Kapitel 38
Endlich, das Haus war in Sicht! Länger hätte Natalie das Schweigen nicht ausgehalten. Noch bevor sie die Einfahrt überhaupt erreicht hatten, suchte Natalie in ihrer Tasche nach ihrem Schlüssel und holte ihn hervor. Ihre Schritte beschleunigten sich und sie öffnete die Tür zu ihrem Heim. Nick trat – ein wenig zögerlich, so schien ihr – hinter ihr ein. Er schloss hinter sich die Tür und zog seine Schuhe aus. Nick war noch nicht allzu oft bei Natalie gewesen, aber mit ihren Eltern hatte er sich sofort angefreundet. Auch jetzt kam Natalies Mutter direkt auf ihn zu und umarmte ihn herzlich.
„Hallo, Nick. Schön, dass du da bist! Wie geht es dir?“
„Danke, gut. Ich hoffe, Ihnen auch?“ Schleimer. Lügner. Heuchler.
„Ich kann mich nicht beklagen. Natalie, nimmst du bitte Nicks Jacke? Möchtest du etwas trinken, Nick?“
Natalie ging zu Nick, um ihm die Jacke abzunehmen und er streifte dabei ihre Hand. Er tat es absichtlich; für sie war es ein Versehen.
„Nick? Wir haben Apfelsaftschorle, Orangensaft…“, fing Natalies Mutter an aufzuzählen, aber Nick unterbrach sie.
„Wenn es geht, nehme ich nur ein Glas Wasser, bitte.“
„Wie du willst. Ihr könnt ins Wohnzimmer gehen, dann bringe ich euch das Trinken. Natalie, was möchtest du?“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu.
„Auch nur Wasser.“
Natalies Mutter nickte. „Gut. Ich bringe es gleich und dann lasse ich euch in Ruhe lernen.“ Damit verschwand sie in die Küche. In dem Moment kam Janine die Treppe herunter und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie Nick sah.
„Hi, Nick! Wie geht es dir? Es ist schön dich zu sehen!“ Ihre ganze Körpersprache schrie förmlich nach Nicks Aufmerksamkeit, die ihr aber leider nicht zuteilwerden konnte, da Natalie ihr einen strafenden Blick zuwarf, der sie sofort verstummen ließ. Auch Nick wirkte sehr abweisend, woraufhin Janine mit roten Wangen auf dem Absatz kehrt machte und ebenfalls in der Küche verschwand. Natalie wandte sich kopfschüttelnd um und ging auf das Wohnzimmer zu. Nick folgte ihr.
„Setz dich wohin du willst.“ Natalie deutete auf die Couch und stellte ihren Ordner auf den Couchtisch. „Ich hole noch schnell meine Sachen.“
In ihrem Zimmer schmiss sie ihre Tasche in die Ecke, holte ihr Physikbuch, einen Block und einen Kugelschreiber. Sie lief wieder nach unten zu Nick und fand ihn mit ihrem Ordner auf dem Schoß vor. Als er sie bemerkte sah er hoch.
„Ich hab mir schon mal deine Hefteinträge angesehen. Hoffe, das ist in Ordnung?“
„Klar.“ Ihr Magen zog sich zusammen und sie musste die aufsteigenden Tränen zurückkämpfen. Sie konnte es nicht fassen, dass er so etwas überhaupt fragen musste. Eine Freundschaft konnte doch nicht innerhalb von zwei Tagen so zerbrechen. Sie schloss die Tür, um ein paar Sekunden zu gewinnen und sich wieder zu fangen. Wie konnten Kleinigkeiten so weh tun?
Sie setzte sich ebenfalls und schenkte Nick und sich etwas aus der Karaffe ein, die ihre Mutter inzwischen hingestellte hatte.
„Danke.“ Nick sah kurz auf, ehe er sich wieder ihren Aufzeichnungen widmete.
Da sie nicht wusste, was sie in der Zwischenzeit mit sich anfangen sollte, nahm sie einen Schluck Wasser. Die Situation erinnerte sie ein wenig an das Date mit Felix. Der Gedanke daran war so unpassend, dass sie kurz den Drang verspürte zu lachen und sich dabei beinahe verschluckte, aber so schnell wie der Reiz gekommen war, verschwand er auch wieder.
„Kannst du die Formeln für den waagrechten Wurf schon?“, fragte Nick ohne von dem Ordner aufzusehen.
„Ja.“
„Okay, dann rechnen wir erst ein paar Aufgaben. Dann seh ich auch wo dein Problem liegt. Kann ich dein Buch kurz haben?“ Er deutete auf das Buch, das sie extra für Nick direkt vor ihm auf den Tisch gelegt hatte. Sie dachte, das wäre offensichtlich genug gewesen.
„Natürlich.“ Wieder so eine Kleinigkeit.
Er blätterte kurz, fand eine passende Aufgabe und reichte ihr das Buch. „Seite hundertzwei, Aufgabe drei.“
Sie las die Aufgabe und versuchte die tausend anderen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, die nicht gerade dazu beitrugen ihre Konzentration zu steigern. Sie glaubte zu wissen, wie sie diese Aufgabe angehen musste, nahm Stift und Block und begann zu schreiben. Der erste Schritt war ihr vollkommen klar, aber dann wusste sie schon nicht mehr, wie sie weitermachen sollte. Sie untersuchte die Aufgabenstellung auf weitere Hinweise und hoffte auf die große Erleuchtung.
Aber diese blieb aus. Wie immer.
„Ich hänge.“ Natalie reichte Nick ihren Block. Er warf einen Blick darauf und verglich es mit seinem Ergebnis. Erst jetzt bemerkte sie, dass auch er die Aufgabe gerechnet hatte, aber während sie zwei Zeilen geschrieben hatte, hatte er bereits eine halbe Seite gerechnet.
„Das Ergebnis ist richtig. Lies die Aufgabe nochmal und sag mir dann was noch gesucht ist.“
Das hatte sie zwar gerade ohne Erfolg getan, tat es aber trotzdem noch einmal.
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Zehn Minuten später hatten sie mit Mühe und Not die Aufgabe fertiggestellt.
„Ich glaube, ich weiß jetzt wo dein Problem liegt. Du kannst die Verbindung zwischen den Formeln nicht herstellen.“
„Und was kann ich dagegen machen?“
Er blickte auf und sah sie das erste Mal richtig an. „Aufgaben rechnen. Ganz viele Aufgaben rechnen.“ Nick senkte seinen Blick wieder auf das Lehrbuch. „Mach gleich mit Aufgabe fünf weiter.“
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Nick blickte auf die Uhr. Zum Glück war es schon so spät; sie hatten bereits eine Stunde gelernt. Sie hatten gerade eine weitere Aufgabe beendet und er musste sich auf den Weg zu dem verhassten Tanzkurs machen.
„Ich muss jetzt los.“
„Okay.“ Natalie dachte betrübt, es sei verständlich, dass er jetzt weg wollte. Er hatte seine Pflichtstunde abgesessen. „Wenn du möchtest, sehe ich mich nach jemand anderem um, der mit mir lernen kann.“ Natalie konnte Nick nicht ansehen, während sie diese Worte aussprach, aber als er nicht antwortete, zwang sie sich doch aufzusehen. Nick sah sie an und für einen kurzen Moment war es, als könnte sie ihre eigenen Gefühle in seinen Augen ablesen.
„Du weißt, dass du so schnell niemanden findest“, antwortete er endlich. „Außerdem habe ich versprochen mit dir zu lernen und ich halte meine Versprechen. Wir sehen uns also nächste Woche.“ Er sagte nicht, dass sie sich morgen sehen würden.
Die nächste Kleinigkeit.
„Ich bring dich zur Tür.“
„Ist schon in Ordnung, ich finde alleine raus.“
Warum musste er das tun? Konnte er nicht wenigstens versuchen halbwegs normal mit ihr umzugehen? Tat er ihr absichtlich weh? Wollte er ihr zeigen, dass es so etwas wie Freundschaft nicht mehr zwischen ihnen gab? Konnte das wirklich sein Ernst sein?
„Bis nächste Woche.“ Natalie blieb sitzen, während Nick das Wohnzimmer verließ. Sie hörte, wie er sich von ihrer Mutter verabschiedete. Kurz darauf vernahm sie das Geräusch der Haustür.
Er war weg.
Und mit ihm verließ eine einzige Träne ihr Auge.
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Eine richtig gemütliche Nachhilfestunde, was?
Sagt mir, was ihr denkt und wie ihr das Kapitel findet!
<3<3<3
HeyGuys77
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