𝐈𝐈. 𝟎𝟏. Welten retten
Die Silhouette des Jungen ist im flackernden Feuerschein nur schemenhaft zu erkennen. Ein Kopf lehnt sich gegen seine Schulter, den Blick auf die Flammen gerichtet, die die Umgebung erhellen und verzerrte Schatten erkennen lassen.
Ein leichter Geruch nach Asche und Holz wird von dem seichten Wind hinfort getragen; er verweht die Hitze der Flammen. Das Knacken von Holz unterbricht die Stille, die jedoch nicht unangenehm ist. Mehr wie eine Stille, in der sich Gedanken austauschen, verteilen, verbinden und den Raum nutzen, um gedacht zu werden. Um zu Ende gedacht zu werden, um angefangen gedacht zu werden. Beide, sowohl der Junge als auch das Mädchen, hängen ihren eigenen Vorstellungen nach und doch spüren sie, wie diese Gedankenfetzen auf sie wirken.
In dieser eigenartigen Trance aus Ruhe wird viel mehr ausgetauscht, als es Worte hätten tun können.
»Hast du ...« Die zarte weibliche Stimme stockt kurz, bis sie sich wieder fängt, die Stille erneut zerreißt und weiterspricht. »Hast du manchmal auch das Gefühl, in Problemen zu ertrinken?«
Fahrig lacht sie auf und räuspert sich kurz. Wischt ihre schwitzenden Hände an der Jeans ab. Nervös kaschiert sie ihr Unbehagen.
»Das hört sich jetzt bestimmt komisch an, aber ... hast du manchmal das Gefühl, von deinen Problemen fortgerissen zu werden, weil es einfach immer mehr werden? Jeden Tag kommen weitere Sachen hinzu, über die du dir Sorgen machen musst, über die du nachdenken musst und bei denen sich dieser unangenehme Knoten im Bauch bildet. Und es hört nicht auf. Wie eine unaufhaltsame Lawine. Da kommen Probleme, bei mir, bei dir, bei einfach jedem.«
Während ihres Redeschwalls hat sie unbemerkt die Luft angehalten und entlässt sie nun zischend.
»Was ich meine, ist: Hast du manchmal das Gefühl, deshalb nicht weiterzukommen? Und dass der Strudel aus Sorgen immer größer und reißender wird und dich mitzieht, bis-«
Räuspern.
»Bis er dich erdrückt?«
Kurz nachdem sie es gesagt hat, schüttelt sie ihren Kopf und streicht sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Das hört sich schwachsinnig an«, murmelt sie.
»Du sprichst von dir, oder?«, fragt er vorsichtig, aber ohne ein Wackeln in der Stimme.
Eine Pause entsteht, die sich immer länger zu erstrecken scheint. Doch der Junge kennt die Antwort. Natürlich kennt er sie, dafür kennt er seine Schwester zu gut. Er kennt ihre Gedanken und ihre tiefsten Sorgen zu gut.
»Weißt du ...«, nach Worten ringend fällt sein Blick in die Ferne und damit in die Dunkelheit. Vereinzelte Sterne sind am Nachthimmel erkennbar. Es ist eine klare Sommernacht, die abgeschieden von den Lichtern der Großstädte fast so etwas wie eine betörende, heimelige Wirkung auf den Jungen und das Mädchen hat.
»Weißt du noch, was Oma immer gesagt hat?«
»Natürlich.« Ein wehmütiges Lächeln bildet sich auf ihren Lippen.
»Immer kleine Schritte gehen. Dann kommt man zum Ziel. Und zum Ziel kommt man nur dann, wenn man seinem Herzen folgt. Denn ohne Herz kein Wille und damit kein Weg, und ohne Weg kein-«
»Ziel«, vervollständigt sie leise. Nachdenklich schweifen ihre azurblauen Augen über ihre gefalteten Hände, die in ihrem Schoß liegen, und dann wieder hoch zu seinen genauso blauen Augen.
»Vielleicht sind es viele Probleme auf den ersten Blick. Und ich weiß, dass das verdammt frustrierend sein kann. Vielleicht wirken sie so unüberwindbar, weil immer und zu jeder Zeit von ihnen berichtet wird und weil plötzlich jeder mit einer Last zu kämpfen hat. Oder mit vielen Lasten. Aber ... hey, daran erkennst du wenigstens, dass du nicht allein bist«, meint er aufmunternd und fügt dann hinzu, »du weißt doch, wenn du kleine Schritte gehst, kommst du immer an. Du musst ja nicht gleich die Welt retten.«
Sie scheint über das nachzudenken, was ihr Bruder gesagt hat. Ihre Welt zuerst einmal retten.
»Aber- Was ist, wenn ich keine Schritte gehen kann, um sie zu retten?«
Auf einmal wirkt sie im Lichtschein so dünn und so zerbrechlich wie seit langem nicht mehr. Dabei war sie so stark. Sie ist doch immer noch seine ältere Zwillingsschwester mit mehr Lebenserfahrung, weil sie fünf Minuten früher das Licht der Welt erblickte. Mit ihrer besserwisserischen Meinung und ihrer Fürsorge. Mit ihrem Übermut und ihrer Sturheit, die ihn schon so oft auf die Palme gebracht hat. Oh ja, ihre Sturheit kann ihn manchmal nerven.
Sie ist doch immer noch die Schwester, bei der ein Blickkontakt ausreicht, und sie erkennt, wie es ihm wirklich geht. Immer noch die, der er seine geheimsten Geheimnisse anvertraute und die ihn versteht, wenn er nichts sagt, weil es stattdessen die Stille zwischen ihnen tut.
Oder ... ist sie das nicht mehr?
»Du wirst die Schritte gehen können, das verspreche ich dir. Indem du mit kleinen Schritten anfängst. Es wird besser werden, versprochen. Du musst ja nur deine eigene Welt retten. Und dennoch bist du nicht alleine - niemals! Schon im Bauch, als du mich die ganze Zeit getreten hast, sind wir unzertrennlich gewesen. So oder so, du wirst mich nicht mehr los.« Er grinst sie kurz an, fährt dann aber schnell fort.
»Nur weil du fünf Minuten früher geboren bist, heißt das nicht, dass du dir nicht mal helfen darfst. Denn ... Hilfe zu akzeptieren, ist genau das: stark sein.«
Die nächsten Worte behandelt er wie sein eigenes Mini-Picasso, legt in jede Silbe die Bedeutung, die er überbringen möchte.
»Wie wär's, wenn wir deine Welt erst einmal retten?«
Das Knirschen von Rollstuhlreifen auf kleinen Kieselsteinen ist zu hören, als sie sich umdreht und ihren Bruder in den Arm nimmt.
Vielleicht hat er Recht. Vielleicht wird alles gut. Vielleicht werden sie ihre Welt retten und dann Schritte gehen können, um andere zu retten.
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