Es war nicht so, dass sie glaubte, nicht wieder zurückzufinden - sie war immerhin ihres Vaters Tochter, Abenteurerin und selbsternannte Forscherin. Sie dachte immer, eines Tages würde sie wie ihr Vater werden, würde in die Fußstapfen des weltberühmten Kjartan Sjöberg treten. Dachte, sie würde eine richtige Forscherin sein und nicht mehr nur ihrem Vater assistieren. Aber das war ihr Vater, nicht sie. Sie war keine Forscherin. Und wie konnte sie jemals eine werden, nach allem, was passiert war, nach allem, was sie wusste.
Nein, sie hatte sich nicht verlaufen. Sie würde den Weg bestimmt zurückfinden. Dennoch trat sie den Rückweg nicht an. Sie wollte nicht zurück. Sie wollte lieber noch eine Weile in dem großen Wald bleiben, auch wenn dieser ihr Angst machte, solange es bedeutete, dass sie sich der Realität nicht stellen musste. Der Realität, in der sie nirgends dazugehörte.
Kurzerhand ließ sie ihre Hand in die Hosentasche gleiten. Dort war sie noch immer, die silberne Scheibe, die sie einmal dort verstaut hatte und mit der sie in jenem Moment gar nichts hatte zu tun haben wollen, weil sie nicht zu ihrem Rätsel gehörte.
Wer einen Vegvísir trägt, soll weder bei Sturm noch Wind verloren gehen, selbst wenn der vor ihm oder ihr liegende Weg unbekannt ist.
Die Worte ihres Vaters fanden den Weg in ihre Gedanken, als sie langsam über die Runen auf der Scheibe strich.
Kurzerhand hängte Jaana ihn sich um. Sie fühlte sich entblößt, einsam und sie war enttäuscht - am meisten von ihr selbst, dass sie gedacht hatte, sie könnte irgendwo dazugehören. Das Gewicht des Vegvísirs an dem alten Lederband um ihren Hals jedoch beruhigte sie.
Auch wenn sie ihn noch nicht vor sich sehen konnte, irgendwo gab es einen Ort für sie, an den sie gehörte.
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