Hoffnung und Verzweiflung
Die folgenden Tage verbrachten Faina und Kilian jede freie Minute miteinander. Am 24. Dezember schneite es jedoch, was es ihnen über die Weihnachtstage erschwerte sich zu treffen. Alle Geschäfte und Cafés und auch die Bibliotheken waren wegen der Feiertage geschlossen und draußen war es zu kalt, um sich für mehr als einen Spaziergang zu treffen. Da Faina aber auf keinen Fall riskieren konnte, dass man sie verdächtigte, Kilian zu helfen, konnten sie sich auch nicht bei ihr zu Hause treffen und bei ihm zu Hause ging es auch nicht. Sie waren sich einig, dass seine Familie besser nichts davon erfahren sollte, dass sie sich trafen, bis seine Aufgabe erledigt und er initiiert war.
Er saß also die meiste Zeit zu Hause und verbrachte die Zeit damit, in einem Buch, das Faina ihm mitgegeben hatte, zu blättern. Diverse Rituale zum Auffinden verlorener Gegenstände fand er darin und notierte sie sich, obwohl ihm keines davon geeignet erschien. Man musste entweder genau wissen, wie der Gegenstand aussah - teilweise sogar ein Bild davon besitzen - oder ihn selbst verloren haben, manchmal musste man auch ungefähr wissen, wo er sich befand.
Gerade saß er am Schreibtisch und las etwas über ein Ritual, bei dem man sich auf eine Kerzenflamme konzentrieren sollte, bis man in der Flamme den Gegenstand sah, den man suchte, als es an seiner Tür klopfte.
Ohne nachzudenken, sagte er „herein" und bemerkte seinen Fehler erst, als seine Mutter sein Zimmer betrat und ihr Blick auf das Buch fiel, das auf seinem Schreibtisch lag.
„Woher hast du dieses Buch?", fragte sie ihn. Er hatte gehofft, dass sie erst fragen würde, was es für ein Buch war, dann hätte er vielleicht etwas Unverfängliches erfinden können. Vermutlich wäre er damit auch nicht davongekommen, aber er hätte eine Chance gehabt.
„Jemand hat es mir ausgeliehen", sagte er gequält. Sara verschränkte die Arme vor der Brust. Kilian seufzte.
„Mama, ich kann dir nicht sagen, woher ich es habe", fuhr er schließlich fort.
„Dieses Buch enthält Rituale und Zaubersprüche für fortgeschrittene Hexen", sagte sie und Kilian zuckte zusammen.
„Etwas so Komplexes darfst du auf keinen Fall alleine durchführen. Wer auch immer es dir gegeben hat, hat höchst fahrlässig gehandelt und sich großen Ärger eingehandelt. Dass deine Schwester so unbedacht handelt, ist unmöglich!"
Bevor Kilian ihr erklären konnte, dass er das Buch nicht von Selena hatte, klappte sie es zu und nahm es mit, als sie das Zimmer wieder verließ. Er versuchte ihr hinterherzurufen, doch seine Mutter stürmte die Treppe hinunter und ließ sich nicht aufhalten.
Kilian schrieb seiner Schwester schnell eine Nachricht, damit sie nicht unvorbereitet in den Sturm geriet, der ihr nun drohte. Und damit sie wusste, dass es ein Missverständnis war. Er hatte seiner Schwester im laufe der Jahre schon viele Streiche gespielt, aber sie so bei ihrer Mutter anzuschwärzen, wäre wirklich gemein.
Danach schrieb er Faina, dass seine Mutter das Buch konfisziert hatte. Er versicherte ihr, dass er sich bemühen würde, es wieder aufzutreiben, doch Faina beruhigte ihn:
„Ist halb so wild. Keine Eile."
„Sicher?"
„Ja klar. Du hast gerade etwas Wichtigeres zu suchen, als das Buch. Ich glaube eh, dass da nichts so richtig Passendes drin ist"
„Ja, so schien es mir auch."
„Ich habe bereits ein neues Buch gefunden."
„Und, vielversprechend?"
„Wir werden sehen. Ich will nicht zu viel versprechen"
„Treffen wir uns morgen wieder?"
„Na klar. Unser Café ist nach Weihnachten wieder geöffnet"
Mit einem Kuss-Emoji beendete sie die Nachricht und Kilian kam sich sehr albern dabei vor, wie ihm dieses kleine gelbe Bildchen das Herz wärmte.
*
Am Abend setzten die Henots sich gemeinsam auf den Dachboden und meditierten zum Duft speziell für die Raunächte zusammengestellter Räuchermischungen.
"Wacholder zur Reinigung und Lavendel für den Schutz", erklärte Sara Henot ihrem Sohn, während sie die getrockneten Pflanzenteile in die Räucherschale gab. Kilian machte sich eine mentale Notiz. Er hatte seit den Julfest-Vorbereitungen begonnen, sein Wissen über all die Kleinigkeiten, die Magie im Alltag einer Hexe ausmachten, förmlich aufzusaugen. Und wenn Lavendel schützte, konnte er davon wohl nicht genug bekommen.
Kilian dachte in den letzten Tagen wieder mehr an seine Aufgabe. Doch je mehr er darüber nachdachte, umso größer wurde seine Verzweiflung, was seinen Wunsch nach Ablenkung nur immer weiter vergrößerte. Lu würde ihn jetzt als "Ehrenbürger der Prokrasti-Nation" bezeichnen. Der Gedanke, der ihn eigentlich hätte aufheitern sollen, verdüsterte seine Stimmung jedoch weiter.
„Was ist los, Kilian? Du wirkst sehr bedrückt", sagte seine Mutter unvermittelt zu ihm. Da platzte es aus ihm heraus:
„Was los ist? Ich werde in ein paar Wochen sterben, das ist los! Alle Spuren führen ins Nichts und jede reelle kleine Chance wird mir von irgendwem genommen! Dieses beschissene Schwert werde ich nie finden, weil es wahrscheinlich nie existiert hat!", rief er heftig gestikulierend.
Seine Großmutter rümpfte tadelnd die Nase, seine Mutter holte erschrocken Luft und seine Schwester grinste belustigt.
„Ich habe heute vielleicht etwas überreagiert wegen des Buchs. Aber es enthält keine geeigneten Zauber. Ich habe alles geprüft", erklärte Sara ihm mit Nachdruck. Sie zog die Stirn kraus und betrachtete ihn mit Bestürzung.
„Es geht nicht um das Buch. Nicht nur. Ach, keine Ahnung. Ich komme einfach nicht weiter und weiß nicht, was ich noch tun soll", gab er frustriert zurück und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Wir werden das durchstehen. Gemeinsam als Familie. Du darfst nicht verzweifeln, noch ist es nicht zu Ende", sagte seine Großmutter schließlich und legte die Arme um ihn. Seine Schwester und seine Mutter folgten ihrem Beispiel und so wurde Kilian in ein großes Umarmungsknäuel gewickelt, bis er nicht umhin konnte zu lachen.
„Ist ja gut. Ich versuche positiver zu denken, wenn ihr mich wieder loslasst!"
*
Sein Optimismus verflog jedoch schnell wieder, als er in seinem Zimmer seine Aufzeichnungen und Möglichkeiten durchging. Er hatte nur noch etwa anderthalb Monate Zeit und in den letzten fast zwei Monaten kaum etwas Sinnvolles zu dem Thema gefunden.
Kilian tat das, was er immer tat, wenn er nicht weiter wusste: Er nahm sein Handy zur Hand, um Lu zu schreiben.
Dann fiel ihm ein, dass sie beleidigt war. Er verstand immer noch nicht richtig, warum. War sie wirklich eifersüchtig? Das war doch total albern. Er musste das mit ihr irgendwie klären.
Da er das normalerweise zweitbeste - seine Schwester fragen - auch nicht tun konnte, ohne von Faina zu erzählen, wendete er sich an seine neue Option: Faina.
"Ich habe dir gar nicht von meinem letzten Gespräch mit Lu erzählt, oder?", fragte er sie, obwohl er wusste, dass er es nicht getan hatte.
Er wartete eine Weile, bekam aber keine Antwort. Faina war das letzte Mal vor 2 Stunden online gewesen.
Frustriert warf sich Kilian auf sein Bett und starrte die Decke an, bis es Abendessen gab.
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