ᚠ × Der Runenstein
Aufgeregt sprang Jaana vom Beifahrersitz des Pick-ups und landete auf dem weichen, von Schnee bedeckten Waldboden. Ihr Blick streifte über die Lärchen, deren mächtige Baumkronen sich bis in den unendlichen Himmel erhoben. Auf einigen der Äste hockten kleine Vögel, die sich gegen die klirrende Kälte, die schon seit zwei Tagen herrschte, aufgeplustert hatten und leise zwitscherten. Der Geruch von nasser Erde erfüllte die Luft und Jaana schloss ihre Augen. Sie atmete tief ein, um den Geruch in sich aufzunehmen, den Geruch des Waldes, den Geruch von unendlicher Freiheit und stellte sich vor, dass sie durch den Wald rannte, während die Bäume weißen Geparden gleich an ihr vorbeijagten.
»Jaana«, rief ihr Vater sie, »kommst du?« Der Forscher stand neben dem Auto und hatte seinen Rucksack bereits geschultert. Er war bereit und in seinen Augen leuchtete ebenjene Vorfreude, die Jaana nun wieder überfiel. Sie wandte sich von den Bäumen ab und hüpfte über den knirschenden Schnee zu ihrem Vater. Dann folgten die beiden der schmalen Auffahrt zu der Scheune mit dem schwarzen Dach, die neben einer roten Hütte stand. Aus jener trat soeben der Landwirt Hanko heraus, der Kjartan Sjöberg und seine Tochter sofort erblickte.
»Herr Sjöberg, was für ein besonderer Tag, was für eine Ehre!«, rief Hanko und schüttelte ihrem Vater die Hand, während Jaana sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Der Landwirt und ihr Vater waren gemeinsam zur Schule gegangen und langjährige Freunde. Seit dem Erfolg ihres Vaters und einiger Zeit, in der sich die beiden Freunde nicht gesehen hatten, machte sich Hanko einen Spaß daraus, sich wie ein übereifriger Reporter aufzuführen, der sich um ein Interview mit dem bekannten Forscher riss.
Kjartan Sjöberg war heute aber zu aufgeregt, als dass er sich groß daran stören würde. Im Gegenteil! Er hob das Kinn in die Höhe und blickte auf den Kleineren hinunter. Für zwei Sekunden hielten sie die Szene, dann brachen beide in Gelächter aus. Bevor sie sich auf den Weg in die Scheune machten, kam Hanko noch einmal auf Jaana zu und drückte sie so fest, dass ihr schwindlig wurde. Aber das war bei ihm schon immer so gewesen und Jaana grinste ihn glücklich an.
Dann führte Hanko die beiden in die Scheune, wo ein wildes Durcheinander auf sie wartete. Einer der Dachbalken lag gesplittert in der Mitte der Tenne, rote Ziegelsteine waren verstreut und dann war da noch der riesige Stein, der in einem Meer aus Spitzhacken und weiteren Steinen schwamm. Er lag auf der Seite und so konnte man seine Größe nur erahnen, doch Jaana wusste, dass er mit Leichtigkeit so hoch war wie sie selbst. Doch selbst seine Breite war immens, er reichte ihr bis zum Oberschenkel.
Doch was noch viel interessanter war als die Größe des Findlings, waren die feinen Striche auf dessen Seite. Da waren Runen eingeritzt und mit roter Farbe nachgezogen worden, Farbe, die zwar im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte verblasst war, doch noch immer die Runen deutlich hervorhob, sodass jemand sie entziffern können würde. Dieser Jemand, das war ihr Vater, bekannter Forscher und Linguist. Er würde herausfinden, was auf diesem Stein geschrieben stand!
Der Forscher murmelte etwas vor sich hin und kniete sich dann vor den Stein hin, um diesen genauer zu betrachten und mit einer Hand andenklich darüber zu fahren. »Der dürfte über 1000 Jahre alt sein«, befand er nach einiger Zeit und reichte Jaana eine Kamera. Wie bei jeder seiner Untersuchungen schoss sie ein Foto davon, wie er neben dem Stein positionierte, ehe er sich seinem Rucksack zuwandte und sie den Stein von allen Seiten fotografieren konnte. Je öfter sie dabei um diesen herumging und das gesamte Runenbild sehen konnte, desto mehr überfiel sie ein Gefühl von Nachhausekommen, von Gemeinschaft und von Trauer, von unendlichem Leiden. Sie trat zwei Schritte zurück und bemerkte erleichtert, dass ihr Vater und Hanko anderweitig beschäftigt waren.
Jaana spürte ihr Blut noch rauschen und hörte ihr eigenes Herz noch immer schnell schlagen. Sie fühlte sich, als wäre sie gerannt, nur dass sie sonst nicht einmal einen schnellen Atem hatte.
»Wir werden ihn aufrichten lassen«, sagte ihr Vater, der neben sie getreten war. Jaana kniff ihre Augen zusammen und nahm zwei tiefe Atemzüge, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. Mit nur minimalen Erfolg wandte sie sich ihrem Vater zu. »Das ist großartig«, meinte sie dann, »dann kommt man besser an die Runen heran.«
»Das wird sich aber noch ein wenig gedulden müssen«, unterbrach Hanko sie. »Bevor ich jemanden gefunden habe, der das für mich macht, der zusätzlich auch kein Wort darüber verlieren wird, kann das noch einige Tage dauern.« Jaana fragte sich, was denn so schlimm daran wäre, dass jemand ein Wort darüber verlöre. Früher oder später würde sowieso alle Welt den Runenstein kennen. Dann jedoch verstand sie. Er wollte derjenige sein, der von dem Fund in seiner Scheune erzählte und er machte es somit Kjartan leichter, die Runen in Ruhe zu entschlüsseln, bevor die Reporter sich um den Fundort drängten.
»Hey, das könnte interessant werden«, rief Jaanas Vater da aus, der den Stein noch einmal aus der Nähe betrachtet hatte. »Seht euch das an!« Er bedeutete den beiden, näher zu treten und zeigte auf die Rückseite des Steines oder besser gesagt das, was wohl auf jener Fläche zu sehen war, auf der der Stein lag. Musterungen, Linien, die nur auf jener Seite zu finden waren, doch ein wenig über die Kante ragte und auf der zur Scheunenwand zeigenden Seite zu sehen war. »Krallenspuren?«, fragte Hanko, doch eigentlich war keine Antwort vonnöten. Die eigentliche Frage war doch, von welchem Tier die Krallenspuren stammten und warum sie da waren.
Jaana wusste, dass dies ein Mysterium war, das ihr Vater in nicht ganz so ferner Zukunft lösen würde, dennoch hoffte sie, dass er nicht allzu bald herausfand. Während sie diesem Gedanken nachsann, wurde es Zeit für sie zu gehen. In einer halben Stunde würde die Turmuhr läuten und den Beginn des Schultages einleiten. Sie seufzte. So war es die Absprache gewesen. Sie hatte zu dem Fundort mitkommen dürfen, noch an jenem Morgen, nachdem Hanko sie benachrichtigen hatte, unter der Bedingung, dass sie rechtzeitig zur Schule ginge. Manchmal nahm ihr Papa sie auf Forschungsreisen mit, bei denen sein Expertenwissen gefragt war, und Jaana hatte ihn selbstverständlich begleitet. Dann hatte sie natürlich in der Schule gefehlt, aber da der Fund diesmal derart lokal war, hatte sie keine andere Wahl, als hinzugehen.
»Wehe euch, ihr macht ohne mich weiter«, sagte sie zum Abschied, schnappte sich ihre Schultasche und verließ die Scheune. Neben dem Gefühl, dass sie etwas Spannendes verpassen würde, mischte sich kaum merkliche Erleichterung. Es überlief sie immer eiskalt, wenn sie sich Gegenstände aus vergangenen Jahrhunderten ansah. Dieses Mal war ihr heiß und kalt zugleich geworden, neben dem wohltuenden Gefühl, etwas von ihren Vorfahren zu bergen, hatte sich da auch noch eine Angst breitgemacht. Angst, dass dieser Stein an sie adressiert sein könnte. Das war natürlich Schwachsinn, aber aufregender Schwachsinn, und es würde erklären, warum sie sich so anders fühlte als sonst.
Als Jaana in der Schule ankam, war es noch recht leer. Auf dem Schulhof standen nur wenige Grüppchen und sie wusste, dass es im Inneren der Schule nicht anders aussah. Sie ging über den riesigen Burghof und durch das steinerne Eingangstor, dann zwei Wendeltreppen empor und setzte sich, in ihrem Klassenraum angekommen, auf ihren Platz in der zweiten Reihe.
Obwohl die Schule in ehemaligem Burggemäuer errichtet worden war und es auch nach mehreren Versuchen, die Wände zu isolieren, kalt durch die Räume zog, fror Jaana nicht.
Bisher saßen erst fünf Leute in dem Klassenraum, Jaana eingeschlossen. Um zwanzig vor erklangen dann Schritte und Geplapper auf dem Gang und es strömte eine große Gruppe an Schülern in den geräumigen Raum. Seufzend zog Jaana ihre Federtasche und das Heft aus ihrem Rucksack. Immer wenn die Busfahrer kamen, bedeutete das für sie, dass es mit der Ruhe vorbei war.
»Morgen«, murmelte sie dann halbherzig, als Astrid sich auf den Platz neben sie setzte.
Das Mädchen mit den hellen Haaren begann, sich die Jacke auszuziehen. »Guten Morgen«, erwiderte sie leise lachend, »hast du wieder die Nacht durchgemacht?«
»Ha, ha«, machte Jaana trocken. »Ich bin um halb fünf aufgestanden.« Die Tatsache, dass sie heute derart früh aufgestanden war, hatte sie nicht gestört. Es hatte bedeutet, dass sie und ihr Vater die Ersten sein durften, die den Runenstein zu Gesicht bekamen. Es gab nun einmal einige Dinge, für die man gerne auf seinen Schlaf verzichtete. Jetzt jedoch, beinahe drei Stunden später, wo die Aufregung ein wenig abgeflaut war, machte sich der wenige Schlaf bemerkbar.
Astrid schüttelte sich. »Wieso das denn?«
»Mein Vater hat ein neues Projekt«, antwortete sie, »Ich habe ihn begleitet.«
Ein Stuhl wurde über den Boden geschoben, dann saß Harald neben ihnen. »Warum bin eigentlich immer ich derjenige, dem der Stuhl geklaut wird?«, beschwerte er sich. »Ich nehme an, dann ist es ganz hier in der Nähe...«, sagte er dann. Er hatte noch den letzten Teil des Gespräches aufgeschnappt.
»Ihr wisst genau, dass ich euch nichts sagen werde«, sagte sie scharf. So war es immer gewesen. Sie sagte nie etwas, bis es sowieso an die Öffentlichkeit ging. Außerdem wäre es für sie ein Graus, wenn Astrid sich verplappern würde und es dann die ganze Schule wüsste, woraufhin wiederum alle selbst zu der Scheune kommen wollten, um sich den Fund zu besehen. Das war eine Sache zwischen ihr und ihrem Vater. Und würde es hoffentlich noch für eine Weile bleiben.
Harald und Astrid spielten beleidigt, nur Thyra lachte leise. Das stille Mädchen war in der Reihe hinter ihnen aufgetaucht, während sie sich unterhalten hatten.
Dann begann der Unterricht und Jaana wandte sich ab. In der ersten Stunde hatten sie Astronomie und das war ein Fach, was sie interessierte. Die Sterne, der Nachthimmel, der Unendlichkeit versprach, all das war es, was sie sich in einsamen Nächten wünschte. Es war nicht so, dass sie oft einsam war. Sie hatte Thyra, Astrid und Harald, die ihre Freunde waren. Sie hatte ihren Vater, der ihr größter Held war und der sie an all seinen Projekten teilhaben ließ.
Manchmal jedoch sehnte sie sich danach, Teil von etwas Größerem zu sein, etwas Unendlichem.
Astronomie ging viel zu schnell um, Geografie und Mathematik zogen sich viel zu sehr in die Länge, und doch fand Jaana sich mit Thyra und Astrid irgendwann auf dem Sportplatz wieder. Sie stöhnte leise auf. Die Klasse sollte mit Kraftübungen beginnen und Jaana, die sich schon seit Geografie darauf freute, wieder für den Lauftest zu üben, beugte sich grummeln den Anweisungen der Sportlehrerin. Die Sit-ups fielen ihr noch recht leicht, doch bei den Liegestütz gab sie dann auf. Ihre Arme brannten.
Eine halbe Stunde vor Ende des Unterrichts - und des Schultags - durften sie dann wieder wie schon in der vergangenen Woche für den Lauftest zu üben, der in zweieinhalb Wochen anstand. Zu Beginn passte sie ihr Tempo dem Astrids as, dann schloss sie ihre Augenlider ein wenig, überholte Thyra und rannte.
Sie rannte und während sie rannte, stellte sie sich den Wald vor, in dem sie statt auf dem Sportplatz rannte. Sie rannte und ließ den Wind an sich vorbeisausen. Sie rannte und genoss das Gefühl von Freiheit, das sie überkam.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro