Die Suche beginnt
Als Kilian am nächsten Morgen aufwachte, traute er sich erst einmal nicht, seine Augen zu öffnen. Stattdessen lauschte er aufmerksam und sog durch die Nase tief Luft ein, um herauszufinden, ob er in seinem Zimmer war. Er hatte von einem Wald geträumt. Feuchte, kühle Luft, Nebelschwaden zwischen dunkelgrün belaubten Zweigen, weiches Moos zwischen seinen nackten Füßen, knackende Zweige und Vogelrufe. Alles war ihm so real vorgekommen, doch nun war davon nichts mehr auszumachen, weshalb er sich schließlich doch dazu durchrang, prüfend das rechte und dank der Erkenntnis, dass keine Gefahr in Form eines verwandelten Zimmers lauerte, auch das linke Auge zu entblößen.
Sein Zimmer sah normal aus. Er nahm sein Handy zur Hand, um es auf Nachrichten zu überprüfen. Lu hatte ihm geschrieben, er solle bei ihr vorbeikommen, wenn er wach war und seine Schwester hatte gestern Nacht noch einige kryptische Andeutungen verschickt, dass man ihm helfen werde. Er sei nicht allein und solle sich nicht sorgen. Die Nachrichten klangen ominös und bewirkten eher das Gegenteil von Beruhigung.
Kilian erhob sich, um in Richtung seines Kleiderschranks zu schlurfen. Er zog sich eine dunkle Jeans und in Ermangelung eines sauberen Hoodies ein schwarzes Longsleeveshirt an und ging in die Küche, um zu frühstücken. Er war offenbar nicht als erstes wach, da ein Haufen Waffeln ihn auf einem Teller begrüßte, doch seine Mutter war, wie er dem Zettel neben dem Gebäckberg entnahm, bereits im Laden, um Inventur zu machen. Seine Mutter nutzte die gesetzlichen Feiertage immer gern dafür, so auch Allerheiligen. Achselzuckend lud er sich drei Waffeln auf den Teller und garnierte sie mit Apfelmus.
Während er aß, schrieb er Lu eine Nachricht:
"Mach mich gleich auf den Weg"
"OK. Gibts bei dir Frühstück?"
Kilian schickte ihr ein Bild von dem Waffelturm.
"Woah! Sara scheint nicht gut geschlafen zu haben" Vermutlich hatte sie Recht. Wenn seine Mutter aufgeregt war, hatte sie häufig Schlafprobleme, die sie durch Backen kompensierte.
"Ich bring dir welche mit" Da Lus Eltern häufig geschäftlich verreisten, war sie viel allein zu Hause und immer über Mahlzeiten froh, die sie nicht selbst zubereiten musste. Kilian packte also ein paar Waffeln in eine Dose und steckte sie in seinen Rucksack. Dann schlüpfte er in seinen Parka und verließ das Haus. Es war ein schöner, ruhiger Herbsttag. Die an den Bäumen verbliebenen Blätter leuchteten in der tiefstehenden Sonne und Kilian holte sein Fahrrad aus dem Schuppen neben der Garage, um zu Lu zu fahren. Auf dem Weg hing er seinen Gedanken nach. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte, ein mystisches Schwert zu suchen, doch das schöne Wetter stimmte ihn trotzdem zuversichtlich.
*
"Das ist doch alles Schwachsinn!", rief er frustriert aus und raufte sich die Haare. Lu sah von ihrem Laptop hoch und brachte nicht einmal mehr ein aufmunterndes Lächeln zustande.
Seit sechs Stunden durchsuchten sie arbeitsteilig das Internet nach jeglichen Erwähnungen des Schwerts und bewegten sich immer tiefer in einer Spirale aus Forschung, Spekulation und Mythen. Die Texte waren unvollständig, beruhten auf reinen Hypothesen, die sich nicht beweisen ließen, sie waren Volkssagen oder religiöser Abstammung. Über die historische Belegbarkeit der Existenz Siegfrieds wurde gestritten, wahrscheinlich gab es ihn nie, vielleicht wurden verschiedene germanische Persönlichkeiten zu ihm vermischt, möglicherweise war er ein als Arminius bekannter Heerführer in der Varusschlacht im Teutoburger Wald. Es gab einfach nichts Konkretes.
Noch uneindeutiger waren die Hinweise auf das Schwert. Odin habe es geschmiedet, es sei vor Siegfrieds Geburt zerstört und von Siegfried oder auch in seinem Auftrag neu geschmiedet worden oder aber es sei Teil des Hortes von König Nibelung gewesen, habe eigentlich Balmung geheißen und Siegfried habe es von dessen Erben als Lohn verlangt. Nach Siegfrieds entweder hinterlistiger oder einfach so erfolgten Ermordung, die meist durch Hagen von Tronje - welcher wiederum entweder der Bruder von König Gunther oder aber dessen Berater war - ausgeführt wurde, hat entweder Hagen das Schwert an sich genommen, mit dem dieser dann von Siegfrieds Frau Kriemhild erschlagen wurde, oder aber es fiel auf Umwegen in Hildebrands Hände, in vielen Fällen kommt Attila der Hunnenkönig vor und das Schwert wird später nicht mehr erwähnt.
Und nicht nur, dass es verschiedene Texte gab, die völlig unterschiedliche Versionen erzählten, es gab auch dutzende ähnlicher Geschichten über Helden und ihre Schwerter, die sie auch durchlasen und weiterverfolgten. Nicht nur König Artus' Excalibur, sondern auch Durendal, das Schwert, das Karl der Große von einem Engel übergeben bekommen haben soll, standen in "Aluhut-Foren", wie Lu sie nannte, im Verdacht, eigentlich Gram zu sein. Völlig von der Hand weisen konnte Kilian diese Idee nicht mehr, nachdem er sich stundenlang mit Texten aus dem Mittelalter und theoretischen Auseinandersetzungen über diese beschäftigt hatte.
"Sieh mal", sagte Lu schließlich waffelkauend und drehte den Laptop so, dass Kilian den Bildschirm sehen konnte. In der Toskana gab es ein Schwert, das angeblich seit 1180 in einem Felsen steckte. Kilian stellte auch hierzu eine Recherche an. Er fand vor allem Reiseberichte und Spinnereien. Aber was sollte man erwarten, wenn man nach sagenumwobenen Schwertern aus alten Volksmärchen suchte?
"Zumindest haben wir uns einen Überblick verschafft. Morgen können wir in der Uni-Bibliothek stöbern. Leon hat angeboten uns zu helfen", sagte sie beschwichtigend, als sie seine Enttäuschung bemerkte. Leon war Lus Nachbar und studierte Germanistik und Geschichte. Er hatte zwar keine Ahnung von dem Schwert und warum sie danach suchten, aber er kannte sich in der Bibliothek aus und würde ihnen helfen können, Literatur ausfindig zu machen. Kilian nickte.
Doch er spürte, wie sich neben Verzweiflung auch Resignation in seine Gefühle mischte. Kilian verabschiedete sich schließlich nach einer weiteren Stunde immer absurder werdender Recherche und machte sich auf den mittlerweile dunkelwerdenden Heimweg.
*
Als er sein Fahrrad verstaut hatte, schloss er die Haustür auf, warf seinen Schlüssel achtlos in das Körbchen, das auf dem Beistelltisch neben der Tür stand und ließ diese ins Schloss fallen.
"Kilian?", rief seine Mutter aus dem Wohnzimmer. Er holte tief Luft und legte mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken, bevor er sich zusammenriss und seinen Parka an der Garderobe aufhängte.
"Nein, Siegfried", antwortete er seiner Mutter lahm und ließ sich neben ihr auf die Couch sinken. Sara sah ihn besorgt an.
"So schlimm?", fragte sie ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Schlimmer. Niemand weiß gar nichts, aber alle haben Vermutungen. Oder auch nicht", schnaubte er.
"Ich befürchte, dass du mit Internetrecherche nicht sehr weit kommen wirst." Kilian konnte dieser sehr offensichtlichen Wahrheit nicht viel entgegnen und verkniff sich jeden Kommentar.
"Morgen wollen wir in der Universitätsbibliothek germanistische und historische Texte suchen, die irgendwie helfen könnten", sagte er und versuchte so viel Hoffnung wie möglich in seine Stimme zu legen, damit seine Mutter ihn nicht mehr so besorgt ansah. Er schien zumindest ein bisschen überzeugend zu sein, da sie immerhin lächelte.
"Deine Großmutter und ich haben auch schon unsere Fühler ausgestreckt, wir müssen nur sehr vorsichtig sein, da wir dir ja eigentlich nicht helfen dürfen."
Kilian nickte knapp. Reflexartig spannte er sich an, um aufzustehen. Er sprach immer noch nicht gerne über Magie. Jahrelang hatte er bei Konversationen darüber die Szene verlassen. Und auch jetzt wollte er sich nicht damit auseinandersetzen. Er wollte einfach überleben. Zusätzlich besorgte ihn die Gefahr, die seiner Familie offenbar drohte, wenn sie ihm halfen.
Es reichte schließlich, wenn einer aus der Familie hingerichtet wurde. Der Gedanke verdüsterte seine Laune schlagartig noch weiter, sodass er sich kurz verabschiedete und in seinem Zimmer verschwand, wo er seine Kopfhörer aufsetzte und musikhörend an die Decke starrte.
*
"Aventiuren-Tier", schnaubte Lu verächtlich.
"Was soll das sein?"
"Keine Ahnung, aber sein Kot scheint sehr interessant gewesen zu sein", sagte sie mit angeekelt verzogenem Mund.
Seit einer Woche saßen sie jeden Tag in der Universitätsbibliothek und bestellten an der Rezeption stapelweise Bücher, die in anderen Büchern und Artikeln von Fachzeitschriften erwähnt wurden. Was über das Universitätsnetzwerk digital zugänglich war, luden sie herunter und Kilians Notizbuch-App füllte sich zwar mit Antworten, aber auch mit immer neuen Fragen, die damit zusammenhingen.
Sie hatten ihre Suche vom Nibelungenlied auf die Artussage ausgeweitet und von dort zu den historischen Begebenheiten während der Völkerwanderungszeit bis zu den Kreuzzügen. Alle namentlich genannten Schwerter notierten sie und recherchierten jegliche Informationen und Mythen, die damit zusammenhingen.
Die vielen Parallelen in den Epen konnten nicht mehr übersehen oder ignoriert werden, weshalb es umso wichtiger schien, das Alter der jeweiligen Überlieferungen zu notieren, um die ursprünglichen Geschichten zu finden. Problematisch waren dabei nicht nur ihre mangelnden Kenntnisse in Althochdeutsch - schließlich waren die Texte aus dem neunten Jahrhundert nach Christus und älter - sondern auch die prekäre Quellenlage aus dieser Zeit.
"Ich habe jedenfalls den Stoff für meine Facharbeit zusammen", spottete Lu. Kilian wurde dadurch jedoch nur daran erinnert, dass er nicht mehr zur Schule ging. Seine Mutter hatte den Schulleiter auf geradezu magische Weise davon überzeugt, dass Kilian wegen einer Krankheit erst einmal nicht am Unterricht der Oberstufe teilnehmen könnte. Er hatte ja nun Wichtigeres zu tun. Überleben zum Beispiel.
"Lass uns für heute Schluss machen", sagte er schließlich und schlug das muffige Buch zu, das vor ihm auf dem Tisch lag. Lu und er fotografierten mit ihren Handys noch schnell die Bücher, die sie noch nicht gesichtet hatten, liehen jeder einen Rucksack voll aus und begaben sich ins Haus von Familie Henot, wo sie in Kilians Zimmer eine Wand von Bildern und Postern befreiten und begannen ihre bisherigen Ergebnisse aufzuhängen und zu clustern.
"Wir können ja eine Schnur spannen! Wie ein Detektiv in einem billigen Film mit Heftzwecken einem roten Faden", sagte Lu und Kilian hob skeptisch eine Augenbraue.
"Was willst du denn da verbinden? Das sind unzusammenhängende Spekulationen, Märchen und Verschwörungstheorien", gab er, etwas schärfer als beabsichtigt, zurück.
"Woah. Komm mal runter. Nur, weil du Recht hast, heißt das nicht, dass ich - das - gut - finden - muss!", stammelte sie albern zurück. Kilian musste widerwillig lachen.
*
Abends, Lu hatte sich vor einer halben Stunde auf den Weg nach Hause gemacht, vibrierte sein Handy. Eine Sprachnachricht von einer unbekannten Nummer. Er hörte sie ab:
"Hey Kilian, ich wollte dir nur sagen, dass ich dich gerne unterstützen möchte. Also, falls du Hilfe bei deiner Suche brauchst, kann ich mich vielleicht mal umhören. Melde dich einfach, wenn du etwas brauchst."
Er sah sich das Profilbild an, obwohl die Stimme ihm bereits ein flaues Gefühl im Magen bereitete. Lange rote Haare, große grüne Augen, Sommersprossen über die Nase gesprenkelt. Faina. Kilian wusste nicht, wie er reagieren sollte, er war plötzlich ganz nervös.
Wenn er jetzt vorschnell antwortete, würde er nur stammeln. Sollte er schreiben? Er setzte an, doch alles, was ihm einfiel klang platt oder weinerlich. Ein weiterer Gedanke hielt ihn davon ab, zu antworten: Was, wenn das eine Falle war? Vielleicht hatten die Ältesten Faina als Lockvogel eingesetzt?
Er berichtete Lu, was passiert war. Sie ging nicht auf seine Bedenken bezüglich der Falle ein. Die anderen behielt er für sich.
"Das ist doch super! Je mehr Hilfe, desto besser!"
"Meinst du wirklich? Ich glaube nicht, dass sie sich gern mit uns in die Bib setzen will."
"Aber sie kann magisch irgendetwas tun. Orakeln oder einen Dämon beschwören oder wie auch immer das funktioniert"
"Ja, vielleicht kann sie das."
Kilian antwortete Faina, dass er gerne Hilfe annehmen und sich melden würde, wenn er eine Frage hätte.
"Okay, immer gern", schrieb sie zurück. Kilians Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln.
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