Chào các bạn! Vì nhiều lý do từ nay Truyen2U chính thức đổi tên là Truyen247.Pro. Mong các bạn tiếp tục ủng hộ truy cập tên miền mới này nhé! Mãi yêu... ♥

𓆈 2. Kapitel 𓆈 Der rothaarige Teufel mit dem Taschenmesser

Zerrissen lief Amelie hinter dem Zaum hin und her, während sie mit wachsender Panik ihrer wahnsinnigen Freundin hinterher sah. Die Jungs waren fast beim Löschteich. Raffa würde nur noch ein paar Sekunden brauchen, dann hatte sie ihn auch erreicht.

Wasmachichnurwasmachichnurwasmachichnur!!

Sie wischte ihre schweißnassen Hände immer wieder an ihrer Schuluniform ab und konnte den Blick nicht von Raffas fliegenden Beinen wenden. 

Die Jungs hatten sie bemerkt. Johannes und einer seiner Freunde standen nah beieinander und hatten ihre Freundin fixiert. Der andere Freund war immer noch an der riesigen Stadtmauer beschäftigt. 

Ich darf da nicht runter. Ich darf da doch gar nicht runter! 

Was für eine Ausrede das war. Sie hatte sich schon öfter mit Raffa durch eben jenen Spalt in der Mauer geschlichen, um die Straßenhunde zu streicheln, und das hatte ihre Mutter ihr vehement verboten. Aber das war etwas anderes!

Jetzt wollte sie einfach nicht zugeben, dass sie zu feige war, um da runter zu laufen. Zu feige, die Regeln zu brechen.

Zu feige, um sich den berüchtigtsten Bullies ihrer Schule zu stellen. 

Das Winseln des braun getupften Welpen war herzzerreißend. Amelie stiegen Tränen der Verzweiflung in die Augen. Das waren ihre geliebten Hunde! Die einzige Freude in ihrem Leben! Wut mischte sich in ihre Panik. Sie musste den Kleinen retten! Sie umklammerte ihren Talisman so fest, dass er sich in ihre Handfläche bohrte.

Warum hatte sie nicht hartnäckiger darauf bestanden, die Lehrer zu holen?

"Verdammt, verdammt, verdammt!", wimmerte sie und ergriff abermals den Zaun. 

Ihre Schule war so stinknormal. So brav. So sicher. Wie konnte jemand wie Johannes dort aufgenommen werden? 

Sie sah, wie ihre hochgewachsene Freundin die letzten Meter vom Hang hinabsprang und vor den Jungs landete. Sie rief etwas Wütendes, ihre Fäuste waren geballt und einen Moment später war ihr Gesicht direkt an Johannes' Gesicht. Sie schrie ihn richtig an. Der grinste breit und trat einen Schritt zurück, während sein Freund mit dem kurzrasierten Kopf dazwischentrat und Raffa heftig zurückstieß. 

Amelies Magen überschlug sich und ihr Frühstück drohte, wieder hochzukommen. 

Ich muss ihr helfen! 

Sie wollte einen Fuß auf den Zaun stellen, doch der Fuß wollte sich einfach nicht bewegen. Sie war wie festgefroren. Stattdessen fingen ihre Waden an zu zittern. Amelie jaulte vor Verzweiflung auf. 

Raffa ist stark. Stärker als die! versuchte sie sich zu beruhigen, doch die Angst tobte wie ein Orkan in ihr. 

Unten am Teich wurde es ernster. Das Grollen und Schnappen des Hundes hinter der Mauer schwoll an und der Junge mit dem Stock rief etwas. Keiner seiner Freunde beachtete ihn. Statt zurückzustoßen, versuchte Raffa,  an dem selbst ernannten Leibwächter  vorbeizukommen und den Welpen in Johannes' Griff zu erreichen. Der blasse Rotschopf hob den Welpen wie einen Sack Kartoffeln über seinen Kopf und schwang ihn herum, was den Welpen noch höher schreien ließ. 

Amelie stieg das Blut wie heißes Feuer in den Kopf. Sie schluchzte. Wie konnte dieser Fiesling das einem Welpen antun wollen? Es war, als würde er Amelie selbst weh tun. Sie spürte jedes Rucken seiner Arme, jedes Aufjaulen, als käme es aus ihrer eigenen Brust. Die Straßenhunde der Slums waren ihr zweites Zuhause geworden. Sie waren Familie! 

Ihre Haut fing an zu prickeln, ihre Schläfen pochten. Ihre Angst um die Vierbeiner wummerte wie eine Trommel in ihrem Herz. Sie fühlte sich unter Strom gesetzt. 

Für einen kurzen Moment kämpften zwei Seelen in ihrer Brust. Die Angst um die Vierbeiner und die Angst um sie selbst. Es fühlte sich an, als würde ihr Körper gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen laufen wollen. Der Schweiß an ihren Händen machten das Metall ganz glitschig. 

Dann war das Gefühl fort. Auf einmal war es leicht und ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Fingen an, eine Zaunlatte nach der anderen emporzuklettern. 

Am Löschteich verstummte auf einmal das eklige Lachen der Jungs. Raffas Faust landete im Gesicht ihres rasierten Widersachers, der sie gerade an den Rastern gezogen hatte. Er stöhnte auf und landete rücklings im Gras. Raffa hat ihn geschlagen? Sie hat ihn tatsächlich geschlagen! dachte Amelie fassungslos, während sie ihren pummeligen Körper den Zaun hinaufzog.  Johannes' Grinsen wich schlagartig einer wütenden Fratze. Achtlos warf er das braune Fellbündel in den Teich hinab und zückte sein Taschenmesser. 

Ein tosender Wind kam auf. 

Amelie sah das Metall gestochen scharf. Die leicht gekrümmte Spitze. Die Reflektion des Lichts entlang der Mittellinie. Sie sprang über den Zaun hinweg und kam auf der anderen Seite auf. Mit einer schnellen Bewegung streifte sie ihre Schuhe ab. Das Gras fühlte sich beruhigend und kühl an, als sie ihre Zehen in die feuchte Erde stieß und den Hang hinabrannte. Sie ignorierte die panische Stimme in ihrem Hinterkopf. 
Der Wind zerrte an ihren Kleidern und trug die hohe Stimme des 11-jährigen Teufels an ihre Ohren. "Du hast Oscar geschlagen!", rief er empört und warf tatsächlich einen besorgten Blick auf seinen Freund, der sich im Gras immer noch das Gesicht hielt. Blut sickerte unter dessen Händen hervor, die er auf seine Nase gepresst hatte. "Niemand tut meinem Freund weh!", fauchte er und spukte in Raffas Gesicht. 

Obwohl seine Stimme hoch und schrill war, spürte Amelie ,wie ihre Angst sich meldete. Dieser Junge hatte fast jedem in ihrer Parallelklasse auf die eine oder andere Art weh getan.
Doch das durfte sie jetzt nicht aufhalten. Sie sah den Welpen am steilen Ufer des Löschteichs strampeln und der aufkommende Sturm beschwor Wellen hinauf, sodass dem quiekenden Kleinen mehr und mehr Wasser ins offene Maul schwappte. Es roch nach Regen und ein entferntes Donnern vibrierte in der Luft. 

Amelie rannte, wie sie noch nie im Leben gerannt war. In halsbrecherischen Sätzen kam sie Raffa immer näher, die jetzt verunsichert mit dem Rücken zum Teich zurückstolperte, die weit aufgerissenen Augen auf die Spitze des Taschenmessers gerichtet. Johannes sah selbst nicht sehr sicher aus. Er stach mit seiner Waffe immer wieder in Richtung ihrer Freundin und drängte sie zurück, aber noch hielt er Abstand. 

Keiner von ihnen bemerkte, wie Amelie herbeirannte. Sie selbst bemerkte nicht den dritten Freund, der ebenfalls herbeirannte. Verfolgt von einem riesigen Hund mit gefletschten Zähnen. 

Ein Blitz zuckte über den Himmel. 

Dann passierte alles auf einmal. 

Amelie stolperte in dem Moment, als Raffa mit einem Wutschrei auf Johannes zusprang. Sie sah noch wie er das Messer nach oben riss, dann prallte sie mit dem Kinn auf dem Boden auf und überschlug sich. Sie hörte jemanden schreien. Die Welt drehte sich in einer schmerzhaften Achterbahn und die harten Kontakte mit der Erde hämmerten ihr die Luft aus der Lunge. Drei, vier mal, dann plötzlich endete der Strom aus verschwommenen Farben und sie kam abrupt mit einem letzten Umpf zum Halt. 

Sie hörte verwirrende Geräusche, die sie nicht zuordnen könnte und ihr Schädel brummte wie ein wütendes Hornissennest. Ein ohrenbetäubende Donnern dröhnte durch sie hindurch. Alles tat ihr weh, ihre Nase fühlte sich gar nicht gut an, doch sie wollte einfach nur auf die Beine kommen. Raffa retten. Den Welpen retten. 

Gerade als sie festen Halt unter beiden Füßen spürte, krachte etwas mit voller Wucht in sie hinein. Arme und Beine traten wild um sich und sie ging mit dem dritten Freund zu Boden, der schrie, als ginge es um sein Leben. Kaum konnte Amelie nach Luft schnappen, da übertönte ein Knurren und Grollen und Fletschen alle anderen Geräusche. Der Junge schrie, Amelie schrie. Krallen sausten an ihrem Gesicht vorbei und plötzlich wurde das Gewicht von ihrem Körper gehoben. 

Der Streuner, der über ihr stand, war so groß, dass Amelie erst dachte, es wäre ein Bär. Er hatte den Hemdkragen des Jungen gepackt und schleifte ihn rückwärts, während der Schüler panisch die Hand Richtung Amelie ausstreckte. "Hilf mir! HILF MIR!!!", schrie er aus vollem Hals und seine Augen waren glasig vor Panik.
Instinktiv schnellte Amelie nach vorne und wollte seine Hand greifen, da tauchte plötzlich Johannes auf und rammte dem Hund seine Schulter so stark in die Seite, dass der riesige Streuner mit einem überraschten Jaulen ins Gras stürzte. Zeitgleich krachte es irgendwo in der Ferne. 

Sein Freund kam frei, stieß einen Laut von Unglauben und Erleichterung aus und krabbelte im Eiltempo Richtung Schule, wobei er ein zweites Mal von Johannes gerettet wurde. Der Hund hatte bereits die Verfolgung aufnehmen wollen, doch der Rothaarige packte seinen Schweif und zog ihn zurück. Zähnefletschend wirbelte der Streuner herum und stürzte sich auf Johannes. 

Amelie wollte ihm zu Hilfe eilen, als sie hinter sich Raffas Schreie hörte. 

"Am!! AAAAM!" 

Mit rasendem Herzen fuhr sie herum und sah, wie der silberne Schopf ihrer Freundin mit einem Gurgeln unter der Wasseroberfläche des Löschteichs verschwand. Nur ihre Hände schwangen noch wild über Wasser, den Welpen fest umklammert. 

Amelie wurde heiß und kalt. Sie kann nicht schwimmen! Sie stolperte die wenigen Meter zum steilen Abhang, wo Blutspuren das Gras befleckten. Raffa tauchte wieder auf, nur um gleich wieder unterzutauchen. Das Wasser schwappte wie ein hungriges Monster hin und her, Regentropfen landeten wie Hagelkörner auf der dunklen Oberfläche. Eine roter Schimmer breitete sich um Raffa im Wasser aus. 

Ohne zu zögern, sprang Amelie kopfüber hinab. Das kühle Nass schlug über ihr zusammen und für einen kurzen Moment Unterwasser war es totenstill. In Sekundenschnelle wurde ihre Schuluniform tonnenschwer, doch sie bemerkte es kaum. Mit starken Tritten stieß sie zurück durch die Wasseroberfläche und suchte mit umherwirbelnden Kopf nach der Hand ihrer Freundin, aber dort war niemand mehr. Nur noch der schüttende Regen, die Wellen und die steilen, dunklen Hänge. 

Sie holte tief Luft und tauchte wieder unter. Stille legte sich über ihre Ohren. Suchte mit offenen Augen nach irgendeiner Bewegung. Nach links, nach rechts, nichts. Nur Reste und Abfallfetzen, die wie Geister dahintrieben.
Da sah sie plötzlich aus dem Augenwinkel ein paar verlorene Luftblasen, die aus der Tiefe aufstiegen. Mit einer Flut von Erleichterung und Hoffnung tauchte sie hinab in die Finsternis und ignorierte jeden Zweifel, dass sie vielleicht zu spät war.
Tiefer und tiefer folgte sie den hauchzarten Lebensfunken. Die Dunkelheit schloss sich wie ein schwarzer Mantel um sie, die Luftblasen waren ihre leuchtenden Laternen in der Nacht. Sie wusste nicht, wie lang sie geschwommen war, bis sie endlich ihre Freundin fand. Sie trieb bewusstlos knapp über dem Boden, den Welpen immer noch in der Hand als würde sie ihn über das Wasser heben. 

Eine kümmerliche letzte Luftblase tauchte zwischen ihren Lippen auf und trudelte langsam nach oben. Der Welpe bewegte sich nicht. 

Ich bin nicht zu spät. Ich bin nicht zu spät. Ich bin nicht zu spät. 

 Amelie überwand die letzte Distanz zwischen ihnen, packte den schweren Körper ihrer Freundin unter den Achseln und stieß sich vom Boden ab. Über ihr sah sie in weiter Ferne den Lichtschimmer des Tageslichts, dem sie entgegenschwamm. Daran, wie endlos weit entfernt er wirkte, wollte sie nicht denken. Immer nach oben, entlang der dünnen Blutspur, die langsam zerfaserte. 

Haltet durch, ihr beide! Bitte! feuerte sie stumm die beiden Bewusstlosen in ihren Armen an, während sie Beinschlag für Beinschlag nach oben strampelte. Irgendwo im Unterbewusstsein stellte sie überrascht fest, dass sie immer noch Luft hatte und sich erstaunlich ruhig fühlte. Sie konnte das schaffen. Sie zog die Beine an, drückte sie durch. Zog sie an, drückte sie durch. Zog, drückte, zog, drückte. 

Das Wasser wurde heller und heller, bis die wild tanzende Wasseroberfläche nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt war. Eine letzte Anstrengung, dann durchbrach Amelie die Barriere und frische Luft strömte in ihren Körper. Regentropfen prasselten auf ihr Gesicht. Sie blinzelte sich das Wasser aus den Augen und schwamm zum Ufer, bedacht die Köpfe von Raffa und dem Welpen über Wasser zu halten.
Ein erstes gurgelndes Husten drang aus Raffas Mund und Amelie wurde ganz leicht ums Herz. Beflügelt griff sie nach dem kantigen Beckenrand aus Beton und zog sich mit dem Oberkörper soweit aus dem Wasser, dass sie Raffa über den Rand hieven konnte. 

Als sie die beiden endlich aus dem Teich und den steilen Abhang hinaufgeschafft hatte, hatte ihre Freundin bereits den halben Löschteich ausgespuckt und der kleine Welpe hatte zumindest geblinzelt, als hätten die vielen Bewegungen ihn aus einem tiefen Schlaf geweckt. Komplett durchnässt, aber unendlich froh umarmte sie die zitternde Raffa, die langsam wieder zu sich kam. "Ich hab dich, Raffa. Du hast es geschafft!", lachte sie und zitterte mit ihr gemeinsam im eisigen Wind. Oder vielleicht war es auch nur der Schock, der sich langsam legte. 

Um sie herum tobte der regnerische Sturm und sorgte dafür, dass sie außerhalb des Teichs nicht viel trockener waren als innerhalb. Von Johannes und seinen Freunden war keine Spur mehr. Auch nicht von dem großen Hund. Das wunderte Amelie, sie war so sicher gewesen, dass es die Mutter des Welpen war. Wo ist sie nur hin?

Eine ganze Weile saßen sie da, kümmerten sich umeinander und um den unterkühlten kleinen Schnuffel. Er war schwach, aber atmete. Raffas Blick war noch etwas trüb und sie sprach nicht viel, aber als der Welpe an ihrem Daumen leckte, konnte sie ein bisschen lächeln. Amelie plumpste neben Raffa ins Gras und ließ sich ins Gesicht regnen. Ihre Beine waren gerade zu schwach, um noch weiter ins Trockene zu laufen. Den Welpen schob sie vorsichtig in ihre Halsbeuge, um ihn zu wärmen. Mit langsamen Bewegungen streichelte sie erschöpft über das nasse Fell. Der Welpe schien krank zu sein oder missgebildet, denn unter seinem Fell spürte Amelie viele Knubbel und Schwellungen. Auch eines seiner Ohren fühlte sich hart an. Traurig strich sie mit ihrem Finger über seine schniefende  Schnauze.

In ihrem Kopf herrschte eine ungewohnte Ruhe. Sie hatte ihre Freundin gerettet. Der kleine Welpe kuschelte an ihrem Körper. Sie lebte den schrecklichsten, aber abenteuerlichsten Tag in ihrem kurzen Leben. 

Amelie dachte an das Leben, das sie gewohnt war. So etwas Spannendes war nicht vorgesehen. Das Aufregendste in ihrem kurzen Leben waren die wenigen Momente, wo sie die Villa ihrer Mutter verlassen durfte, um ins Freibad zu gehen oder ins Kino. Natürlich immer in Begleitung von einem der Wachhunde ihrer Mutter, die mit ihrem Service-Hund-Ausweis überall hinein durften.
Raffa nannte Amelies Mutter oft einen Kontroll-Freak oder Psycho oder so, das mochte Amelie gar nicht. Ihre Mutter war einfach vorsichtig und wollte sie in dieser riesigen Großstadt beschützen. Schließlich war Polterstadt im ganzen Land für seine Kriminalität bekannt. Aber auch für die vielen Süßwarengeschäfte. Und Luxus-Viertel. 

Ihre beste Freundin konnte das einfach nicht verstehen. Sie war in allem das Gegenteil. Amelie war ein wohlbehütetes Mädchen. Raffa lebte allein auf der Straße. So entkam sie dem Jugendamt, das immer wieder versuchte, sie einzufangen. Manchmal probierten die Beamten es mit einem Überraschungsbesuch in der Schule, doch Raffa kannte alle Fluchtwege und führte sie immer an der Nase herum. 

Raffa war wild und frei. Amelie war brav und behütet. Und obwohl keine von ihnen wie die andere werden wollte, waren sie von Tag eins unzertrennlich. 

"Amelie! Wie siehst du denn aus!"

Amelie zuckte zusammen und setzte sich blitzschnell auf. Ihr Herz machte einen Sprung. 

Mama!  Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder zu Tode erschrocken sein sollte. Eine große, rankenschlanke Frau stolzierte mit der Haltung einer Königin und in Begleitung von drei schneeweißen Schäferhunden den Hang hinab. Wie sie sich dabei in Stöckelschuhen nicht stolperte, war für Amelie immer wieder ein Wunder.
Ihr ozeanblauer Mantel wehte im Sturm und ihr Regenschirm flatterte wie eine gefangene Fledermaus mal hierhin und mal dahin.
Die offizielle Feuerwehrzufahrt im Schulzaun stand geöffnet und eine kleine Gruppe Erwachsener wartete dort mit gereckten Hälsen und bunten Regenschirmen. Sie erinnerten Amelie an Erdmännchen. 

Sie rappelte sich auf und warf einen besorgten Blick auf Raffa, die unbeteiligt auf den Löschteich starrte. Und auf den kleinen Welpen, der jetzt, wo sein warmes Nest verschwunden war, kläglich fiepte. Da umfing sie bereits der parfümierte Duft ihrer Mutter. Die Frau ging in die Hocke und legte eine Hand auf Amelies Schultern. Der Regenschirm bildete eine trockene Höhle über ihnen. Bedrückt erkannte sie, dass ihre Mutter sichtlich bemüht war, ihren Zorn zu zügeln. 

"Ich.. ich...", stotterte sie im Versuch einer Erklärung, doch ihre Mutter schnitt ihr das Wort ab. "Kein Wort darüber. Wir reden zuhause." Amelies Herz wurde schwer und ihre Schultern sackten nach unten. "Ja, Mama..." 

Ihre Mutter scannte sie von oben bis unten. "Du bist klatschnass!" Ihre zarten Finger patschten an ihr herum und ihr entsetztes Kopfschütteln ließen die schweren Goldohrringe hin und her baumeln. "Und eiskalt!" Amelie war froh, dass neben der Wut auch Sorge in ihrer Stimme mitschwang. Trotzdem bildete sie sich ein, für ihre Mutter immer ein enttäuschender Anblick zu sein.

Ihre Mutter sah kurz zu Raffa hinüber und verzog den Mund. Doch erst als sie den Welpen im Gras entdeckte, wurde ihr Gesicht wirklich finster. Amelie wusste, was kommen würde.

"Dieser Welpe." 

"Ja?"

"Hast du ihn angefasst?"

"Er war... Johannes... Er hat ihn ins-"

"Hast du ihn angefasst?!", fauchte ihre Mutter und ihre Hände bohrten sich schmerzhaft in ihre Schultern. Amelie schrumpfte in sich zusammen. 

"Ja, Mama. Ja, hab ich.", flüsterte sie leise. 

Ihre Mutter war für einen kurzen Moment sprachlos. Mit großen Augen starrte sie ihre Tochter an, als würde sie sie zum ersten Mal richtig sehen. Amelie starrte beklommen auf den Boden. 

"Ist das das erste Mal, dass du einen Hund anfasst?" Ihre Stimme bebte. Amelie fühlte sich schrecklich. Sie hatte noch nie verstanden, warum sie Hunde nicht streicheln durfte, aber sie wusste, wie wichtig es ihrer Mutter war. Seit sie sich erinnern konnte, hatte ihre Mama es ihr immer wieder eingebläut. 

Noch bevor es Amelie beichten konnte, sah sie, dass ihre Mutter die Antwort schon selbst erkannt hatte. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Fassungslosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mehrmals öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder. 

Dann stand sie auf und zog die nasse Amelie hinter sich her. Die drei Schäferhunde hefteten sich an ihre Fersen und begleiteten sie wie weiße Schatten. Amelie sträubte sich. "Warte, Mama! Raffa ist verletzt und der Welpe-" "Darum kümmert sich das Schulpersonal, komm jetzt!", unterbrach die Frau mit den wehenden, schwarzen Haaren sie scharf und stackte weiter den Hang hinauf.
Amelie blickte über die Schulter und sah Raffa bekümmert hinterher, die den Welpen auf den Schoß genommen hatte und immer noch auf den Löschteich starrte. 
Die stolzen Wachhunde drückten sich links und rechts an ihre Beine, wie um sie zu ermahnen, und Amelie drehte ihrer Freundin schweren Herzen den Rücken zu. 

Sie sind so anders als meine Straßenhunde... dachte sie traurig.
Wenn sie nicht gerade an ihrer Mutter klebten, waren sie zurückhaltend und kalt. Wenn sie ihnen Leckerlis aus der Küche klaute und vor die Schnauze hielt, drehten sie sich weg. 

Ihre Mutter hatte noch einen weiteren Hund, Anais, eine schwarze Dobermann-Hündin, deren Haupt-Aufgabe es war, Amelie zu beschützen. Sie lag nachts neben ihrem Bett und begleitete sie jeden Tag zur Schule, bevor sie allein zurück zur Villa lief. Sie war die einzige, die auf Amelie reagierte, mit dem Schwanz wedelte und auch mal mit ihr über den Teppich rollte. 

Doch Anais war zuhause. Im Schlepptau ihrer Mutter fühlte sie sich plötzlich einsam und verloren.

Oben angekommen wurden sie regelrecht umzingelt und mit Fragen bombardiert. Amelie erkannte den Hausmeister, ihre Mathe-Lehrerin Frau Kummerich und Herr Duddluff. Die anderen sahen nach Putzpersonal aus und in vorderster Reihe stand die krumme Gestalt des Direktors. Sein bekannter, knallroter Anzug mit den goldenen Stickereien leuchtete geradezu im Halbdunkeln des Sturms. Amelie versteckte sich hinter dem Mantel ihrer Mutter. 

"Frau Bauer, was ist passiert?", fragte der Direktor und trotz seiner leisen Stimme verstummte das Gezeter um ihn herum. Amelie hatte noch nie seine Stimme gehört. Meistens war es der stellvertretende Direktor - ein junger, athletischer Mann mit stechendem Blick - der die Durchsagen machte oder Reden auf den Schulfesten hielt,  während sich der Direktor mit seinem verrunzelten Gesicht und weißem Bart irgendwo im Hintergrund hielt. 

"Das müssen Sie mir erklären, Herr Direktor. Meine Tochter kommt nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, ich komme hierher und finde sie klatschnass außerhalb des Schulgeländes.", erwiderte ihre Mutter kühl. "Sieht aus, als wäre hier einiges passiert." Mit einem Nicken deutete sie Richtung Schulgebäude. Amelie duckte sich, um durch die Beine der Versammelten hindurch zu spähen. Rotes und blaues Licht flackerte über den Asphalt. Ein Krankenwagen und eine Gruppe Menschen stand vor dem Schultor und Amelie versteifte, als sie Johannes und Oscar erkannte, die von einem Sanitäter verarztet wurden. 

Sie umklammerte die Hand ihrer Mutter noch fester und war auf einmal ganz froh, dass die Schäferhunde so nah bei ihr waren. 

"Herr Duddluff kam zu mir und meinte, Ihre Tochter wäre ganz aufgebracht gewesen", wisperte er. Es klang als würden hauchzarte Blätter im Wind rascheln. Rau, aber sanft. Amelie fühlte sich gleich ein Stück sicherer. 
"Da gingen wir gemeinsam hinaus und fanden Herr Besenfein und Frau Kummerich mit zwei blutenden Sechstklässlern. Die jungen Herren meinten, ein Straßenhund wäre durch die Mauer gelangt und habe sie angegriffen." Amelie schnappte nach Luft. Was für ein Lügner!

Der Direktor stützte sich auf seinen kunstvoll verzierten Gehstock, als wäre er müde von so vielen Worten. Frau Kummerich hielt ihm besorgt einen ebenfalls teuer aussehenden Regenschirm mit Goldgriff über seinen Kopf.

  Ihre Mutter legte den Kopf schief und Amelie sah die Venen an ihren Fingern durch den dünnen Stoff ihrer Damenhandschuhe anschwellen. Mama war wütend. Sehr wütend. Doch als sie sprach, versteckte sie das erstaunlich gut. 

"Wie kann es sein, dass die Kinder hinter den Zaun gekommen sind?", fragte sie und sah den Direktor mit so einer Intensität an, dass es Amelie vorkam, als wäre im Stillen eine ganz andere Unterhaltung im Gange. Der Direktor entgegnete ruhig ihren Blick. "Das, ehrenwerte Frau Bauer, ist mir ebenfalls ein Rästel", hauchte er und strich sich mit einer Hand in Zeitlupe über seinen geflochtenen Bart. 

"Jedenfalls scheinen die Kinder ziemlich unter Schock zu stehen." Er senkte seinen Blick zu Amelie hinunter. Sie errötete und zog sich eilig hinter ihrer Mutter zurück. "Lassen Sie uns alles Weitere morgen erörtern, wenn wir trocken und ausgeruht sind." 

"Aber Herr Direktor", meldete sich eine aufgebrachte Stimme. Herr Duddluff schob sich nach vorne zu ihnen und seine Backen glänzten vor Schweiß. "Was ist mit Fräulein Bauer? Sie ist in den Löschteich gesprungen!" Seine Armen gestikulierten so wild, dass die anderen zurückweichen mussten, um keine Ohrfeige zu bekommen.
"Zwölf Minuten, Herr Direktor! Zwölf Minuten war sie unter Wasser! Wie ist das möglich?" Er versuchte, einen Blick auf Amelie zu werfen, aber die versuchte, mit dem Mantel ihrer Mutter zu verschmelzen und unsichtbar zu werden. Zwölf Minuten? Wovon redete er?

"Und dann hat sie Fräulein Wozniak aus dem Wasser gezogen! Fräulein Wozniak war bewusstlos, Herr Direktor!", blubberte Herr Duddluff mit weit aufgerissenen Augen. "BEWUSSTLOS!" Er sah aus, als wollte er den Direktor an den Schultern packen. Der Direktor runzelte die Stirn.

Wildes Getuschel und weitere Fragen wurden laut, da hob ihre Mutter gebieterisch die Hand. Alle verstummten und starrten ihren weißen Handschuh an, als wäre er eine Waffe. "Ich verbiete mir hier weitere Ausuferungen in Anwesenheit meiner Tochter", sagte sie mit einer Schärfe, die Herr Duddluffs Koteletten abrasieren hätte können.
 "Amelie ist eindeutig unter Schock und wir werden diese Angelegenheit morgen klären."

Alle sagen, ich wäre unter Schock. Warum fragen sie nicht mal mich? dachte Amelie verwirrt und ein bisschen missmutig, sagte aber nichts. 

Die Entscheidung ihrer Mutter klang endgültig und der Direktor sah nicht aus, als würde er etwas dagegen einwenden wollen. Im Gegensatz zum Rest der Anwesenden. Er nickte nur und klopfte mit seinem Stock auf den nassen Asphalt.  "Ganz meiner Meinung."
Und zu Herr Duddluff, der seinen Mund schon wieder geöffnet hatte, sagte er: "Ihre Sorge um unsere Schüler und Schülerinnen ehrt  Sie. Helfen Sie doch bitte Frau Wozniak, sie muss dringend untersucht werden."

Amelie bekam nicht mehr mit, ob Herr Duddluff noch etwas erwiderte, denn ihre Mutter hatte sie schon fort gezogen. Sie strauchelte im Versuch, mit ihr Schritt zu halten. "Mama, das ist nicht wahr", japste sie und zog an ihrer Hand. "Johannes hat den Welpen-" "SEI STILL!", fuhr ihre Mutter sie so heftig an, dass sie zusammenzuckte. Sie war abrupt stehen geblieben und Feuer stand in ihren Augen. Sie ging in die Hocke und ergriff ihren Unterarm. "Tu mir nur diesen einen Gefallen! Warte, bis wir zuhause sind!" 

Amelie musste der Schreck ins Gesicht geschrieben sein, denn der angespannte Blick ihrer Mutter wurde sanft. "Es tut mir leid, meine Kleine." Sie rieb sich mit der Hand, die den Regenschirm hielt, die Stirn und atmete kurz durch.  "Das ist alles ziemlich viel. Heute ist ein besonderer Tag und du bist nicht nach Hause gekommen... Ich hoffe, ich kann dir das alles heute noch erklären." Sie rang sich ein Lächeln ab. "Hast du noch so viel Geduld mit mir?" 

Sofort hatte Amelie ein schlechtes Gewissen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter wegen ihr so aufgebracht war. "Ja, Mama. Klar", murmelte sie und lächelte vorsichtig zurück. Ihre Mutter wuschelte ihr durch das Haar. "Danke, Amelie." Gemeinsam standen sie auf und machten sich auf den Weg zum Schultor, vorbei an dem Sanitäter, dessen Blaulicht immer noch vor sich hin leuchtete.
Es war leicht zu erkennen, dass die zwei Erwachsenen, die mit den Sanitätern redeten, Johannes' Eltern waren. Sie hatten das gleiche feuerrote Haar und Gesichter, die Amelie alles andere als vertrauenserweckend fand.
 Als sie mit ihrer Mutter an ihnen vorbeigingen, unterbrachen sie das Gespräch und starrten sie mit unverhohlener Abneigung an. Ihre Mutter blieb stehen und Amelie hob den Kopf. Ihre Mutter starrte mit der gleichen Abneigung zurück. Für eine ganze Weile standen sie so gegenüber und Amelie wurde immer unwohler in ihrer Haut.

Sie vermied gewissenhaft, in Richtung von Johannes und Oscar zu sehen und wollte nur weg von diesem Elternpaar, das aussah, als würde es einem der Modelmagazine ihrer Mitschülerinnen entspringen. Der Vater war mindestens einen Meter neunzig und hatte einen messerscharf rasierten, roten Bart und mehrere geflochtene Zöpfe, die wie eine Mähne über seine Schultern fielen. Er sah aus, als könnte er Amelie mit einer seiner ringbesetzten Hände zerquetschen. Seine Mutter hingegen war so zierlich, dass der Sturm sie eigentlich hätte umpusten müssen. Ihr Gesicht war schmal und insgesamt war sie vielleicht ein Drittel ihres Mannes. Ihre hochgezogenen Schultern und nach innen gedrehten Füße waren ein starker Kontrast zu dem imposanten, breitbeinigen Stand des Vaters. 

Nur was ihren feindseligen Blick anging, wirkten sie ganz harmonisch. 

Amelie stellte neugierig fest, dass in den verschränkten Armen der Frau eine pechschwarze Katze lag. Sie hatte sie auf den ersten Blick nicht gesehen, da Johannes' Eltern inklusive ihrer Handschuhe komplett schwarz gekleidet waren. Selbst die bernsteinfarbenen Augen der Katze tarnten sich, weil sie den goldenen Knöpfen ähnelten. Sie trug ein teuer aussehendes Halsband. 

"Frau Bauer.", sagte der Vater und nickte Amelies Mutter höflich zu. Es war eine brockenharte Stimme.  

Ihre Mutter nickte zurück. "Herr Van Jägersfeld. Frau Van Jägersfeld. " Ihre Worte klangen gelassen, aber ihre Tochter konnte die Giftigkeit in ihnen hören. 

Amelie sah verwirrt zwischen ihrer Mutter und dem gruseligen Mann hin und her. Wollten sie sich gerade mit ihren Nachnamen beleidigen? Hä?

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich ihre Mutter endlich wieder in Bewegung und sie hätte vor Erleichterung aufschreien können. Das war so was von unangenehm gewesen! 

Kurz bevor sie aus dem Schultor traten und um die Ecke zum Parkplatz bogen, wagte Amelie doch noch einen Blick über die Schulter. Johannes saß mit gesenktem Kopf auf den Stufen zum Schulgebäude, sein Vater thronte über ihm und redete auf ihn ein. Verwundert stellte sie fest, dass er auf einmal ganz klein und elend aussah und nichts mehr an den gefährlichen Tyrannen von vorher erinnerte. Sie hoffte, dass sein Vater ihn richtig zur Schnecke machen würde.

"Na dann", riss ihre Mutter sie aus ihren Verwünschungen. "Lass uns nach Hause fahren." Sie ließ ihre Hand los, um in die Limousine zu steigen, während einer der Schäferhunde die Tür aufhielt.  Amelie stieg hinten ein und ließ sich müde auf das glänzende Leder plumpsen. Ihre nasse Uniform machte ein schmatzendes Geräusch auf dem Polster.

Als der Motor anfing, leise zu brummen, lächelte ihre Mutter ihr verschwörerisch durch den Rückspiegel zu. "Du hast den perfekten Tag ausgesucht. Es wird Zeit, dass ich dir endlich alles erzähle." 




----------------------------------------------


Yeeey, ein weiteres Kapitel geschafft! <3 

Danke für all das inspirierende Feedback, das beflügelt mich so sehr! ‎‧₊˚✧ ૮ ˶ᵔ ᵕ ᵔ˶ ა ✧˚₊‧  Ihr seid das Lebensblut einer jeden Autorin!

Wir sehen uns im nächsten Kapitel! (づ๑•ᴗ•๑)づ♡ HASTA LA VISTA <3

Eure Hannah! 

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro