ᚠ × Sich seiner Angst stellen
Jaana hielt ihren Eistee in leicht zitternden Händen und sie versuchte, das zu vertuschen, indem sie schnell einige Schlucke trank. Danach würde die Flüssigkeit in dem Glas wohl nicht mehr Gefahr laufen, über den Rand zu treten.
Sie saß neben ihrem Vater auf dem Sofa, gegenüber von ihnen in dem durchgesessenen, ausgeblichenen Sessel war Hanko, der ihnen erzählte, was passiert war. Dieser war nach etwas über drei Stunden zurückgekehrt und weder Jaana noch Kjartan hatten ein Auge zumachen können, auch wenn es schon weit nach Mitternacht war und die Sonne bald wieder aufgehen würde. Jetzt verfärbte sich der Horizont langsam, aber für Jaana war immer noch nicht an Schlaf zu denken. Sie wusste auch nicht, ob sie jemals wieder ihre Augen schließen können würde, ohne dass die Bestie sie sofort in ihren Gedanken heimsuchte.
»Das ist dann schon der dritte Tote, meinten die Reporter, die da waren«, sagte Hanko gerade. »Langsam wird die Lage ernst.«
Jaana zwang sich, ruhig zu bleiben. Der dritte? Es war nicht so, als hätte Vargöldfjell so viele Einwohner und drei Leute fielen mehr ins Gewicht, als sie es in einer Großstadt getan hätten. Vor allem machte ihr die Tatsache Angst, dass zumindest zwei dieser drei Morde in ihrer unmittelbaren Nähe geschehen waren. Sie wollte wieder nach Hause, an das rote Haus am See. Dies lag zwar auch mitten im Wald, allerdings war es ihr Zuhause, dort würde sie sich sicherer fühlen als auf diesem Hof, dessen Auffahrt jeder entlanggehen konnte.
»War die Polizei vor Ort?«, meldete Jaana sich zu Wort.
Hanko nickte. »Ich weiß nur noch nicht, ob sie den Ernst der Lage verstanden haben. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass dies nicht die zweite Leiche ist. Sie wirkten besorgt, aber sie haben sich Zeit gelassen bei der Spurensicherung und haben mir nur versichert, dass sie die Patrouillen erhöhen wollten.«
Ungesagt hingen seine weiteren Gedanken in der Luft. Eigentlich müsste die Polizei mit viel mehr Geschützen auffahren und nicht auf eine oder zwei Streifen mehr fahren, sondern dauerhaft im Einsatz zu sein. Schließlich schwebte ganz Vargöldfjell in Gefahr.
Jaana und ihr Vater tauschten einen kurzen Blick aus. Noch waren sie die einzigen, die von der Bestie wussten, oder? Es musste so sein. Sonst hätte es schon eine Eilmeldung an die Vargöldfjeller gegeben und auch das leise im Hintergrund laufende Radio würde von nichts anderem mehr berichten. Also kannten sie die Gefahr noch nicht. Konnten nicht entsprechend reagieren. Wussten nicht, dass die Polizei wahrscheinlich nichts gegen die Bestie ausrichten konnte.
»Hat das Ganze wenigstens den Vorteil, dass der Runenstein in Ruhe gelassen wird?«, fragte Jaana und dachte erst danach darüber nach, dass sie vielleicht offiziell gar nicht von Hankos Entscheidung zwischen seinem Hof und dem Runenstein wissen sollte.
»Hoffen wir's«, sagte Kjartan mit verschränkten Armen. »Die Stadt wird wohl nicht den Transport des Steins riskieren, wenn die Bestie unterwegs auftauchen und das ganze Unternehmen gefährden könnte.«
»Da könntest du Recht haben«, stimmte Hanko zu. »Ich versuche, dir so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, mein Freund, aber du kennst meine Entscheidung, sollte es hart auf hart kommen.«
»Ja, ich weiß. Und ich weiß das zu schätzen und zu respektieren.«
Jaana gefiel die Enthüllung, dass Hanko versuchen wollte, den Stein so lange wie möglich zu behalten. Es würde heißen, dass ihr Vater noch ein wenig forschen konnte. Es würde auch heißen, dass sie ihre Idee in eine Tat umsetzen konnte. Der Stein musste vom Hof verschwinden, dessen war sie sich sicher, um die Sicherheit ihres Vaters und seines Freundes zu gewährleisten. Und war es an dieser Stelle nicht einfach sehr praktisch, dass der zweite Teil ihres Handels mit den Werwölfen genau dies beinhaltete?
In diesem Moment hörte sie ihr Handy leicht brummen. Jaana entschuldigte sich und stand auf.
Während sie in das in das Nachbarzimmer ging, blickte sie auf das Display. Es war nicht ihre Mutter, wie sie zunächst gedacht hatte. Natürlich war sie es nicht, denn heute war Sonntag und ihre Mutter und sie hatten zwei feste Tage, an denen sie telefonierten, und das war Mittwochs und Samstags. Allerdings wurde Jaana in diesem Moment bewusst, dass sie sich die ganze Woche schon nicht bei ihrer Mutter gemeldet hatte, die in der Stadt am Fuß der Berge wohnte.
Die Nummer, die anrief, kannte sie nicht und für einen Moment überlegte sie, den Anrufer einfach wegzudrücken. Doch das konnte sie nicht. Sie musste sich an den Tag vor einigen Jahren erinnern, als ihr Vater auf eine Forschungsreise aufgebrochen war und sie zurückgelassen hatte. Er hatte sein Handy verloren und Jaana hatte ihm die Nummer des Forschungslabors, des Gemeindeoberhaupts, dem die Entdeckung in der Höhle gehören würde, und des Flugbüros heraussuchen müssen, damit er seine Forschung zu Ende bringen und nach Hause zurückkehren konnte. Nur ihre Nummer, die hatte er gewusst, und deswegen war sie diejenige gewesen, die er angerufen hatte, die einzige, die er hatte anrufen können. Daher entschied sie, dass sie den Anruf annehmen musste.
Sie trat ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Das Zimmer, das sie betreten hatte, war das Arbeitszimmer des Hofes und die verschiedensten Unterlagen lagen auf einem breiten Schreibtisch verteilt. In den Regalen an der Wand reihten sich dunkelgraue Ordner dicht aneinander und wenn Jaana aus dem Fenster sah, konnte sie die beiden großen Weiden sehen, die den dünnen Pfad säumten, der zum Hof führte. Und am Ende des Pfades, hinter den Bäumen und Feldern, konnte sie die Strahlen der aufgehenden Sonne sehen, die sich durch hohe Gräser und das Unterholz streckten. Ehe sie sich weiter umsehen konnte, hatte sie ihr Handy ans Ohr gehalten.
»Hallo?«, sprach sie in die Leere des Raumes hinein.
»Jaana, hi.« Es dauerte einen Moment, bis Jaana diese Stimme zuordnen konnte, unter anderem auch deswegen, weil sie nie erwartet hätte, dass ausgerechnet er sie anrief.
»Woher hast du meine Nummer, Eik?«, fragte sie.
Am anderen Ende des Gesprächs herrschte kurz Stille. »Von Harald. Ich wusste, dass er in deine Klasse geht und sein Bruder ist damals mit mir in einer Klasse gewesen.«
Na toll, dachte Jaana sich. Darüber würde sie mit Harald noch einmal sprechen müssen. Und dann dachte sie noch: Warum war sie Eik früher nie begegnet? Sie war doch schon ein paar Male bei Harald zu Hause gewesen und sein Bruder hatte sich auch oft an die Tischgruppe gesetzt, an der sie für gewöhnlich gemeinsam mit Thyra und Astrid saßen.
»Was gibt's?«, wollte sie wissen und wollte ihre Worte im nächsten Moment am liebsten zurücknehmen. Sie hatten sehr unterkühlt und harsch geklungen, daher setzte sie noch hinterher: »Geht es euch gut? War die Bestie bei euch in der Nähe oder woanders?«
»Uns geht's gut. Der Mord war zum Glück etwas von unserem Haus entfernt.«
»Und was ist mit der Bestie?« Obwohl es bisher keinen richtigen Namen für sie gegeben hatte, jetzt fand Jaana diesen Namen mehr als nur passend. »Hast du gesehen, wohin sie gelaufen ist?«
»Wieso, willst du ihr folgen und sie im Schlaf töten?« Sie hörte ihn laut durch die Nase ausatmen, vielleicht ein kleines Lächeln?
»Nein, aber ich möchte wissen, wo sie sich hin zurückzieht. Ob das hier in der Nähe ist. Und dann kann ich mir immer noch überlegen, was ich tu.«
»Warum so draufgängerisch? Deine letzte Begegnung mit der Bestie hätte dich fast das Leben gekostet.«
»Ich...«, fing Jaana an, dann stockte sie. Das wusste sie selbst nicht richtig und wenn sie nur an die große, schattenhafte Gestalt dachte, überlief sie ein kalter Schauer. Aber sie war Jaana Sjöberg, Tochter des großen Forschers und selbsternannte Abenteurerin, und daher... »ich muss mich meiner Angst stellen.«
Und außerdem... sie wollte nicht, dass ihr Vater noch weiterhin in Gefahr schwebte. Sie konnte sich nie sicher sein, ob sich die Wölfe an die Abmachung halten würden und solange eine Bestie frei herumlief... sie kannte ihren Vater. Selbst mit einem verletzten Bein würde er dieser noch nachforschen wollen. In dieser Hinsicht war er genau wie sie. Daher musste sie das einfach tun. Für ihn und für sich selbst. Für ganz Vargöldfjell und die Heimat, die sie dort gefunden hatte.
»Dann komm vorbei. Wir können zusammen los.«
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