Kapitel 20
Renn blickte in Richtung der Sonne. Er sah die Sonne nicht, aber sein Blick ruhte ruhig auf der Gebirgskette, den Ostbergen, hinter denen die Sonne wartete, bis ihre Zeit zum Aufgehen gekommen war. Wind strich durch sein Fell. Völlig unbewegt stand er da. Man sah ihm nicht an, dass er kämpfte. Hätte man seine Gedanken hören können, würden sie wahrscheinlich sogar die so weit entfernten Sterne hören können, die am Himmel verblassten. Aber man konnte seine Gedanken nicht hören. Er wirkte entspannt, aber das war er nicht.
Sie sind die einzigen Wölfe, die mich verstehen. Er ist der einzige Wolf, der mich versteht, dem ich so ähnlich bin. Ich bedeute Sturm doch nichts. Sie ist doch nicht grundlos alleine gewesen. Niemand wollte sie haben, sonst hätte sie doch ein Rudel gehabt. Sonst wäre sie nicht ausgestoßen worden aus ihrem Rudel.
Es war still hier, ein nebliger Tag. Der Tag, an dem der Clawtrail beginnen würde. Renn wusste, dass er das nicht machte, um einen Rang im MoonClaw-Rudel zu bekommen. Er hatte ein anderes Rudel, mit einer anderen Aufgabe. Diese Aufgabe war seine Prüfung. Der Clawtrail war nicht mehr seine Aufgabe.
Renn knurrte. Es war ein lautes Knurren, das durch die undurchdringliche Stille des Nebels verschluckt wurde. Er wollte die Gedanken verdrängen, sie ankurren endlich zu verschwinden. Er sprang von den Felsen, deren Moos noch feucht von der Nacht war.
Er war stark. Stark genug, ein Rudel zu führen. Er riss mit seinen Krallen ein Grasbüschel aus. Erde stob in alle Richtungen, aber er fühlte sich besser. Er knurrte die Eule an, die ihn von einem Baum aus beobachtete. Ein Gefühl der Macht durchströmte ihn, als der Vogel zusammenzuckte und aufflatterte.
Er war nicht mehr Renn. Er würde einen neuen Namen bekommen und Respekt. Er war nicht mehr der Verachtete.
Renn witterte sie sofort. Mila und Sturm. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Er blieb einfach leicht geduckt im Schatten der Felsen stehen.
»Ich bin mir sicher, du bekommst es hin.« Milas Stimme.
Renn kannte sie nur zu gut. So leichtsinnig und sorglos. Renn war sich sicher, dass sie nie den Rang eines Alphawolfes übernehmen konnte. Sie war schwach, aber es war nicht sein Problem. Das MoonClaw-Rudel war bald nicht mehr sein Rudel. Es war nie sein Rudel gewesen und konnte es auch nie sein. Das Rudel war schwach, würde noch schwächer werden, wenn Mila die Alphawölfin werden würde. Und das wird sie. Renn bleckte die Zähne. Bald ist sie die neue Alpha.
»Du bist der beste Jungwolf des ganzen MoonClaw-Rudels und bei den Mondjägern kannst du einen hohen Rang bekommen, vielleicht sogar Beta, in einem der Beta-Rudel der Blitzjäger, oder der Nebeljäger.« Schon wieder bellte Mila so fröhlich. Renn konnte es nicht verstehen. Das Wetter war schlecht, die Kälte des Nebels drang ihm bis auf die Knochen und die Eiswölfe griffen immer mehr Jagdgruppen an.
Sie sollte nicht so gedankenlos sein, sie sollte nicht so leicht damit umgehen. Sie war dumm. Sie kannte das Wort Gefahr oder Krieg nicht. Das Tiefland war in sowas wie einem Krieg. Man konnte es nicht Krieg nennen, die Eiswölfe waren deutlich mächtiger und würden siegen, aber das Land war düster. Mila war nicht düster. Renn wusste nicht, ob sie es überhaupt bemerken würde, wenn die Eiswölfe angreifen würden. Wahrscheinlich würde sie es für ein Spiel halten.
»Du kannst sie doch alle besiegen. Du bist die beste.« Mila wiederholte sich.
Renn unterdrückte ein Knurren. Ja, Sturm war vielleicht eine der besten, aber er hatte das Kommando über die Jungwölfe. Er hatte sie trainiert. Er war stärker.
»Der Alpha hat gesagt, du bekommst das Kommando über die Jungwölfe während dem Clawtrail. Er vertraut auf dich. Er weiß, dass du es schaffen wirst.« Mila redete einfach weiter. Renn hasst es. Sie merkte nicht einmal, dass Sturm ihr nicht antwortete. Aber was ihn noch mehr verletzte war, dass der Alpha ihr mehr vertraute als seinem Sohn. Seinem Sohn, der eigentlich Alpha werden sollte. Der Schmerz stach ihm mitten in sein Herz. Er wollte alleine sein. Er wollte einfach alleine sein.
»Mila, ich kann dir doch vertrauen. Du darfst es niemandem erzählen. Ich bin mir wahrscheinlich nicht einmal sicher oder will es nicht sein.« Sturms Stimme klang heiser, auch sie hatte nicht viel geschlafen.
»Renn war bei den Eiswölfen. Ich weiß nicht, ich glaube, er hat sich mit ihnen verbündet.« Sturm sprach ruhig, sie hatte wahrscheinlich lange darüber nachgedacht es Mila zu erzählen.
Aber Renn war nicht ruhig. Schon wieder überrollte der Sturm der Gedanken seinen Kopf. Sie hatte ihn gesehen. Natürlich hatte sie etwas bemerkt. Natürlich war ihr aufgefallen, wie abweisend er in letzter Zeit reagierte.
»Du verrätst es doch niemandem, oder? Mila? Bitte, versprich mir das. Wir sind doch Freunde. Mila? Vertrau mir, es ist besser wenn wir es nicht dem ganzen Rudel sagen.« Renn konnte sie nicht sehen, aber sie wusste wie Mila reagierte.
Sie war so naiv. Er wusste, dass Mila es nicht glauben konnte. Er wusste, dass sie ihm so etwas nie zugetraut hätte.
»Ich erzähle es ihnen nicht. Ich glaube nicht, dass er eine Bedrohung sein würde. Er war schon immer so eine hinterhältige Ratte. Er hat es sowieso nicht verdient, mit den Mondjägern zu jagen.« Es war kein Hass, der in Milas Stimme mitschwang. Renn war sich nicht sicher, ob Mila überhaupt jemanden hassen konnte. Aber sie unterschätzte ihn.
»Ich glaube das Schlimmste ist, dass ich ihn irgendwie verstehe. Aber was hätte ich besser machen sollen?« Renn zuckte bei Sturms Worten zusammen. Sie würde es dem Alpha nicht erzählen. Sie vertraute ihm noch, obwohl er es nicht verdient hatte.
»Du kannst ihm nicht helfen. Lass ihn, er wird merken, dass es niemanden interessiert, bei welchem Rudel er ist.« Renn konnte sich vorstellen, wie Mila mit den Ohren zuckte. Ihr war es doch sowieso alles egal. Sie dachte nicht über die Dinge nach. Sie dachte nie nach.
***
Mila war gegangen, Renn hatte es nicht wirklich mitbekommen. Der Sturm in seinem Kopf war zu laut. Wild rasten Gedanken vorbei. Er hasste sie. Die ganzen Gedanken.
Sturm saß alleine auf der Lichtung. Er widersetzte sich dem Drang, sie alleine zu lassen. Einfach zu gehen. Er näherte sich ihr, darauf achtend, nicht das Fell aufzustellen, oder sie anzugreifen. Er musste seinen Schmerz rauslassen.
»Sturm, ich...« Er kam nicht dazu, seinen Satz fertig zu sagen.
Sturm wirbelte herum und knurrte ihn wild an. »Was willst du hier noch Renn, Eiswolf.« Renn senkte seinen Blick auf den Boden, er unterwarf sich ihr.
Er konnte nichts sagen. Alles was er gesagt hätte, hätte die Situation noch schlimmer gemacht. Sturm war sowieso schon verschwunden. Er knurrte. Er war wütend. Auf Mila, auf Sturm und am meisten auf sich selbst.
Er hatte die richtige Wahl getroffen. Der Alpha der Eiswölfe unterschätzte ihn nicht. Er wusste, wie stark Renn war. Er verachtete ihn nicht dafür, was er getan hatte.
***
Der Alpha stand etwas entfernt vom Waldrand. Der Stelle, an dem das Rudel mit den Beta-Rudeln des MoonClaw-Rudels, den Blitzjägern und den Nebeljägern versammelten. Das Alpha-Rudel, die Mondjäger, hatte die besseren Positionen, vorne neben den Jungwölfen bekommen.
Renn scharrte im Boden. Sein Blick war gesenkt, er wusste, dass er alleine auf dem Platz der Jungwölfe war. Er wusste, dass sich die anderen verabschiedeten. Sie bekamen Glück gewünscht, sie wurden motiviert und ihnen wurde so viele Ratschläge und Tipps gegeben.
Renn brauchte das nicht. Er wusste genau, was er tun musste. Er brauchte keine Tipps. Und schon gar keine Rangniedrigeren Wölfe, die ihm Glück wünschten. Er brauchte kein Glück. Nur schwache Wölfe brauchten Glück.
Zu ihm kam niemand, alle wichen seinem Blick aus, aber daran war er schon gewöhnt. Natürlich traf es ihn schmerzhaft, aber er zeigte es ihnen nicht. Das letzte, was er brauchte, war Mitleid. Mitleid führte zu nichts. Wer hatte nicht schon genug Probleme, um auch noch Mitleid mit anderen zu haben.
Vor allem Mila, die neben dem Alpha stand, ignorierte ihn. Lächerlich sah sie aus, wie sie da neben ihrem Vater stand. Ihre Miene sollte wahrscheinlich Stolz und Autorität ausstrahlen. Sie hatte schon immer Selbstbewusstsein gehabt, aber das war es nicht, was einen zu einem Anführer machte. Sie sah aus wie ein Welpe, der zum ersten Mal die Jagd beobachten durfte.
Er, Renn, sollte da stehen. Er war kein naiver Welpe mehr. Er konnte wie ein Alpha handeln, nicht nur versuchen so auszusehen.
Die Jungwölfe kamen. Es waren nicht viele. Die Kämpfe mit den Eiswölfen hatten viele Wölfe zu Kriegern verpflichtet. Sie konnten sich nicht um Familien kümmern. Die Grenzen ihres Reviers wurde immer stärker angegriffen und die Rudelführer, der Alpha und die zwei Beta-Wölfe, konnten es nicht zulassen, dass so viele Krieger fehlten.
Winz und Sturm schubsten sich spielerisch, aber man merkte, wie angespannt und nervös Winz war. Sie war nie nervös oder verängstigt, aber jetzt wirkte sie nervös.
Renn ignorierte sie alle. Er fokussierte seinen Blick einfach weiterhin auf den Fleck Wiese vor ihm. Alles lief einfach an ihm vorbei, als würde er nur flüchtiger Zuhörer sein.
»Wölfin, die noch den Namen Sturm trägt und zu unserem Rudel kam, um als Jungwölfin von uns zu lernen, ich gebe dir die Aufgabe der Führung der Jungwölfe.
Du hast deine Treue bewiesen und verdienst das Vertrauen, das dir mit dieser Aufgabe zuteil wird.
Dass du dir der Bedeutung dieser Aufgabe während dem Clawtrail bewusst wirst.
Führe sie über die Pfade, die schon Wölfe vor euch gegangen sind.
Wölfe, die die Ehre des Rudels weiterführen.
Wer sein Rudel verteidigen will, muss es erst verteidigungswürdig machen.«
Mit den Worten eröffnete er das Geheul. Die Wölfe heulten in den Himmel, an dem man noch vereinzelt Sterne sehen konnte, aber sie alle heulten für die Jungwölfe, für die neuen Jäger des Rudels. Jeder Wolf heulte anders, aber keine Stimme ging verloren. Der Zusammenhalt und die Gemeinschaft des Rudels war alles, was zählte. Keine Ränge waren mehr wichtig. Es ging um das Rudel.
Renn heulte nicht mit. Er stimmt nicht in den Gesang der Wölfe ein. Sein Blick zuckte hasserfüllt zu den Wölfen, die für das Rudel heulten. Er wollte es nicht noch einmal spüren. Den Zusammenhalt. Er wusste, dass da nie einer gewesen war.
Wer sein Rudel verteidigen will, muss es erst verteidigungswürdig machen. Das war das Motto des MoonClaw-Rudels. Renn hasste das Motto. Nichts an seinem Rudel war verdeidigungswürdig. Er wollte das Rudel nicht verteidigen und er würde es nie tun. Es war nicht mehr sein Rudel.
Das Heulen der Wölfe klang immer weiter. Es war stark und Renn wollte auch zu einem Rudel gehören, bei dem er mit Stolz heulen konnte.
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über den Horizont. Stolz ragten die riesigen Berge in den Himmel, als stritten sie sich darum, wer den höchsten Platz einnehmen durfte.
Die Jungwölfe liefen los. Das Rudel heulte weiter, gab ihnen Mut und Kraft, für den Weg. Renn folgte ihnen mit etwas Abstand. Sturm führte die Jungwölfe des ganzen MoonClaw-Rudels an. Steil hatte sie ihren Schweif erhoben und die Ohren nach vorne Gerichtet. Sie sah nicht aus, wie ein Welpe. Sie strahlte eine Ruhe und ein Selbstvertrauen aus, das einer Alpha glich.
Renn beneidete sie um die Stelle. Natürlich hatte er erwartet, dass er die Wölfe führen durfte. Bis Sturm kam, die alles besser konnte. Aber er akzeptierte es. Nicht, weil er die Entscheidung seines Vaters geeignet fand, sondern weil er wusste, dass er bald mächtiger sein würde, als Sturm, die vielleicht stolz darauf war, ein paar Welpen zu betreuen. Er wollte diese Wölfe nicht führen, sie waren schwach und verdienten einen Führer wie ihn nicht.
Das Heulen verklang immer mehr, je weiter sie sich von ihrem gewohnten Revier entfernten. Vor ihnen lag der Pfad der Wölfe. Der Pfad des MoonClaw-Rudels. Der Pfad der Namen. Es gab so viele Titel für den Pass in die Berge. Den Weg, den jeder Wolf nur ein einziges Mal ging.
Renn hielt sich etwas abseits hinter der Gruppe. Er wollte nicht zu den anderen aufschließen, deren Anspannung nachließ und die fröhlich bellten.
Er gehörte nicht zu ihnen. Er war ein Anführer, kein Freund.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro