𝐈𝐈. 𝟎𝟐. Weihnachtssterne
Tannenzweige im Hintergrund. Funkelnde Lichterketten. Hell erleuchtete Holzhütten. Schwungvolle Schriftzüge. Mit Punsch gefüllte Pappbecher. Breites Grinsen, vor Kälte aufgesprungene Lippen, glänzende Augen.
Knips.
»Merci beaucoup«, bedankt sich das junge Paar und geht auf mich zu. Ich reiche ihnen lächelnd das Handy und nuschle etwas von »De Nada« in der Hoffnung, dass das Französisch sei und sie mich verstehen. Wäre Deutsch bloß die Weltsprache geworden, ich wäre in so unglaublich vielen Bereichen meines Lebens nicht aufgeschmissen.
Die junge Frau mit der roten Weihnachtsmütze lächelt kurz amüsiert, nimmt mir das Handy aus der Hand und öffnet die Galerie, in der nun ein Foto von ihr und ihrem Freund – wie ich vermute – einen weiteren Platz einnimmt. Er beugt sich über ihre Schulter, um auf den kleinen Bildschirm zu gucken. Das tannenholzfarbene Haar fällt ihm dabei tief in die Stirn, als er einen seichten Kuss auf die Wange der Frau drückt, die daraufhin noch breiter grinst. Ihre Wangen nehmen langsam, aber sicher die Farbe ihrer Mütze an.
Ich hatte Recht, ha! Von wegen, ich sei kein Sherlock Holmes, nein, meine Menschenkenntnis ist hervorragend, egal was meine Schwester da meint.
Eben jene tritt just in diesem Moment neben mich und reicht mir eine mit Tannenbäumen und Lebkuchenmännern verzierte Tasse, aus der heißer Dampf aufsteigt. Der warme Duft von Zimt, Orange und Apfel steigt in meine Nase. Ich liebe Punsch. Noch mehr Glühwein, aber Punsch kam sehr eng danach.
»Je vous souhaits un joyeux noël !«, ruft meine Schwester und winkt dem französischen Paar begeistert hinterher, das sich mittlerweile wieder im Gedränge des Weihnachtsmarktes verloren hat. Französischen Touristen auf Weihnachtsmärkten zu begegnen, ist keine Erfahrung, die ich allzu oft mache, geschweige denn allzu oft erleben möchte.
»Eine Übersetzung bitte«, fordere ich und schaue Jule mit gekräuselter Stirn an, die daraufhin trotzig entgegnet: »Wieso hast du mich nicht früher gerufen oder geholt, Alisa? Das wäre die Gelegenheit gewesen, mit französischen Muttersprachlern zu sprechen! Weißt du überhaupt, wie fantastisch das gewesen wäre?«
Ihr Gesicht nimmt einen verklärt-verträumten Ausdruck an.
»Muttersprachlerinnen und Muttersprachler bitte«, murmele ich in meinen roten Schal hinein und schiebe noch ein »Quod licet iovi, non licet bovi« hinterher. Soll sie mit dem Satz anfangen, was sie will. Solange sie mir keine Übersetzung bietet, kann sie von mir auch keine erwarten.
Aber Jule bemerkt meine außerordentlich ausgeprägten Lateinkenntnisse nicht einmal, da sie immer noch mit ihren Gedanken bei dem französischen Paar ist. Oder mittlerweile bei Macarons, das könnte ebenso wahrscheinlich zutreffen.
»Bald werde ich meinen Schüleraustausch mit Frankreich haben und so richtig französisch sprechen können, je le sais!«, ruft sie euphorisch aus und das vorfreudige Glitzern in ihren Augen bringt meine Mundwinkel dann doch dazu zu zucken. Dem Optimismus und der Freude meiner kleinen Schwester kann man partout nicht entkommen, selbst wenn man es wollte. Bemerkt ihr es? Selbst das französische Wort »partout« hat sich unterbewusst in meinen Sprachschatz eingeschmuggelt. Jule hat einen echt miesen Einfluss auf mich.
Ihr funkensprühender Idealismus steckt dennoch so ziemlich jede Person im Umkreis von sieben Metern an, und selbst wenn ihre Affinität die französische Sprache und das Land betreffend teilweise absurd überhandnehmen und mich daran erinnern, wie gut meine Wahl in der Schule war, Latein und nicht Französisch genommen zu haben, ja selbst dann schwappen kleine Teile ihres Glücksgefühls auf mich über und bringen mich zum Lächeln.
Im Moment schwappt aber nur der Punsch in ihrer Tasse über den Rand und tropft auf den Boden und auf ihre roten Chucks, während sie enerviert die Luft einzieht.
»Ah, Mist Mist Mist, das geht nicht mehr aus dem Stoff raus«, ärgert sie sich und drückt mir ihre Tasse in die Hand, um ein Taschentuch zu nehmen und dieses auf dem Jeansstoff herumzudrücken.
Ironischerweise singt Michael Bublé gerade »The More You Give, The More You'll Have« mit voller Inbrunst über den Weihnachtsmarkt – oder zumindest über den Teil des Weihnachtsmarktes, auf dem wir uns gerade befinden.
Ich blicke mich um. Neben uns preisen Schaustellerinnen und Schausteller ihre Waren an, von warmen Wollsocken bis zu weihnachtlichen Schnitzereien aus Holz, begleitet von weihnachtlichen Musikstücken und hellstrahlenden Lichterketten. Egal, wo ich hinsehe, überall sehe ich bunte Dekorationen – rote Herzen, kleine Weihnachtsmänner und -frauen mit roter Nase, mit Schleifen verzierte Mistelzweige oder goldene Weihnachtskugeln, die an Tannenzweigen hängen und das goldene Licht reflektieren – und lachende, fröhliche Gesichter, hinter dicken Schals oder bunten Mützen verborgen. Menschen drängen sich an den Ständen vorbei, umarmen sich, führen Gespräche und wünschen sich gegenseitig eine wundervolle Weihnachtszeit, weil es »the most wonderful time of the year« ist.
Sie genießen den warmen Duft von Maroni, der durch die kleinen, belebten Gassen weht, das süße Aroma von schokoladenüberzogenen Früchten und den kräftigen Geschmack der Rostbratwürstchen.
Fehlt nur noch der Schnee, aber dieser bleibt für diesen Dezember wohl aus, wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkt. Weiße Weihnachten bleibt lediglich ein unrealistischer Traum, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Wäre zu viel Kitsch, wie ich gestehen muss.
»Komm, Jule, ich will meinen Punsch auch noch trinken«, fordere ich sie auf, die daraufhin ihren Kopf hebt und mich von unten aus tannenzweiggrünen Augen anschaut, die von ihrem aschefarbenen Haar betont werden. Teilweise ist es schon von Vorteil, dass ich so groß bin.
Früher habe ich diese Tatsache an meiner Schwester allerdings deutlich öfter ausgenutzt. Da zwischen uns ganze sechs Jahre Altersunterschied liegen, kannte und kenne ich es nie anders, als die Größere von uns beiden zu sein. Kann ich doch nichts dafür, wenn dann ab und zu ein paar Objekte in - für sie - unerreichbarer Höhe schweben. Fernbedienungen zum Beispiel.
»Japp, dann muss ich die Schuhe wohl noch einmal putzen – als ob der Nikolaustag nicht gereicht hätte«, seufzt sie, streicht sich eine Strähne ihres offenen Haars hinter ihr Ohr und nimmt mir ihre Tasse aus der Hand, was mich aus meinen Gedanken zieht, die mich schon wieder einfangen wie eine Schneekugel den Schnee.
Gerade, als wir wieder beginnen, langsam über den Weihnachtsmarkt zu schlendern und den Menschen auszuweichen, ertönt der nächste Weihnachtssong. Und auf einmal bin ich wieder zehn Jahre alt, liege im Gras des Gartens meiner Nachbarn und höre seine Stimme.
Ehe ich begreife, was gerade in mir vorgeht, fängt die Schneekugel all meine Gedanken ohne einen Ausweg ein. Nur sind die Schneeflocken dieses Mal um einiges aufgewühlter und fliegen von einer Ecke zur anderen, ohne dass sie viel geschüttelt werden müssen.
»Du, Alisa, ich muss dir was sagen.« Florians Stimme verweht im seichten Wind, der über unsere Haut streichelt, als würde er uns ermutigen wollen.
»Mhm«, mache ich nur, den Blick weiter gen Himmel gerichtet, in der Hoffnung, endlich mal eine Sternschnuppe zu erblicken. Im August soll der Himmel doch voller Sternschnuppen sein, genauso wie rote Grütze voll von Leckerheit ist. Das hat Mama jedenfalls gemeint, aber sie kann ich gerade schlecht fragen, denn sie ist voll mit Jule beschäftigt. Doof.
Florians Finger streichen durch meine offenen Haare, die auf dem Boden ausgebreitet liegen. Er holt tief Luft und ich spüre, ohne hinzusehen, dass er etwas sagen will, dass er seinen Mund zum Sprechen geöffnet hat, aber es kommen keine Töne. Nur leises, stockendes Atmen. Nervös. ALs hätte er den Mund voll ungesagter Dinge. Aber wer hat das auch nicht?
Ich denke mir nichts dabei und blicke weiter in den dunklen, klaren Nachthimmel hinauf, inspiziere die kleinen Leuchtpunkte und kneife konzentriert meine Augen zusammen. Langsam recke ich meine Hand in die Höhe und schließe ein Augenlid – vielleicht, ganz vielleicht, wenn ich meine Finger genug ausstrecke, kann ich einen dieser Sterne vom Himmel pflücken.
»Du kannst nicht nach den Sternen greifen«, seufzt er. Es sind nicht die Worte, die er eigentlich sagen wollte, das merke ich. Dennoch versetzen sie mir einen Stich und kindlicher Trotz in mir wird geweckt.
»Und ob ich das kann!« Trotzdem lasse ich meine Hand wieder in das Gras sinken und unterbreche damit eine Grille beim rhythmischen Zirpen. Augenblicklich tut es mir leid, dass ich nicht weiter versucht habe, einen der strahlenden Punkte zu erwischen.
Die Stille zwischen uns wird nur von dem Rascheln der Blätter, dem gelegentlichen Zirpen von anderen Grillen und vereinzelten Motorengeräuschen der Autos unterbrochen. Ungesagte Wortfetzen bilden eine Wolke, die über uns schwebt. Wir müssen nur nach ihnen greifen, aber die Wolke ist zu hoch, sie ist so hoch wie die Sterne selbst.
Resigniert atme ich die kühler werdende Nachtluft ein und spüre einfach nur Florians warme Präsenz neben mir. Das Gefühl von endlosem Vertrauen und geborgener Freundschaft hüllt uns ein, gibt uns die gewisse Sicherheit, die zwei vom Leben verwirrte Personen teilen können, während wir weiter zu den Sternen starren.
Bis er das Schweigen bricht: »Alisa, ich ... Meine Mama und mein Papa haben beschlossen, dass wir in die Aquitaine umziehen, weil Mama eine Beförderung bekommen hat.«
Jetzt ist es raus. Die Wolke aus Worten verpufft. Ich kräusele meine Stirn, verwirrt von dieser Aussage. Was meint Florian damit? Umziehen? Für wie lange?
»Umziehen? Wohin?«, bringe ich heraus und stütze mich nun auf dem Gras ab, um ihm in die Augen sehen zu können. Der sonst so schelmische Ausdruck in ihnen ist verflogen, zurück bleibt ein matter Blick.
Dennoch ... dennoch spüre ich einen gewissen Druck in meiner Magengegend.
»Aquitaine, das ist im Westen von Frankreich. Und irgendwie auch im Süden«, antwortet er, während er meinem Blick ausweicht und seine Hände knetet. Das tut er immer, wenn er nervös ist. Eine mir vertraute Angewohnheit, die ich mittlerweile so gut an ihm erkenne, da wir schon gefühlte Ewigkeiten befreundet sind.
»Aber ... das ist ja ziemlich weit weg.« So viel kann ich einordnen – Frankreich ist nicht so nah an Mecklenburg-Vorpommern. Ob es weiter weg ist als die Sterne am Firmament?
»Ja ...«, ist alles, was er daraufhin erwidert. Sein leiser Tonfall bereitet mir eine Gänsehaut von der Sorte, bei der ich weiß, dass sie nicht wegen etwas Schönes auftritt. Und diesmal ist die folgende Stille drückend.
»Für-«, ich schlucke, befeuchte meine Lippen, die auf einmal sandig schmecken, »für wie lange?«
Stille.
»Das weiß ich nicht. Mama hat gesagt, dass wir so lange bleiben werden, wie es nötig ist.« Nach einer kurzen Pause, fügt er hinzu: »Vielleicht ziemlich lang ...«
Damals konnte ich das »lang« noch nicht einordnen. Das war nur irgendein weiterer Begriff, der eine bestimmte Zeitspanne bestimmte. Vier simple Buchstaben mit einer nichtigen Bedeutung dahinter. Zwei Tage konnten lang sein, genauso lang wie zwei Wochen. Ein Jahr war sehr lang. Mit »lang« konnte also maximal ein Jahr gemeint sein.
Dass Florian gar kein französisch sprechen konnte und dass er seine Schule verlassen musste, das fiel mir in dem Moment gar nicht ein. Genauso wenig wie die gewisse Endgültigkeit, die in seiner Stimme mitschwang, oder dass ich ihn für eine lange Zeit eventuell nicht mehr sehen könnte, dass das Haus neben uns dann neue Nachbarn bekäme, dass mein anstehender Geburtstag ohne ihn gefeiert werden müsste. Nein, dafür war ich von dieser simplen Aussage viel zu überfordert.
Wie kann ein einziger Satz bloß so eine Schlagkraft besitzen, die mir mehr ungewisse Tränen in die Augen treibt als der Moment, in dem wir nach unserem Gefuchtel und Lachen von dem hier im Garten stehenden Apfelbaum fielen? Wie kann mir die Luft dermaßen aus den Lungen gepresst werden und wie kann mir übler werden als nach dem Verspeisen von Florians selbstgemachter roter Grütze?
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, bemerkte nicht einmal, dass Florian aufgestanden war, zu turbulent war das Gefühlschaos in mir, das mich am Realisieren dieser so absurden, surrealen Situation hinderte.
Das Einzige, das mir in diesem Moment in den Sinn kam, war die Tatsache, dass ich tatsächlich nicht nach den Sternen würde greifen können. Ich würde in dieser Nacht auch keine Sternschnuppe mehr sehen können, nein. Den einzigen greifbaren Stern, den hatte Florian. Und er würde ihn mit sich nehmen.
Als »Frosty The Snowman« leiser wird, klammere ich mich erleichtert an meiner heißen Tasse fest. Das ist das Lied, das wir immer in »Florian The Snowman« umgedichtet haben. Dementsprechend schnell wurde ich wieder in meine Schneekugel aus verwirrenden, sich überschlagenden Gedanken gesogen, die mich jetzt glücklicherweise wieder freigelassen hat. Anscheinend ist mein Flashback jedoch so kurz gewesen, dass weder Jule noch sonst jemand etwas davon mitbekommen hat. Dabei kommt mir die Szene, die vor meinem inneren Auge abgespielt wurde, doch so viel länger vor ...
Selbst das Lebkuchenherz, in das ich nun beherzt hineinbeiße, schmeckt öde und fad in meinem Mund. Wie sandige Pappe. Ich schlucke es runter, um es nicht ausspucken zu müssen, obwohl der Drang danach momentan recht groß ist.
Jule ist bereits zu einem Stand mit zahlreichen Marmeladenangeboten gewandert und sieht sich dort die exotischen Sorten neugierig an. Ich stehe daneben, immer noch mit meiner Tasse Punsch in der Hand, und bedaure es, dass mir auf einmal jegliche weihnachtliche Einrichtung und Dekoration lächerlich vorkommt. Wieso muss ausgerechnet jetzt diese Erinnerung in mir hochkommen?
Seit Florian sich damals verabschiedet hat, sind mittlerweile viele, viele Jahre vergangen. Wir sind beide größer und älter geworden, haben uns fernab des jeweils anderen weiterentwickelt, Vorlieben und Abneigungen entfaltet, das eigene Leben unabhängig des anderen gelebt. Sowohl meinem 10-jährigen als auch meinem 11-jährigen Ich ist es schwergefallen, von einem Moment auf den anderen ohne den besten Freund zur Schule zu gehen, ohne Florian Abende zu verbringen oder ohne ihn rote Grütze zu verspeisen. Das alles hat sich dermaßen falsch angefühlt, ohne Florian, der mich sonst immer zum Glucksen gebracht hatte. Da ich noch kein Handy besaß, durfte ich immer über das meiner Mama mit ihm schreiben. Anfangs hat das noch regelmäßig und gut funktioniert, unser Austausch war rege und voll von übersprudelnden kindlichen Emotionen und Neuigkeiten, genauso wie beim Telefonieren. Er erzählte mir von den seltsamen französischen Angewohnheiten, dass er sich schwertat, sich in seinem neuen Zuhause einzuleben, und der neuen Schule, in der er kaum etwas aufgrund der merkwürdigen Aussprache verstand.
Wenn uns das Schreiben über das Handy zu langweilig wurde, taten wir uns daran, uns auf altmodische Art und Weise Briefe zu schicken, die mal länger, mal knapper gefasst waren.
Nach einer Zeit nahmen unsere schriftlichen Konversationen jedoch immer mehr ab, unsere Telefonate fanden nur noch monatlich und nicht wöchentlich statt. Ab und zu schickten wir uns zwar Bilder, doch selbst der Erhalt eines eigenen Smartphones ließ den Kontakt nicht so aufblühen, wie ich es mir insgeheim erhofft hatte.
Wir beide haben uns in unserer neuen Umgebung eingewöhnt, neue Freunde gefunden, neue Beschäftigungen entdeckt. Und dennoch dachte und denke ich nahezu jeden Tag an ihn. Keine Freundschaft, die ich geschlossen habe, reicht an unsere damalige an. Kein freundschaftliches Erlebnis mit ihnen reicht an unser Grützewettessen, die Purzelbaumwette oder das Aufpäppeln einer Ameise an, die mich noch heute mit einem Lächeln zurücklassen.
Vollkommen in meiner Nostalgie gefangen, öffne ich unseren Chat und betrachte das unterste Selfie, das Florian und zwei weitere Freunde in hässlichen Weihnachtspullis zeigt. Florians Lächeln ist breit, seine lebkuchenbraunen Haare noch immer so zerzaust wie früher und das Funkeln in seinen nachthimmelblauen Augen strahlt ebenso über den Bildschirm bis zu mir. Eine kleine Weihnachtsmütze sitzt sowohl auf seinem als auch auf den Köpfen der anderen Jungs; im Hintergrund lässt sich eine mit Fotos bestückte Holzwand erahnen.
Unweigerlich muss ich lächeln. Meine trockene Nachricht »Dir und deinen Freunden an Nikolaus viel Spaß!« mit den zwei Schneemann-Emojis kommt mir nun schon fast lachhaft vor. Sie kann nicht einmal annähernd ausdrücken, wie sehr ich mich über ein Foto seinerseits gefreut habe, das mich erkennen lässt, dass er tatsächlich erwachsen geworden ist. Na ja, vom Äußerlichen her. Ich gehe stark davon aus, dass er insgeheim immer noch ein kleines Kind ist.
Aufseufzend lasse ich mein Handy wieder in der Manteltasche verschwinden und geselle mich zu Jule, die begeistert aufschaut und mir ein Marmeladenglas mit Schleife reicht, auf dem in großen Buchstaben »Zimt-Orangen-Apfel-Konfitüre« steht.
»Alisa, das wär' doch ein originelles Weihnachtsgeschenk, oder?« Sie scheint meine getrübte Stimmung kaum zu bemerken oder sie vertuscht es bloß gut, und ich nehme es ihr nicht übel. Nur, weil ich gerade in Erinnerungen schwelge, die mich melancholisch werden lassen, soll das ihre bezaubernde Weihnachtsstimmung nicht in Mitleidenschaft ziehen.
Ich nicke lediglich. »Hm ja. Wir brauchen sowieso noch ein Geschenk für Mama und Papa.«
Die Marmelade wandert zur Verkäuferin und wieder zurück in unseren Stoffbeutel, nachdem Jule eifrig bezahlt hat. Wenigstens auf eine von uns scheint die Atmosphäre des großen Weihnachtsmarktes zu wirken.
Vorsichtig trinke ich einige Schlucke des Punsches. In diesen Momenten wünschte ich, dass sich die rötliche Brühe in Glühwein verwandeln könnte, das würde mich wenigstens etwas von den Gedanken abbringen, die sich an Florian geklebt haben wie ein Kaugummi an eine Schuhsohle.
Meine Schwester zieht mich mit sich über den gepflasterten Weg und redet begeistert von Marmeladensorten, die wir beide unbedingt noch ausprobieren und herstellen müssen. Bei ihrem Enthusiasmus muss selbst ich lächeln, und - zugegeben - bin ich froh, dass sie mich durch ihren Monolog mit ihrer Freude etwas ansteckt und den Trubel meines Lebens etwas in den Hintergrund geraten lässt. Genau deshalb habe ich meine kleine Schwester so unglaublich lieb.
Das spontane Gefühl von Zuneigung überkommt mich und ich ziehe Jule abrupt in eine Umarmung, ohne dass ich dabei meine Tasse ins Wackeln bringe.
»Wofür ist denn jetzt das?«, fragt sie lachend und drückt mich fest an sich.
»Hab' dich einfach lieb«, antworte ich und ohne nachschauen zu müssen weiß ich, dass ihr gerade ein liebevolles Lächeln auf den Lippen liegt.
Als ich im Inbegriff bin, ihr noch einmal kurz durch die Haare zu wuscheln, wie es nette Schwestern eben tun, vibriert plötzlich das Handy in meiner Jackentasche. Vorsichtig stabilisiere ich die Tasse in meiner Hand, gebe Jule ein kurzes Zeichen, dass mich gerade jemand anruft, und greife neugierig nach dem Handy in meiner Tasche. Wer ruft mich denn jetzt noch an?
Das Display leuchtet auf und blendet mich kurz. Ich kneife meine Augen zusammen, als ich den Namen der Person lese, die mich anruft. Das kann doch nicht-
Schnell nehme ich das Telefonat an und halte das Handy an mein Ohr, fest in der Erwartung, enttäuscht zu werden. Mein Magen zieht sich dennoch vor Aufregung zusammen und gehorcht meinem Kopf nicht, der die Hoffnung bereits zum Sterben verurteilt hat.
Ein Atemzug. Noch einer. Hoffentlich höre ich mich nicht wie Darth Vader an.
Dann eine raue Stimme, die durch das Knacksen der Verbindung untermalt wird. Keine Frage, das ist Florian. Er hat dieselbe Betonung der Wörter wie vor fünf, ja selbst vor sieben Jahren.
»Hey, Lissi.« Seine tiefe Stimmlage irritiert mich, die meinen Spitznamen benutzt.
Nichtsdestotrotz bringe ich ein staksiges »Hey« zustande und klopfe mir dafür innerlich auf die Schulter.
»Bist du betrunken?«, frage ich, bevor ich mich zurückhalten kann. Was ein dämlicher, wirklich dämlicher Start in ein Telefonat! Ich könnte mir selbst eine Backpfeife dafür geben, doch als ich sein kurzes Prusten höre und Jules Kichern sehe, bemerke ich, dass von mir anscheinend nichts anderes erwartet wurde. Mir wird bewusst, dass mich beide immer noch kennen. Zwar habe ich mich verändert, doch im Grunde bin ich noch immer Alisa, Lissi. Schwester, Spielpartnerin, Schneemannbauerin, Lachnummer Nummer 1, Pessimistin. Freundin.
»Nein, bin ich nicht«, antwortet Florian prompt, nun mit einem leicht amüsierten Unterton. Ich höre ein Rauschen im Hintergrund.
»Ich, ähm, dir nur Bescheid geben, dass meine Familie und ich dieses Weihnachten nach Deutschland kommen. Nach Mecklenburg-Vorpommern. Das haben wir gerade eben beschlossen, und ...«, nun schwingt eine gewisse Unsicherheit in seiner Stimme mit, »na ja, ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren, weil, ich weiß nicht- Also nur, wenn du Lust hast, das ist ja klar. Du sollst auf jeden Fall entscheiden, Lissi! Und wenn nicht, dann ist das auch vollkommen okay-«
»Florian. Komm zum Punkt«, grinst Lissi.
»Also.« Ein Räuspern. »Wenn du möchtest, dann- dann könnten wir uns ja rein theoretisch treffen ...«
Ich sehe seinen zerknirschten, verlegenen Gesichtsausdruck förmlich vor mir. Was würde ich jetzt dafür geben, ihn vor mir stehen zu haben und wie an den alten Tagen mit ihm über schlechte Witze lachen zu können.
Aber die eine Information reicht aus, um mein Herz unbeschwerter, leichter zu machen. Ein wohlig-warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, das Atmen fällt mir auf einmal um einiges einfacher und ein immer breiter werdenderes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Ich blicke hinauf in den dunklen Nachthimmel.
Die nächsten Worte wähle ich gar nicht bewusst, ich lasse sie einfach aus meinem Inneren kommen und genieße die Freiheit, die mir gewährt wird, hier, jetzt, in diesem einen Moment, denn der einzige Gedanke, der im Moment meine Schneekugel beherrscht und aufgeregt auf und ab fällt, ist der, dass mein Stern an Weihnachten zurückkehren wird.
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Ein weihnachtlicher Text, den ich für die Weihnachtsschreibchillenge des Profils KuhleKathiisten verfasst habe unter Vorgabe der drei Wörter "Lebkuchen", "Sternschnuppe" und "Weihnachtsmarkt". In welcher Form ich die Wörter einbauen durfte, war mir selbst überlassen. Ich hoffe, die kleine Kurzgeschichte hat dir gefallen und dir die weihnachtlichen Feiertage etwas versüßt. :)
Zwar bin ich nicht vollständig zufrieden, aber ich bin primär erst mal froh, überhaupt fertig geworden zu sein. xD
Euch allen ganz frohe Weihnachten, hoffentlich könnt ihr wie Alisa auch euren Stern sehen! ☃️✨
dezember 2021
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