ᚦ × Im Hause des Wolfes
Jaanas Welt bestand aus unsäglichen Schmerzen.
Sie spürte, dass sie flach atmete und schwitzte und dass sie sich hin- und herbewegte, in der Hoffnung, dass der Schmerz in irgendeiner Position verebbte. Ein Wimmern entfuhr ihr, dann öffnete sie ihre Augen.
Zunächst war ihre Sicht unscharf und schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen. Dann konnte sie etwas in dem halbdunklen Raum erkennen. Da war eine Glühbirne, eingefasst in eine runde Lampe, die ein schwaches, warmes gelbes Licht verströmte. Sie flackerte nicht, sondern leuchtete furchtlos in die Dunkelheit. Jaana wäre ohne diese Lampe mulmig geworden, denn als sie ihren Kopf unter Schmerzen zur Seite wandte, erkannte sie den Raum, in dem sie lag. Das Bett, in dem sie lag, war weich, doch bitterlich kalt. Der Raum schien alt, die Tapete brach von den Wänden, da waren tellergroße Löcher überall, in denen sich Stajb und Spinnweben abgesetzt hatten. Es zog. Da war ein Fenster zu ihrer anderen Seite, das, obwohl geschlossen, klapperte und einen eisigen Luftzug hereinließ.
Jaana hatte keine Angst vor leerstehenden, alten Gebäuden, die aussahen, als würden sie in der nächsten Sekunde in sich zusammenfallen und als würde es in ihnen spuken. Als ihre Mutter, ihr Vater und sie noch zusammengelebt hatten, hatten sie ein altes Anwesen zwischen verdorrten Wiesen bewohnt. Nach einiger Zeit waren die Gräser hellgrün zwischen farbenfrohen Blumen gesprossen und der Ort hatte weniger wie ein Geisterhaus ausgesehen. In der nahen Umgebung standen jedoch noch weitere jener Gebäude, ebenso geschichtsträchtig und sogar noch älter, die Jaana des Öfteren aufgesucht hatte, meist verbotenerweise, manchmal auch beim Spielen und Erkunden mit ihrem Vater. Dennoch konnte sie nicht verhindern, sich ein wenig unwohl zu fühlen. Dies war unbekanntes Gelände.
Eine Gestalt schob sich in Jaanas Blickfeld. Sie kam Jaana bekannt vor, doch das Licht war zu schwach und sie bewegte sich noch im Schatten. Obwohl sie wusste, dass dies Eik war, der in den Raum getreten war, konnte sie nicht anders, als zu zittern beginnen. Erinnerungen an die Bestie übermannten sie und raubten ihr den Sinn für Rationalität, sodass sie erwartete, dass Eik sich im nächsten Moment verwandeln würde, nicht in einen Wolf, sondern in die Bestie, die Jaana dieses Mal endgültig das Leben rauben würde. Aber vielleicht war sie auch schon lange tot und dies war das Hirngespinst einer Toten.
Doch Eik trat näher und er blieb Eik. Er war nicht die Bestie, nicht die Erscheinung aus einer anderen Welt, sondern so sehr Wirklichkeit wie das kalte Laken, das sie mit angespannten Fingern umklammert hielt.
»Wie geht es dir?«, fragte er dann. Eik, ja, das war eindeutig seine Stimme.
Jaana brachte kein Wort hervor. Ihre Antwort schwirrte in ihren Gedanken herum, die Eik allerdings nicht erreichte.
»Gut, dann nutze ich mal den Moment, wenn du nicht reden kannst«, sprach der Junge dann, trat an ihr Bett heran und ließ sich nach einigem Zögern auf der Kante nieder. »Ich weiß, wir hatten möglicherweise nicht den besten Start. Und nach heute werden wir wahrscheinlich auch nichts mehr miteinander zu tun haben, was auch gut so. Du bist die aufdringlichste Person, die ich je getroffen habe. Allerdings möchte ich, dass du weißt, wie dankbar ich dir bin. Was du für Eemeeli getan hast, das...«
Seine Stimme begann zu beben, Sekunden, bevor er sich selbst unterbrach. Er wandte sich ab. Fuhr sich durch die Haare. Atmete tief ein und aus.
Dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ihm etwas passiert wäre.«
Jaanas Blick traf auf den seinen und sie konnte erkennen, wie wichtig ihm es war, dass sie wusste, was Eemeeli ihm bedeutete. Wie sehr er ihre Taten schätzte. Sie lächelte schwach.
Als ihr etwas einfiel, konzentrierte sie sich auf einen anderen Teil ihres Körpers. Sie fühlte sich langsam nicht mehr ganz so gelähmt, doch noch immer bereitete ihr jede Bewegung Schmerzen und so hob sie die Hand nur ganz wenig an, sodass sie einige Zentimeter über dem Laken schwebte.
Fragend blickte Eik ihre Hand an und er legte seinen Kopf schief, als wäre er nicht sicher, was er nun tun sollte. Dann jedoch ergriff er sie. Was es war, wusste Jaana selbst nicht. Sie hatte aus einem Impuls heraus gehandelt. Da die beiden sich bisher nicht einander vorgestellt hatten und die jeweiligen Namen über Eemeeli erfahren hatten, fand Jaana, dass es zumindest einmal notwendig war, ihm lächelnd die Hand zu schütteln. Doch dahinter steckte noch mehr, eine verborgene Botschaft.
Eine Art Waffenstillstand, der sich nun kaum merklich geformt hatte. Vielleicht würde er sich nicht lange anhalten, aber für den Moment war er genug.
Sie realisierte, dass es tatsächlich einen gemeinsamen, mächtigen Feind gebraucht hatte, um sich mit den Werwölfen zu verstehen. Sie hätte leise aufgelacht, wenn sie es gekonnt hätte.
»Ich bin übrigens Eik«, sprach der Junge amüsiert. Sein Mundwinkel zuckte. »Ich habe dich gehasst, obwohl ich dich eigentlich gar nicht kannte. Du hast mir sehr viel Ärger und schlaflose Nächte bereitet.«
Jaana blinzelte. Ich weiß. Bei ihr war es ja genauso gewesen.
»Aber nach dem heutigen Tag... wie könnte ich dich da noch hassen?«
Der Moment wurde unterbrochen von der Tür zum Zimmer, die aufgestoßen wurde und protestierend knarrte. Schwerfällig und vor Schmerzen stöhnend drehte Jaana ihren Kopf zur anderen Seite.
Eeemeeli stand im Türrahmen, in einer Hand hielt er ihren Rucksack. Sie spürte, wie Eik seine Hand ruckartig aus der ihren zog. Er hinterließ nichts als einen Windhauch, der kühl über ihre Haut streifte. Sie griff mit ihren Fingern in die Luft, als könnte sie aus ihr seine Hand formen und diese erneut halten, nur damit etwas von der nun verwehrten Wärme zu ihr gelangte.
»Hey«, sagte Eemeeli statt dem, was er ursprünglich hatte sagen wollen, als er bemerkte, dass Jaana wach war. Sie wollte den Gruß erwidern, aber Schmerzen und Wunden hinderten sie noch immer daran.
»Ich habe hier deinen Rucksack. Er ist soweit getrocknet. Was die Bücher angeht... denen hat der Schnee nicht ganz so gut getan«, meinte er und hielt besagten Rucksack hoch. Jaana sorgte sich nicht groß um die Bücher. Zwar waren es Schulbücher und wenn sie einem Schaden zufügte, würde sie dafür aufkommenen, doch sie waren eingeschlagen gewesen und sie vermutete, dass es sich nur um klamme, gewellte Seiten handelte. Nichts, was großartig dramatisch wäre. Und selbst wenn es so war. Dann würde sie es halt ersetzen.
Unschlüssig stand der Junge noch immer in der Tür, stellte nach einer Zeit wenigstens den Rucksack ab. Jaana bemerkte, wie er von einem Bein auf das andere trat, nicht, weil sie es sehen konnte - die Bettkante war im Weg - sondern weil sie seine Unruhe spürte, sie verbreitete sich im Raum und warf ein Echo von einer Wand zur anderen, sodass jeder sie mitbekam. Jaana konnte es ihm nicht verübeln.
Wie begegnete man jemandem, der beinahe gestorben war bei dem Versuch, einen zu retten? Vor allem dann, wenn sie zuvor annähernd verfeindet gewesen waren.
Zögerlich trat Eemeeli näher an das Bett heran, blieb aber dennoch mit Abstand stehen. Jaana dachte daran, wie sie den Jungen in der Schule getroffen und zur Rede gestellt hatte. An diesem Tag war er selbstbewusst durch die Gänge spaziert. Jetzt jedoch schien er um Worte verlegen.
»In deinem Rucksack«, sagte er dann und deutete belustigt auf das Wolfsfell, das um seine Hüfte hing. Es sah beinahe aus wie ein Rock, doch Jaana konnte sich gut vorstellen, dass es die Beine gut wärmte. Da war es nur unglücklich, dass man das unter Menschen nicht machen konnten. Aber Jaana besaß ja sowieso kein Fell, war kein Werwolf, von daher schob sie diesen Gedanken beiseite. »Du hattest es die ganze Zeit in deinem Rucksack. Und ich habe noch den ganzen Hof danach abgesucht, als ihr nicht da wart.«
Wann war Eemeeli denn auf Hankos Hof gewesen? Jaana hatte gedacht, dass der Junge nicht noch einen Versuch wagen würde, heimlich auf den Hof zu gelangen. Schon gar nicht ohne sein Fell.
Jaana konnte ihm ansehen, dass das nicht das war, was er ihr eigentlich hatte sagen wollen. Dafür atmete er zu bewusst tief ein und aus.
»Meinetwegen hast du so viel Unglück...«, murmelte Eemeeli deprimiert und stellte sich an das Bettende. »Ich wünschte, ich könnte es in irgendeiner Weise wiedergutmachen.«
Jaana wollte heftig den Kopf schütteln, doch dies misslang ihr. Stattdessen sah sie wieder schwarze Flecken vor Augen. Es war nicht so, dass Eemeelis Aussage falsch war. Er war derjenige, der ihren Vater gebissen hatte, der in ihre Blase aus Sicherheit in der Schule eingedrungen war, der ihr gemeinsam mit Eik auf dem Schulweg aufgelauert hatte.
Er hatte ihr in der Tat viel Unglück gebracht. Aber der Junge sah so niedergeschlagen und enttäuscht von sich selbst aus, dass Jaana ihm im Augenblick nicht böse sein konnte.
Vielleicht später. Vielleicht würde dann der Zorn sie überwältigen, vielleicht würde sie irgendwann die Gelegenheit erhalten, Rache zu nehmen und ihm dasselbe zuzufügen. Vielleicht würde sie diese Gelegenheit sogar ergreifen. Doch dieser Tag war noch nicht gekommen. Nicht heute. Und auch nicht morgen.
Jetzt, bevor sie sich auf irgendeine Vergeltung fokussieren konnte, spürte sie ihren Kopf wieder schwer werden. Sie wollte nicht ausschließen, dass er sich die ganze Zeit so angefühlt hatte, doch die beiden Wolfsbrüder hatten Ablenkung verschafft, sodass sie diesen hatte ignorieren können.
Es fiel ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten und sie spürte, wie Müdigkeit und Schmerzen sie wieder übermannten. Dabei war da noch so viel, was sie den beiden hatte sagen wollte oder Fragen, die sie hatte stellen wollen.
Wir reden morgen mal darüber.
Wie spät ist es?
Warum seid ihr überhaupt hinter dem Runenstein hinterher? Wozu braucht ihr ihn?
Weiß mein Vater, wo ich bin? Nicht, dass er sich Sorgen machte, wenn es ihr doch gut ging und sie in Sicherheit war. Aber war dem überhaupt so?
Kann ich euch vertrauen?
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