ᛅ × Ein morgendlicher Spaziergang
Am nächsten Tag warf Jaana alle ihre Vorsätze über Bord.
Sie war wieder nicht zur Schule gegangen. Ihr Vater hatte gesehen, dass sie dann und wann schwer atmete und ihre Wunden sie noch belasteten, immer mal wieder wehtaten und sie an jene Höllenqualen und die Begegnung mit der Bestie erinnerten. Und Jaana brauchte diesen freien Tag.
Am Abend des Sonntags war sie eigentlich motiviert gewesen, sie hatte den Stoff nachgeholt, den sie verpasst hatte und noch mit ihrem Vater ewig lange auf der Bank gesessen. Sie hatten nicht geredet, nur in den fallenden Regen hinausgestarrt und er hatte ihr Trost gespendet und neue Kraft geschenkt. An diesem Morgen jedoch, als sie aus dem Fenster gespäht hatte, war all jener Mut gewichen.
Jaana war nicht sicher, weshalb genau sie mit einem Mal wieder so antriebslos war. Die Sonne schien, die Luft war klar vom Regen der Nacht und ihre Wunden schmerzten nicht wie in den Nächten zuvor, als Jaana sich im Schlaf hin- und hergewälzt hatte.
Dann hatte es an der Tür geklingelt und Hanko, Kjartan und Jaana, die gemeinsam im Wohnzimmer gesessen hatten, hatten sich fragend angesehen. Sie erwarteten niemanden.
Hanko stand auf und ging die Treppe hinunter zur Tür. Jaana warf ihrem Vater einen Seitenblick zu, um zu überprüfen, ob er nicht mehr wusste als sie und ihnen nur verheimlichte, wer sie da besuchte. Doch in seinen Augen erkannte sie dieselbe Ahnungslosigkeit wie auch in Hankos zuvor.
Kurze Zeit später lüftete sich das Geheimnis, als Hanko wieder in das Wohnzimmer trat. Hinter ihm stand jemand im Türrahmen, den Jaana hier am wenigsten erwartet hätte.
Jaana war aufgestanden, als sie den Jungen erblickt hatte. Sie wusste, dass Hankos und Kjartans Augen auf ihr lagen und zwischen ihr und dem Jungen hin- und herhuschten. Sie wusste, dass sie ihn fortschicken sollte. Ihm sagen sollte, dass sie ihn nie wiederzusehen wünschte. Dann würde sie nicht länger etwas mit Wölfen zu tun haben und sie konnte ihn vor ihrem Vater als Mitschüler abtun. Es war so einfach.
»Hanko, mein Vater, Eik«, stellte Jaana die drei einander vor, dann wandte sie sich an ihren Vater. »Ich gehe eine Runde spazieren.«
»Jaana...«
Eik trat einen Schritt vor und bedachte den Runologen mit einem langen Blick. »Ich werde auf sie aufpassen, Herr Sjöberg«, meinte er dann, als er in den Kjartans Augen erkannt hatte, was er eben hatte aussprechen wollen. Er wollte ihr nicht im Wege stehen oder ihr gar Sachen verbieten, doch er würde sie nur in den Wald lassen, wenn sie sicher war und sich gut genug dafür fühlte.
Jaana nickte, als der Blick ihres Vaters zu ihr weiterwanderte. Stumm führten sie ein Gespräch. Irgendwann zwang sich ihr Vater dann zu einem Lächeln. »Viel Spaß, bis später«, meinte er dann. Es wirkte gezwungen.
Und dann folgte Jaana Eik nach draußen, nachdem sie noch einmal kurz die Hand zum Abschied gehoben hatten. Jaana und Eik redeten nicht, bis sie die Treppe hinuntergeeilt waren, Jaana sich Schuhe und Jacke angezogen hatten und sie den Hof überquert hatten. Sie mussten keinen Blick zum Wohnhaus werfen und ihren Blick auf das Fenster richten, sie waren auch so felsenfest davon überzeugt, dass die beiden Männer dort oben hinter der Scheibe standen und ihnen hinterherblickten.
Nachdem sie die Hofausfahrt entlanggeschritten waren, blieben sie stehen. »Was machst du hier?«, verlangte Jaana zu wissen.
»Ich wollte nach dir sehen«, erwiderte Eik verwirrt. Er schien in ihrem Gesicht nach irgendetwas zu suchen, das ihre Gedanken verriet. »Ich bin hier schon gestern vorbeigekommen, aber niemand hat aufgemacht. Als ich heute Eemeeli zur Schule gebracht habe, warst du nicht da. Fast überall habe ich nach dir Ausschau gehalten.«
»Aber warum hast du das gemacht?«, wollte Jaana wissen. Sie deutete nach links. Wenn sie in diese Richtung gingen, würden sie einige Bäume passieren, könnten aber auch schnell den Wanderweg erreichen, der einmal um den Wald herumführte.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, murmelte Eik nach einer Weile, ehe er nach ihrer Hand griff und sie geradeaus weiterzog, direkt in den Wald hinein.
»Hey, Eik! Eik, Stopp!«, rief Jaana und stemmte ihre Füße in den Waldboden. Er ließ sie so abrupt los, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. »Ich brauche dich nicht, um auf mich aufzupassen. Und ich möchte nicht in den Wald gehen! Ich... ich habe Angst«, meinte sie und wich einen Schritt zurück, damit Eik nicht wieder auf die Idee kam, sie zu ergreifen und irgendwo hin zu führen.
»Oh«, meinte Eik betroffen. Ihm war anzusehen, dass er für einen Moment nicht daran gedacht hatte, was mit ihr geschehen war. Was für eine Angst sie hatte. »Es tut mir leid. Ich habe da nur jemanden, der dich gerne kennenlernen und dir etwas geben möchte. Etwas, das womöglich von Hilfe für dich sein kann.«
»Ich will eigentlich gar nichts mit dir zu tun haben. Oder mit sonst irgendeinem Werwolf«, sagte Jaana lahm, als sie sich an ihren Vorsatz vom Vortag erinnerte.
Ein Schatten huschte über Eiks Augen, doch ehe Jaana genauer hinsehen konnte, war er schon wieder verschwunden. Da der Junge jedoch den Blick ein wenig gesenkt hielt und seine Zähne so fest aufeinanderbiss, dass seine Kieferpartie hervortrat, konnte Jaana erahnen, was er dachte. War er enttäuscht? Verletzt?
»Na gut, wir müssen nicht zur Mutter gehen, wenn du das nicht möchtest«, meinte er ein wenig verunsichtert. »Wenn du allerdings trotzdem mit mir spazieren gehen möchtest, würde ich mich sehr freuen.«
Jaana konnte nicht recht sagen, warum sie sich umentschied, warum sie das tat, was sie nicht hatte tun wollen. Vielleicht war es der Ausdruck in Eiks Gesicht, der darum zu flehen schien, mit ihr etwas zu unternehmen, bei dem es nicht um Wölfe ging oder eine Bestie. Es fühlte sich richtig an. Sie konnte ihrer Neugier auch später noch nachgehen und herausfinden, ob auch sie ein Werwolf war wie die beiden Jungs und jetzt konnte sie mit Eik Zeit verbringen wie mit einem Freund, ohne dass es um Wölfe oder die Bestie ging. Außerdem hätte sie sonst nicht viel zu tun, und Jaana hasste es, sich zu langweilen. Nicht nur würde sie sich auf Hankos Hof stets eine Beschäftigung suchen müssen, sie müsste auch die ganze Zeit in ihres Vaters Sichtweise bleiben, da war sie sich sicher.
»Nein, nein, bitte«, sagte sie deshalb, »bitte stell mich deiner Mutter vor. Nur... durch den Wald möchte ich nicht gehen.« Sie war neugierig auf das, was die Mutter - wie Eik sie nannte - ihr geben wollte und inwiefern ihr das helfen konnte.
Sie traten unter einigen wenigen Bäumen hindurch, die hellrosa blühten. Jaana fand es schön anzusehen, sie liebte es, wenn sich die Blütenblätter auf ihren Haaren sammelten, wenn rosa auf rot traf und aussah wie tanzende Blüten auf Feuer.
Statt durch den Wald zu gehen, traten sie ins Freie, wo sich nur ein paar Straßen durch Wiesen und Häuser schlängelten. Dann gingen sie an der Schule vorbei. Sie hätten nicht allzu lange gebraucht, das Haus der Wölfe zu erreichen, wenn sie den direkten Weg gegangen wären, doch weil sie den Umweg nahmen, brauchten sie eine gute Stunde, bis sie vor einer anderen Stelle des Waldes standen, die den kürzesten Weg durch den Wald bis hin zu der Ruine bildete.
Jaana blieb stehen und spähte durch die Bäume hindurch. Selbst, wenn sie den größten und dunkeltsten Teil des Waldes vermieden hatte, da war noch ein Stück nach, das sie bewältigen musste. Es konnte noch so klein sein, ihre Angst minderte sich kein bisschen.
Die Lärchen warfen Schatten, ragten endlos in die Höhe, schimmerten kupferfarben im Licht der Morgensonne. Tief atmete sie ein und ließ ihren Blick durch den Wald gleiten. Er wirkte nicht bedrohlich. Jaana verspürte mit einem Mal keine Angst. Sie wusste, dass die Angst noch da war und sie fest gefangen hielt, doch sie drängte sie beiseite. Mit wackeligen Schritten trat sie in den Wald. Ruhe umfing sie. Die Bäume um sie herum schwiegen. Jaana kam es so vor, als hielten auch sie ihren Atem an und gaben keinen Laut von sich, weil sie warteten. Warteten, ob Jaana nicht doch umkehren würde und scheiterte, den Wald zu sehen, den sie all die Jahre zuvor gesehen hatte.
Sie drehte sich zu Eik um, dessen Blick intensiv auf ihr lag. Er brannte unangenehm auf ihrer Haut.
»Kommst du?«, fragte sie und gab sich Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Wenn er nicht bald an ihrer Seite auftauchte, würde sie sich wahrscheinlich doch der Versuchung hingeben, den Bäumen den Rücken zuzukehren.
»Stelle dich deinen Ängsten und du wirst herausfinden, wie stark du wirklich bist.«
Die Worte ihres Vaters trieben durch ihre Gedanken, als sie beobachtete, wie Eik sich in Bewegung setzte und mit einigen, wenigen schnellen Schritten zu ihr aufschloss. Sie würde sich ihrer Angst stellen und warf Eik ein unsicheres Lächeln zu, dankbar, dass sie dies nicht alleine tun musste.
Würde sie jemals wieder in ihr Zuhause zurückkehren können? Das Blockhaus war von einem See und dem Wald umgeben. Sie befand sich jetzt im Wald, aber es hatte sie eine Menge Überwindung gekostet, diesen zu betreten. Würde sie eine Gefangene in ihrem geliebten Heim sein, wenn die Angst sie übermannte.
Jaana ging schnellen Schrittes über den Waldboden. Sie war sich des Weges nicht komplett sicher, aber sie ging davon aus, dass Eik sie aufhalten würde, wenn sie eine falsche Richtung einschlug. Allerdings mussten sie eigentlich nur geradeaus gehen.
Bald war schon das alte Gebäude zu sehen, dass sich dunkel vor dem blühenden Blattwerk erhob. Jaana wurde die letzten Schritte immer schneller und schneller, bis sie beinahe rannte, ein Endspurt, um den Schatten der Bäume zu verlassen.
In dem Moment, als Jaana auf das Anwesen zutrat, ging die Tür auf und eine Frau trat hinaus. Sie blieb stehen, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Wenn sie richtig lag, dann war jene Frau Eiks Mutter, die Älteste der Familie, des Rudels und ebenfalls mit der Fähigkeit gesegnet, ihre Gestalt zu wechseln und sich in einen Wolf zu verwandeln. Dann war das jene Frau, die ihre Wunden nach dem Angriff der Bestie gepflegt hatte und die ihr etwas überreichen wollte, das ihr von Nutzen sein konnte.
Jaana spürte, dass sie erwartet worden war und fühlte sich daher etwas unwohl in der Haut. Was, wenn sie sich dagegen entschieden hätte, mit Eik mitzugehen? Sie fühlte sich mit einem Mal einige Jahre zurückversetzt zu jener Person, die sie gewesen war, unsicher, still und immer mit einem flatternden Herzen, weil sie in jedem Moment erwartete, dass für sie etwas schieflief.
Sie atmete tief durch. Irgendwie spürte sie, dass, wenn es kein Reinfall werden würde, sie sich besser fühlen würde und mehr wie die Person, die sie hätte sein können, wenn ihre Umstände anders gewesen wären, die Person, die im Leben ihr größtes Glück erreicht hatte.
Wenn es nur kein Reinfall werden würde.
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