Die Aufgabe
Seine Mutter schlug die Hände vor den Mund, seine Schwester stieß einen überraschten Schrei aus, seine Großmutter begann zu fluchen und trat vor, um eine hitzige Diskussion mit den Ältesten anzufangen, doch Kilian stand einfach regungslos da. Seine Gedanken schienen wie in Zeitlupe zu verlaufen und er blinzelte entsprechend langsam. Sterben? Das schien ihm im Moment ein völlig abstraktes und inhaltsleeres Wort zu sein.
Er bemühte sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen um ihn herum zu richten und begriff allmählich wieder, was passierte. Das Wort Akademie fiel mehrmals in der Diskussion, in die sich nun auch seine Mutter eingeschaltet hatte. Er tat das, was er immer tat, wenn er nicht weiter wusste und schrieb Lu eine Nachricht. In dem Tumult um ihn herum bemerkte sowieso niemand, was er tat.
"SIE WOLLEN WAS?", kam die Antwort sofort zurück.
"Das ist die einzige Möglichkeit meine Kräfte loszuwerden"
"Aber sie können dich nicht einfach umbringen! Das ist illegal! Das verstößt gegen das Grundgesetz und alles!"
"Ich weiß nicht, ob Hexen sich an Gesetze halten."
"Wir können es rausfinden, indem ich die Polizei rufe."
"Sie streiten hier noch. Ich glaub, es ist noch nicht ganz entschieden. Warte noch, bevor du die Gesetzeshüter bemühst."
"10 Minuten. Wenn ich dann nichts von dir höre, rufe ich 110. Schick mir deinen Standort, solange du noch kannst."
Kilian schickte ihr seinen Standort und steckte das Handy zurück in die Tasche. Die Diskussion hatte an Hitzigkeit verloren und sich versachlicht.
"Ihr müsst ihm zumindest die Chance geben", flehte seine Schwester förmlich.
"Wenn die Göttin ihm die Macht gegeben hat, können wir nicht über ihren Willen hinweg entscheiden", sagte seine Großmutter schließlich und die Diskussion verstummte. Edna und die Hexe zu ihrer Linken, Helena, wie er mittlerweile herausgehört hatte, schürzten die Lippen und verschränkten die Arme vor der Brust. Die dritte von ihnen, Agnes, blickte über ihre Brillengläser hinweg Kilian und seine Familie, die anderen Hexen hinter ihnen und schließlich ihre beiden Covenschwestern an.
"Klara hat Recht mit diesem Argument. Die Göttin hat uns vor eine Aufgabe gestellt, die wir lösen müssen. Und die einfachste Lösung ist selten die richtige." Getuschel lief durch die Reihen von Hexen hinter ihnen. Kilian konnte leider keine Worte heraushören, aber es klang nicht feindselig. Vielleicht wünschte er sich aber auch nur sehr, dass es nicht feindselig war.
"Wir werden uns noch einmal beraten. Faina, wir brauchen dich und deine Kartenhände. Bitte begleite uns", sagte Edna zuerst an den Coven und dann an das rothaarige Mädchen, das Kilian beobachtet hatte, gewandt. Unwillkürlich drehte er sich um und sah, dass sie ihm zuzwinkerte. Sein Blick wanderte zu ihren Händen. Kartenhände. Sie sahen ganz normal aus. Etwas blass und schmal vielleicht. Aber nicht blasser und schmaler als der Rest von ihr.
"Kartenhände?", fragte er daher seine Schwester flüsternd.
"Faina hat eine enorm starke Gabe für das Legen von Tarotkarten." Selena rollte mit den Augen, als sie dies sagte. Sie hatte nicht viel übrig für Tarotkarten. Seine Schwester bevorzugte Knochenorakel, wie er wusste, seit er sie einmal auf dem Dachboden gestört hatte, wie sie mit schwarzen Runen bemalt vor einem Pentagramm von blutgefüllten und leeren Schalen und stinkenden Kerzen umgeben saß und aus einem Samtsäckchen kleine Tierknochen in ihre Hand schüttelte. Kilian war schon vorher Vegetarier gewesen, aber seine Überzeugung war in diesem Augenblick bestärkt worden.
Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Er schickte Lu eine Nachricht, bevor sie die Polizei benachrichtigte. Seine Mutter wollte ihm einen Teller mit Kürbiskuchen in die Hand drücken, doch er lehnte ab. Nicht einmal den Met, den Sally ihm reichte, wollte er. Er war zu sehr damit beschäftigt, nicht die Frauen zu mustern, die sich hier zu einem eigentlich fröhlichen Erntefest versammelt hatten, das nun durch seine Anwesenheit gestört wurde.
Er hoffte, dass sie entscheiden würden, dass er einfach nach Hause gehen könnte. Dass seine Mutter und seine Großmutter ihm beibringen könnten, seine Kräfte nicht zu nutzen und fertig. Dass das ein vergeblicher Wunsch war, war ihm zwar bewusst, doch er wünschte es sich trotzdem. Er wollte nicht nur nicht sterben. Er wollte sein eigenes, normales Leben leben. Die Blicke der Covenschwestern reichten von neugierig über ablehnend bis offen feindselig. Er konnte nicht in diese Gemeinschaft zwangsintegriert werden. Sie würden ihn nie akzeptieren, egal, was die Ältesten entschieden.
Der Vorhang zu Ednas Zelt öffnete sich und die vier Hexen traten hinaus. In den Gesichtern der drei Ältesten konnte er nichts lesen, doch Faina hob eine Augenbraue, als sie seinen Blick auffing. Was das bedeuten sollte, verstand er zwar nicht, doch er hatte auch keine Zeit darüber nachzudenken, da Edna das Wort ergriff:
"Meine lieben Covenschwestern, lieber Kilian. Die Zeichen sind unmissverständlich, wir haben alle Wege geprüft, um sicher zu sein. Kilian ist eine Hexe und muss in unserem Coven aufgenommen werden, -" Ein Raunen ging durch die Versammelten. Kilians Herz rutschte ein ganzes Stück tiefer.
"- wenn er seine Aufnahmeprüfung besteht." Aufnahmeprüfung. Er erinnerte sich vage daran, dass Sally ein altes Buch hatte übersetzen müssen, um das Rezept für eine Gichttinktur zu finden. Kilian malte sich schon aus, wie er am Schreibtisch saß, um irgendwelche Zutatenlisten abzutippen. Drei Molchsaugen, sieben Fledermauszähne und dreizehn Schuppen eines Wassermannhinterns. Doch es war besser als sterben. Auf der Lichtung war es still geworden, nur das Knistern des Feuers war zu hören, als Agnes weitersprach:
"Es gibt einen lange verschollenen Gegenstand, den du finden sollst, mein Junge. Ein Relikt aus alter Zeit, so mit unserer Kultur verwoben, dass es alleine durch die Sagen, die es umranken von unschätzbarem Wert ist. Ein Schwert sollst du finden, das so mächtig ist, dass es jeden Panzer durchdringen und jeden Bann brechen kann." Je länger sie sprach, umso verwirrter wurde Kilian. Er sollte ein Schwert finden?
Helena übernahm das Wort und fuhr fort:
"Kilian Henot, deine Aufgabe ist es, das Schwert namens Gram zu finden." Gram. Irgendwo hatte Kilian den Namen schon einmal gehört. Viele der Hexen um ihn herum schienen ähnlich ratlos zu sein wie er. Sally zuckte die Achseln, doch seine Mutter und seine Großmutter hatten bereits angefangen, empört mit einigen der älteren Hexen zu diskutieren. Er versuchte dem Gespräch sinnvolle Informationen zu entnehmen, doch alles was er hörte, verwirrte ihn noch mehr. Ein Name tauchte immer wieder auf: Siegfried. Dann hörte er noch einen Begriff und verstand plötzlich. Nibelungen. Er sollte das Schwert von Siegfried aus dem Nibelungenlied finden.
"Wollen die mich verarschen?", rief er seiner Schwester völlig entgeistert zu. Zum Glück war der allgemeine Tumult so laut, dass niemand anders ihn hörte. Sally blickte sich trotzdem prüfend um, bevor sie ihm zuzischte, er solle leiser reden.
"Aufnahmeprüfungen sind unterschiedlich. Sie sind sehr individuell und davon abhängig, wo deine Stärken vermutet werden und was der Coven gerade am dringendsten braucht", raunte sie ihm zu.
"Und der Coven braucht im Moment am meisten, dass ich auf der Suche nach einem Märchengegenstand draufgehe", giftete er sie an, obwohl er wusste, dass sie nicht schuldig war. Die Ältesten bemühten sich derweil, Ruhe in die Versammlung zu bringen und nach und nach verstummten die Gespräche. Seine Mutter hob die Hand, um sich zu Wort zu melden. Agnes nickte ihr zu.
"Diese Aufgabe ist unmöglich! Es ist doch nicht einmal klar, ob Gram überhaupt jemals existiert hat", rief sie aus. Das darauffolgende Gemurmel verstummte, als eine andere Hexe sich zu Wort meldete und entgegnete, es seien schon ganz andere mythische Gegenstände aufgetaucht.
Seine Großmutter sprach als nächstes:
"Doch selbst wenn Gram jemals existiert haben sollte, ist es seit über tausend Jahren verschollen. Wie soll ein sechzehnjähriger Junge ohne nennenswerte akademische und völlig ohne magische Ausbildung so etwas finden können? Ohne Hilfe? Das ist unmöglich!"
"Sie wollen, dass ich Siegfrieds Schwert finde", schrieb er Lu.
"Wtf?"
"Ja"
"Nibelungensiegfried?"
"Genau"
"Schade. Ich hab nur Excalibur im Messerblock stecken."
Kilian konnte sich nicht gegen das kleine Lächeln wehren, das seine Lippen kräuselte, doch er wurde schlagartig wieder ernst, als Edna die Hand hob und alle verstummten.
"Diskutieren hilft nichts. Das ist die Aufgabe, die wir für deinen Enkel bestimmt haben. Kilian, bringe uns Siegfrieds Schwert Gram bis zum Julfest und du bist in unserem Coven aufgenommen. Scheiterst du, ist dein Leben verwirkt."
Sterben. In nicht einmal zwei Monaten würde der Coven Kilian hinrichten. Lu hatte zwar mit der Polizei gedroht, doch Kilian wusste, dass die Hexen vor dieser Bedrohung nicht zurückschrecken würden. Sie waren schließlich Hexen. Sein Handy vibrierte immer wieder, doch er konnte Lus Nachrichten gerade nicht beantworten. Man wollte ihn töten. Denn nichts Anderes war diese Aufgabe. Ein Todesurteil. Diese Frauen wollten ihn bestrafen. Wofür, das verstand er nicht. Dafür, dass er männlich war? Er konnte schließlich nichts für sein Geschlecht.
War es eine Art Familienfehde zwischen den von Borckes, denen Edna angehörte und den Henots? Davon hatte er noch nie etwas gehört. Und auch der Umgang zwischen Edna und seiner Großmutter Klara war sehr vertraut gewesen. Nein. Das hier war etwas viel Grundlegenderes. Es ging ums Prinzip. Männer durften keine magischen Fähigkeiten haben. Und um den Schein zu wahren, gab man ihm so eine unlösbare Aufgabe. Das war einfach nicht fair.
All diese Gedanken kreisten in seinem Kopf so wild umher, dass er gar nicht mitbekam, was um ihn herum geschah. Erst als seine Mutter ihn grob an der Schulter packte, wurde er aus seiner Grübelei gerissen.
"Kilian, das können und werden wir uns nicht gefallen lassen. Hörst du? Ich werde das nicht zulassen", redete sie ihm eindringlich zu. Die roten Flecken auf ihren Wangen ließen ihn vermuten, dass sie es mehr tat, um sich selbst zu beruhigen. Mit gespreizten Fingern drehte sie sich um und stellte sich neben ihre Mutter, um auf die Ältesten einzureden. Die Diskussion war hitzig, drohende Finger wurden aufeinander gerichtet, Wangen röteten sich und Stimmen wurden erhoben. Ein Streit entbrannte. Einige andere Hexen mischten sich ebenfalls ein. Manche setzten sich tatsächlich für ihn ein. Larissas Tochter Maya, also Ednas Enkelin, redete auf ihre Großmutter ein, während Larissa sie entsetzt ansah. Aus Agnes' Mund entwich schließlich das Wort "Aufschub" und wendete das Streitgespräch wieder in Richtung Diskussion.
"Beltane! Das ist ein gerechter Zeitraum für so eine Mammutaufgabe!", rief seine Mutter aus. Edna verschränkte die Arme vor der Brust. Helena sah zu Edna und imitierte ihre Pose. Agnes runzelte lediglich die Stirn.
"Ein halbes Jahr für eine Initiationsaufgabe? Das ist absurd", schnaubte Larissa.
"Diese Aufgabe ist es auch", giftete seine Mutter zurück. Klara legte ihrer Tochter besänftigend eine Hand auf die Schulter und seine Mutter beruhigte sich.
Das Gespräch kreiste um verschiedene Zeitpunkte und schließlich einigte man sich auf Imbolg. Anfang Februar. Das waren ebenfalls gerade einmal drei Monate. Trotzdem fühlte sich Kilian besser. Nicht, weil er mehr Zeit hatte, als erwartet, sondern weil fast ein Dutzend der Hexen im Coven sich für ihn eingesetzt hatte. Er war also nicht völlig allein mit seiner Familie. Auch Faina hatte für ein wenig Verlängerung seines Lebens bis ins Frühjahr argumentiert. Kilian warf ihr einen verstohlenen Blick zu, den sie mit einem trotzigen Nicken erwiderte.
Imbolg. Bis zum ersten Februar hatte er Zeit. Seine Mutter und er verließen das Samhain-Fest früher, Klara und Selena blieben noch. Den ganzen Weg nach Hause sprachen seine Mutter und er kein Wort, doch ihr Blick versicherte ihm, dass sie die Regeln so weit dehnen würde, wie sie konnte, um ihm zu helfen.
*
Zu Hause angekommen begleitete er seine Mutter zu dem Schreibtisch auf dem Dachboden, der als Altar diente. Kilian war lange nicht mehr hier oben gewesen, doch es war alles wie immer. Der große Eichenschrank, der Tücher, Stoffe und zeremonielle Gewänder enthielt, nahm den Platz an der einzigen geraden Wand im Giebel ein. In Regalen sammelten sich Schalen aus verschiedenen Metallen und Hölzern sowie Kerzen und Kristalle in diversen Größen und Farben. Außerdem kleine Säckchen, in denen Kräuter, Knochen, Würfel und andere Orakelgegenstände aufbewahrt wurden. Es waren im Laufe der Jahre aber auch viele Dinge dazu gekommen, die er noch nie gesehen hatte. Die Sammlung von Einmachgläsern mit präparierten Kleintieren zum Beispiel.
Kilian sah schnell woanders hin und richtete seinen Blick auf den Altar. Er war zum Samhain-Fest passend geschmückt mit herbstlichen Symbolen wie Äpfeln, Eicheln, Herbstblättern und einem Foto seines Vaters, das dem Gedenken diente.
Sara zündete etwas Sandelholz in der Räucherschale an und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Stumm setzte er sich neben sie und schloss die Augen, als sie es auch tat. Er war eigentlich nicht gläubig, doch seine aufgewühlten Emotionen verlangten nach Beruhigung und Ordnung, weshalb er einfach hier sitzen und meditieren wollte.
Seine Gedanken schweiften jedoch immer wieder ab. Kilian öffnete die Augen und betrachtete den Altartisch eine Weile. Die Schnitzereien waren alt. Der Tisch stammte schließlich aus dem sechzehnten Jahrhundert. Die untenliegenden Waldszenen wurden von darüber schimmernden Perlmuttintarsien in Form von Sternen ergänzt. In der Mitte prangte das Symbol der dreifältigen Göttin, das aus einem zunehmenden, einem vollen und einem abnehmenden Mond nebeneinander bestand.
Dieses Symbol war im Gegensatz zu den Sternen nicht aus Perlmutt, sondern aus Silber gefertigt und in das Holz eingelassen. Es glänzte auf eine Art, die es aussehen ließ, als würde es leuchten. Kilian wusste nicht, warum, aber er hatte das Bedürfnis, das Symbol zu berühren. Also streckte er die linke Hand aus und legte die Finger auf die Monde. Das Symbol war warm. Ohne nachzudenken, schloss er die Augen und konnte, trotz dieser Pose mit ausgestrecktem Arm, endlich entspannen und seine Gedanken zum Ruhen bringen.
Er bewegte die Finger sanft über das warme Silber und fing unwillkürlich an in seinen Gedanken Worte zu formen. Er betete. Er betete zu der Göttin, dass sie ihn verschonen solle, dass er aufwachen und alles nicht wahr sein würde, dass sie ihm diese Kräfte wieder nehmen solle. Fast erwartete er eine Reaktion, doch natürlich geschah nichts. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass seine Mutter ihn musterte. Ein kleines wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen.
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