𝐈𝐈. 𝟎𝟖. Alles ist fake.
Alles ist fake.
Alles ist fake.
Alles ist fake.
Die drei ersten Songzeilen prangen ihr entgegen.
Charlotte sitzt am Klavier, das einst ihrem Großvater gehörte. Das kleine in Leder gebundene rote Notizbuch mit der rostenden Schnalle liegt auf dem Nussbaumholz, in dem Kerben wie Runzeln das eigentliche Alter dieses Instrumentes nur erahnen lassen.
Zugegeben, Charlotte weiß gar nicht, seit wann das Klavier in dem Besitz ihrer Familie ist und woher diese Kerben stammen. Aber das interessiert sie im Moment herzlich wenig. Viel mehr interessiert sie sich für die Klänge, die sie ihm entlocken kann. Die sich zu einer Wolke ihrer Gefühle bilden, weil sie es nicht wagt, das auszusprechen, was ihr längst bewusst ist.
All die ungesagten Worte tropfen von ihren Lippen wie flüssiges Gold und vermischen sich mit den Schwaden der Musik in all ihren Grautönen.
Sobald sie die Tasten unter ihren Fingern spürt, ist sie in ihrer eigenen Welt. Der Rest verschwimmt zu unscharfen Bildern.
Doch jetzt spielt sie nicht. Stattdessen zerfetzt das penetrante Klick-Klick-Geräusch des Kugelschreibers auf den nahezu gänzlich leeren Seiten ihres Notizhefts die Stille, die sie wie eine fragile Glaskugel umgibt.
Charlotte zwirbelt eine Haarsträhne um ihre kristallweiß lackierten Fingernägel und starrt mit gerunzelter Stirn Löcher, Quadrate, Trapeze, ja jegliche Formen in die Luft, nur um zu dem frustrierenden Ergebnis zu kommen, dass sie nicht weiß, wie. Sie ist ratlos.
Eigentlich sollte es ihr nicht so schwer fallen, das alte Instrument mit ihren Gefühlen zum Schwingen zu bringen, spielte sie doch klare Nächte voller honigsüßer Wehmut und wolkenverhangene Vormittage gefüllt mit sonnenblumengesprenkelter Güte.
Sie spielte für Freunde, für ihre Familie, aber vor allem für sich selbst.
Wenn sich ihre Freude mit ihren Freunden verflüchtigte, dann war es stets die Musik, die blieb.
In solchen Nächten spielte sie keine Noten. Sie spielte Musik.
Und jetzt weiß sie nicht, wie. Weiß nicht, wie bei Debussys einziger Oper sie es jemals geschafft haben soll, ihre Gedanken auf Papier zu bringen und ihnen mit federleichten Klängen Leben einzuhauchen. Das erscheint ihr in ihrer momentanen Verfassung wie ein Ding der Unmöglichkeit. Sie erkennt keinen Anfang in ihrem Kopf. Alles ist ein wilder Ozean, der sie mit sich reißt, ohne Land in Sicht. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt.
Nur muss sie es irgendwie schaffen, ein Ufer zu erreichen und ihre Ideen zu verschriftlichen. Sonst drohen die wilden, unzähmbaren Gedanken sie zu erdrücken. Sie muss ein Ventil dafür schaffen, ansonsten verliert sie im Kampf gegen die schäumenden Wellen, die ihr langsam, aber sicher immer mehr den Atem rauben.
Denn Charlotte denkt zu viel. Sie denkt, also ist sie.
Alles ist fake.
Der Satz scheint sie zu verhöhnen.
Verdammt, ihr Gehirn kann ihr die ganze Realität hier lediglich vorgaukeln. Der Staub, der in der Luft tanzt, die vergilbten Seiten ihres Notizbuches, das auf dem bitter riechenden Klavier liegt, die zarten, beinahe zerbrechlichen Töne, die sie dem Instrument entlockt, sobald sie etwas Druck auf eine Taste ausübt - das alles können perfekt ausgearbeitete Täuschungen ihres Kopfes sein.
Das an der Wand aufgehängte umrahmte Foto fällt ihr ins Auge. Es ist etwas verblichen. Wer weiß, wie lange es schon nicht mehr abgestaubt wurde. Augenblicklich wird ihr etwas wärmer ums Herz, als sie die Szenerie genauer betrachtet.
Aus dem Foto grinsen ihr drei Personen entgegen. Die Sommersprossen ihrer Mutter scheinen mit dem Funkeln in ihren polarlichtgrünen Augen um die Wette zu strahlen, während ihre ältere Schwester ein gespielt empörtes Gesicht aufsetzt. Links drängt sich Charlotte glücklich lachend ins Bild. Es ist einer dieser Schnappschussmomente überquellend von sprühender Leichtigkeit und voller geborgener Liebe, in denen jegliche Sorgen oder Existenzkrisen schlicht vergessen werden.
Das Lächeln um Charlottes Mundwinkel verblasst zögerlich, als ihr klar wird, dass die wertvollsten Menschen in ihrem Leben schlichtweg Einbildungen ihres Verstandes sein können. Das Um-die-Wette-Strahlen mit der Sonne, die Marmeladenglasmomente voller Harmonie und Erdbeerduft, die tosend applaudierenden Konzertsäle - all das könnte falsch aufgewendete Zeit in einem Leben sein. Weil nichts echt war oder je sein wird.
Der Gedanke bereitet Charlotte Angst.
Nur sie selbst kann tatsächlich und wahrhaftig existieren. Auf alles andere scheint keine einzige Antwort absolut und zu 100% zuzutreffen.
Alles ist fake.
Die Sätze in ihrem Buch haben es gut, schließlich müssen sie nicht so viel nachdenken.
Charlottes Kopf ist ein Wasserglas, das immer weiter aufgefüllt und kaum geleert wird. Die einzigen Minuten, in denen sie etwas von der tödlichen Flüssigkeit los wird, sind die, in denen sie Klavier spielt. Jede Sekunde fühlt sich an, als würde sie ein Stück leichter, ein Stück befreiter werden. Aber wie soll sie einen ganzen mitreißenden Ozean leeren?
Sie denkt schon wieder, also ist sie. Und niemand anderes muss sein, muss wahrhaftig leben.
Doch selbst wenn, was würde es bringen, deprimiert durch das Leben zu wandern und all den Schnappschussmomenten zu entgehen?
Dass ihr Überzeugungsversuch nicht einmal annähernd hilft, merkt sie sofort.
Mit einem Seufzen fährt sie sich durch ihre Haare, den minder gelingenden Motivationssatz ignorierend, und richtet die Mine des Kugelschreibers auf das Papier vor ihr. Es wartet nur darauf, mit chaotischen Gedanken gefüllt zu werden, die unbefriedigend und ungenügend sind, aber dennoch irgendwie gewinnbringend.
Charlotte schreibt keine Sätze. Sie schreibt ihre Geschichte.
〄
»Dubitatio, kommst du? Wir wollen eine Angelegenheit bereden«, vernahm es die Stimme seines Erzeugers. Seufzend unterbrach es sich dabei, seiner Protagonistin weiterhin existenzielle Krisen einzupflanzen, und pausierte die Simulation, in der sein erstellter Charakter sofort in seinem disponierten Unterfangen des "Songwritings", wie es die Spezies Homo Sapiens der Primaten artikulierte, innehielt. Würde es wohl erst ein paar Lidschläge später diese Simulierung fortführen können.
Februar, 2022
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