ᚢ × Angriff der Bestie
Jaana umklammerte den Riemen ihres Rucksacks fester, mit jedem Schritt, den sie tat, wurde sie ein wenig langsamer. Was hatte sie nur geritten, heute doch zur Schule zu gehen?
Ihr Vater hatte ihr für Donnerstag und Freitag eine Entschuldigung geschrieben und Jaana hatte sie gestern dankend angenommen. Noch immer war sie davon ausgegangen, dass von Eemeeli und Eik Gefahr drohte. Doch dass die beiden den Mord begangen hatten, glaubte sie nicht. Dafür hatten sie zu ungläubig, zu überrascht reagiert. So kam es also, dass sie sich entschlossen hatte, doch noch zur Schule zu gehen. Ihr war nicht sonderlich wohl bei der Tatsache, ihren Vater und Hanko alleine zu lassen und den Weg durch den Wald nahm sie auch nur ungern auf sich. Allerdings strahlte ihr die Schule entgegen wie der sicherste Ort aller Zeiten, als sie näherkam. Niemand würde sie dort angreifen, nicht wenn so viele Menschen auf einem Haufen waren. Außerdem würde dort Eemeeli sein. Es war nicht so, dass sie dem Jungen vertraute oder glaubte, er würde sie beschützen, aber sie wusste, dass er nett sein konnte, wenn er wollte, und sie wusste, wozu er fähig war. Er war der Verursacher der Wunde ihres Vaters. Zwar hatte er sein Wolfsfell nicht bei sich, aber Jaana hatte es noch immer in ihrem Rucksack verstaut, verdeckt von den Schulbüchern und Mappen, die sie mit sich herumtrug.
Dies bedeutete allerdings auch, dass sie sich dem stellen musste, was sie dort erwartete. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Schüler sich nicht mehr über Kjartan Sjöbergs Tochter das Maul zerrissen, war ziemlich gering. Sie nahm es in Kauf. Sie müsste nicht lange aushalten, dann war Wochenende und sie hatte wieder ihre Ruhe.
Jaana war gerade an jener Kreuzung der Waldwege angekommen, wo ein Abbiegen nach links geradewegs zu der steinernen Schule führen würde, als ein langgezogenes Heulen die Stille des Waldes durchriss. Es klang verletzlich, warnend und war so von Angst durchzogen, dass sie nicht lange überlegte und sich nach rechts wandte.
Jede Faser ihres Körpers schrie, dass sie nur der Gefahr entgegenrannte, doch da war ihr verräterisches Herz in ihrer Brust, das ihr erzählte, dass sie das Richtige tat. Es schien wie vorherbestimmt, dass sie den Weg durch das Unterholz fand und dem Heulen folgte, als würde ein innerer Instinkt sie führen.
Sie sah die Umgebung wie sprintende Geparden an sich vorbeisausen, spürte den Gegenwind, der an ihren Haaren und Klamotten zerrte und lauschte nur noch dem Blut, das in ihren Ohren rauschte und ihren Füßen, die auf den Boden trafen und den Schnee knirschen ließen. Frei, so frei, wie sie sich fühlte, merkte sie erst nach einiger Zeit, dass das Geräusch von laufenden Schritten anders als zuvor erklang. Neben ihr lief noch ein weiteres Paar Beine und als Jaana ihre zur Hälfte geschlossenen Augen öffnete und den Kopf zur Seite drehte, erkannte sie Eik, der sie im nächsten Moment überholte. Federleicht waren seine Schritte, als er vor ihr rannte und für Jaana schien es ein wenig so, als würde er über den Boden fliegen statt rennen.
Jaana konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie lange sie so gerannt waren, doch irgendwann hielten sie an, gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen. Das Heulen hatte sie geführt und obwohl es lange verhallt war, wussten sie, wo sie hinmussten.
Beide starrten für einen Herzschlag auf die Lichtung vor ihnen.
Das, was sich da auf der Lichtung abspielte.
Was da war.
Eine große, gebückte Gestalt stand über einen zusammengerollten Körper gebeugt uns griff mit langen schwarzen Klauen nach diesem. Obwohl sie aufrecht stand und die Gliedmaßen wie Arme und Beine anmuteten, hatte die Kreatur nichts Menschliches an sich.
»Glaubst du mir jetzt?«, fragte Jaana leise. Sie war mit einem Mal wie starr vor Schreck.
»Eemeeli«, entfuhr es Eik statt einer Antwort, dann war er auch schon losgestürmt. Noch während er die Lichtung betrat, beförderte er ein Wolfsfell hervor. Es musste sein eigenes sein, denn es war von jenem rötlichen Braun wie auch seine Haare und er hatte es von irgendwo, wo Jaana es nicht gesehen hatte, zutage befördert. Mit nur einer einzigen Handbewegung warf er es sich über wie eine Decke und im nächsten Moment sprang ein großer Wolf durch den Schnee auf Eemeeli und das Wesen zu, der sich zwischen den Jungen und die Bestie stellte.
Die Gestalt richtete sich auf und Jaana konnte in die Augen der Bestie sehen. Sie leuchteten ihr tiefschwarz entgegen, selbst jeder Sonnenstrahl schien ihnen auszuweichen. Mit einer einzigen Bewegung seiner langen Arme fegte es Eik beiseite, der leise jaulend im Schnee landete. Beinahe sofort rappelte er sich wieder auf, schüttelte sein Haupt, dann rannte er wieder los und Jaana erkannte den eisernen Durchhaltewillen des Wolfes. Er würde sich immer und immer wieder zwischen die Bestie und Eemeeli stellen.
Das war der Moment, in dem auch Jaana sich aus ihrer Starre lösen konnte. Sie ging einige Schritte vorwärts, stolperte mehr durch den Schnee als dass sie ging. Währenddessen riss sie sich den Rucksack von den Schultern und riss den Reisßverschluss auf. Als sie mit ihren Händen hineintastete, konnte sie nur an die schweren, dicken Bücher gelangen, die einen Großteil des Rucksacks ausfüllten. Jaana fluchte und entschied sich kurzerhand dafür, die eingeschlagenen Bücher hinauszureißen und achtlos in den Schnee zu werfen.
Es dauerte gefühlt viel zu lange, die Bücher und Hefte herauszuziehen und Jaana spürte und sah, dass ihre Arme zitterten. Ihr Fokus war auf ihren Rucksack gerichtet und so konnte sie nicht beobachten, was die Kreatur in jenem Moment tat. Zwar hatte sie zu Beginn den einen oder anderen schnellen Blick hochgeworfen und dann erleichtert wahrgenommen, dass die Kreatur noch genau so weit von ihr entfernt war wie zuvor - sie war mit Eik beschäftigt, der sich vor seinem Bruder aufgerichtet hatte, seine Augen funkelten und zeigten, dass er sich auf den nächsten Angriff gefasst machte.
Dann stießen ihre Finger gegen etwas Weiches. Sofort griff sie danach und zog es hervor. Unter dem Gewicht der Bücher hatte es ein wenig gelitten, doch sie war sich mittlerweile sicher, dass nichts diesem Fell ernsthaften Schaden zufügen konnte.
Jaana ließ nun auch ihren Rucksack in den Schnee fallen und umschloss das Wolfsfell in ihren Händen noch ein wenig fester. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und rannte dann auf die Bestie zu. Je näher sie kam, desto mehr erkannte sie, dass der Wolf am Ende seiner Kräfte war. Also handelte Jaana. Sie holte weit aus und ließ ihre Arme dann nach vorne schwingen, löste dabei den Griff um das Fell in ihren Händen. Sie war nie die große Sportlerin gewesen, nichts außer ausdaurnd laufen lag ihr und statt im Handball-, Fußball oder Hockeyteam gewesen zu sein, hatte sie lieber die Schach-AG besucht. Werfen lag ihr nicht.
Vielleicht war es das Adrenalin, was flammend durch ihren Körper fuhr, das ihren Wurf einen Treffer werden ließ. Das Fell drehte sich um sich selbst, war ein dunkler Fleck vor dem weißen Morgenhimmel und landete zu Eemeelis Händen. Dieser schien im ersten Moment gar nicht zu bemerken, was da nun vor ihm lag, doch langsam kam er aus der zusammengekauerten Position hoch und sah sich um. Jaana wünschte sich, sie könnte ihm die Angst nehmen, die sie klar und deutlich in seinen Augen erkennen konnte, doch selbst wenn sie es könnte, ihr fehlte gerade die Zeit. Die Bestie war auf sie aufmerksam geworden.
Eemeeli hatte sich so schnell verwandelt, dass Jaana der Verwandlung wieder nicht richtig hatte zusehen können. Warum kam ihr überhaupt gerade dieser Gedanke? Sie schalt sich dafür. Es gab Wichtigeres und dies war so ziemlich das Letzte, um das sie sich Sorgen machen musste.
»Lauft!«, rief sie, »Lauft weg!« Sie ging zwei Schritte, drei. Stolperte, weil der Schnee doch noch höher lag als gedacht.
Während sie fiel, dachte sie noch darüber nach, wie absurd diese Situation doch war. Wölfe hatten ihren Vater angegriffen, verletzt, sie hatten Jaana bedroht, ihr Leben auf den Kopf gestellt und nun half sie ihnen, versuchte, ihnen Zeit zu verschaffen, damit sie weglaufen konnten.
Sie beschloss, dass es nun zu spät war. Aufstehen und wegrennen würde nichts mehr werden, dafür war die Bestie zu nah dran, zu schnell. Als der lange Arm schon erhoben war und die langen Klauen vor dem Himmel glänzten, wollte Jaana die Augen schließen. Sie wollte es nicht mitbekommen, vielleicht ein Stoßgebet an die Götter schicken und sie wollte auch nicht sehen, dass da niemand war, der sich zwischen die Bestie und sie stellte. Doch sie konnte es nicht. Sie konnte dem Tod nicht so gelassen entgegen sehen, wie sie es gerne gehabt, nicht so furchtlos, wie ihr Vater es getan hätte.
Jaana sah die Klauen hinuntersausen, hörte sich schreien, dann explodierte der Schmerz in ihrem Oberkörper. Wie offenes Feuer breitete er sich aus und sie fühlte sich, als würde sie in Flammen stehen.
Mit einem Mal waren ihre Gedanken wie benebelt, alles woran sie denken konnte, alles, was sie wahrnahm, waren die brennenden Schmerzen, die sich ihrer ermächtigt hatten. Die langen Wunden pulsierten heiß und nicht einmal der kühle Schnee um sie herum konnte Linderung bringen. Da war nichts, was ihr helfen könnte.
Jaana musste nicht an sich hinabsehen, - sie war auch gar nicht dazu in der Lage, ihren Kopf zu heben - um zu wissen, dass dort Blut rausströmte und dass die Wunden ähnlich aussehen musste wie die, die der Mann am Wegesrand gehabt hatte, lang und klaffend.
Würde sie sterben wie er? Jaana wollte ihren Kopf zur Seite wenden, um zu gucken, ob Eik und Eemeeli noch da waren, doch ihr fehlte die Kraft. Würde ihr Vater davon erfahren, wenn sie hier und jetzt starb? Was sie getan hatte? Sie spürte, wie eine heiße Träne sich in ihren Augen sammelte und den Weg über ihre Wange fand, bis sie in den Schnee fiel. Sie konnte nicht anders, doch sie versuchte auch nicht, sie zurückzuhalten. Nicht länger waren es ihre Wunden, die ihr Schmerzen bereiteten, sondern ihre Seele, die schrie, weil sie diese Gedanken nicht mehr aushalten konnte.
Dann, als Jaana spürte, wie ihr weitere Tränen über das Gesicht rannen, obsiegten die Schmerzen über ihren Verstand und ein Schleier aus Dunkelheit legte sich über sie wie ein Fellüberwurf, der sie jedoch nicht in diejenige verwandeln würde, die sie wirklich war, sondern der ihr das Bewusstsein raubte.
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