
siebenundzwanzig
he is a madman
he is my trouble
DAS Date mit Jascha wäre eigentlich ziemlich schön, wäre ich nicht ziemlich angespannt. Nach den Vorlesungen fahren wir zusammen mit dem Bus in die Stadt, zum Eiscafé unseres Vertrauens. Dort decken wir uns mit genug Eis für den restlichen Tag ein. Anschließend schlendern wir durch ein paar Geschäfte und werden aus Galeria Kaufhof geschmissen, weil man im Laden nicht essen darf. Ich probiere ein paar hohe Schuhe an, und Jascha probiert ein paar hohe Schuhe an. Er läuft darin besser als ich.
Wir lachen viel miteinander, doch gedanklich schweife ich von Minute zu Minute mehr ab. Je weiter der Tag voranschreitet, desto nervöser werde ich. Ich habe mir fest vorgenommen, ihn heute auf Paul anzusprechen, aber das ist leichter gesagt als getan. Beim Warten auf den perfekten Moment, verpasse ich den perfekten Moment. Wieder und wieder.
Irgendwann ist es dunkel draußen. Passend zu meiner Stimmung ist die Nacht warm und drückend. Ich weiß nicht, ob mir die Temperaturen, oder mein Vorhaben die Luft abschnüren, aber ich weiß, dass ich nicht atmen kann.
Wie spricht man jemanden auf ein Thema an, über das er höchstwahrscheinlich nicht reden will? Gar nicht. Man wartet, bis derjenige es von selbst anspricht. Aber wird er das tun? Heute haben wir über alles Mögliche geredet. Es gab einige Vorlagen, die er als Sprungbrett hätte nutzen können. Hat er aber nicht. Entnervt fahre ich mir durch die Haare. In der letzten halben Stunde habe ich so oft ein verzweifeltes Seufzen unterdrückt, dass ich von der ganzen Anstrengung müde geworden bin.
Bisher hat Jascha nichts von meiner Nervosität bemerkt. Wir sitzen auf einer der vielen Dachterrassen Hamburgs, ich bin schon wieder nervös, und Jascha isst schon wieder ein Eis. Mich wundert wirklich, dass sein Magen noch nicht eingefroren ist, bei der Menge an Kaltspeisen, die er täglich inhaliert.
»... und deshalb fehlen ihm bis heute ein paar Härchen in der linken Augenbraue«, beendet mein Gegenüber eine Geschichte über seinen Kumpel, von der ich absolut nichts mitbekommen habe.
»Hm?«, mache ich gedankenverloren und reiße meinen Blick vom Mond los, um Jascha ansehen zu können. Und sofort schlägt mein Herz wieder schneller. Wie kann es nur so schwierig sein, ein paar harmlose Worte laut auszusprechen?
Als er bemerkt, dass ich ihm absolut nicht zugehört habe, mustert er mich besorgt. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nicke enthusiastisch. »Klar! Wieso fragst du?«
»Weil ich dir seit einer Viertelstunde erzähle, wie mein bester Freund sich mit der Kerze eines Adventskranzes die Augenbraue weggelötet hat, und du in dieser gesamten Zeit gedanklich überall und vielleicht sogar auf dem Mars warst, nur nicht hier.«
Meine erröteten Wangen werden zu meiner großen Erleichterung gut von der Dunkelheit versteckt. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und zähle bis drei, um mich zu beruhigen. »Tut mir leid«, bringe ich anschließend mit Mühe und Not hervor. Mein Herz macht weiterhin ein Salto nach dem anderen und ich höre meine eigene Stimme kaum, weil es noch immer so unendlich laut schlägt. »Ich komme mit meinem Song einfach nicht voran und das frustriert mich total.« Lüge.
Jaschas Miene wird schlagartig weich. Er schenkt mir einen mitleidigen Blick und hält mir seinen Eisbecher vor die Nase. »Etwas Nervennahrung gefällig?«
Ich lehne ab, indem ich den Kopf schüttele. »Erzähl einfach weiter. Das bringt mich vielleicht auf andere Gedanken.« Ha, noch eine Lüge!
»Wie viel hast du denn mitbekommen?«, möchte er wissen und verschlingt im selben Atemzug eine großzügige Portion Eis.
Schuldbewusst zucke ich mit den Schultern und werde noch röter, als ich es eh schon bin.
Er sieht mich einen Moment lang schweigend an, dann schüttelt er lachend den Kopf. Der Druck in mir steigt weiter und weiter. »Oh Mann, okay, ich fange einfach nochmal ganz von vorne an. Also, die Mutter meines besten Freundes Samuel hat ein unglaubliches großes Faible für Weihnachten und beginnt schon im Hochsommer, das Haus entsprechend zu dekorieren. Dazu gehören auch mindestens zwei Adventskränze in jedem Raum. Du weißt schon, diese Dinger, auf denen vier Kerzen zwischen ner Menge Gestrüpp ... «
Ich schaue ihn von der Seite an, um mich besser auf seine Worte konzentrieren zu können, aber es klappt nicht. Seine Stimme verblasst und die Welt um mich herum hört auf sich zu drehen. Alles ist weg, nur mein Herzschlag und Paul sind noch da. Ich muss etwas sagen. Wenn ich es heute nicht anspreche, werde ich es nie ansprechen. Und Jascha wird denken, er sei alleine auf der Welt, alleine mit seinen Problemen, alleine mit seiner Vergangenheit. Ich weiß nur zugut, wie sich das anfühlt. Und aus diesem Grund übermannt meine Panik das bisschen Rationalität in mir, das noch geblieben ist, und ich wähle inmitten meiner Suche nach dem richtigen Moment, den wohl unpassendsten Moment auf Erden.
»Ich weiß es!«, platzt es aus mir heraus, ich unterbreche Jascha mitten im Satz, fühle mich aber trotzdem direkt drei Kilo leichter.
Augenblicklich hält er inne. Er erstarrt förmlich in seiner Bewegung und sieht total irritiert aus. Ich kann in seinen Augen sehen, was er gerade denkt. Sein Gehirn scheint auf Hochtouren zu rattern, während sich seine Miene plötzlich von verwirrt, zu ängstlich wandelt und er für den Bruchteil einer Sekunde absolut panisch wirkt. Sein ganzer Körper spannt sich an und ich bilde mir ein, neben meinem schnellen Herzschlag nun auch seinen hören zu können.
Doch dann reißt er sich zusammen, lehnt sich betont cool zurück und zieht die Augenbrauen hoch.
Mir wird augenblicklich heiß und meine Hände beginnen zu schwitzen, während ich nervös an der Kordel meiner Sweatshirtjacke herumfummele. Vielleicht habe ich ihn zu früh konfrontiert. Aber wann ist schon der richtige Moment für ein solch schwieriges Gespräch? Richtig. Den gibt es nicht. Man muss ihn selbst kreieren, das habe ich nun verstanden.
»Ich war echt lange auf dem Holzweg«, fahre ich langsam fort. Meine Stimme zittert vor Aufregung und mein Herz hämmert wild gegen meinen Brustkorb, als würde es ebenfalls laut bekanntgeben wollen, dass es Bescheid weiß. Eigentlich habe ich gar keinen Grund, aufgeregt zu sein. Es geht hier schließlich nicht um meine Vergangenheit. Aber irgendwie habe ich unheimlich große Angst vor Jaschas Reaktion. »Doch dann hast du mir von den Problemen mit deinen Eltern erzählt und es hat klick gemacht.«
»Meine Eltern ... « Jascha unterbricht sich selbst. Ein paar Sekunden vergehen, ohne dass er etwas tut oder sagt. Dann stellt er den Eisbecher weg, winkelt die Beine an, stützt sein Kinn auf seinen Knien ab und starrt stur geradeaus. Zittert er etwa? »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«
Ich seufze. Natürlich streitet er alles ab. Das würde ich an seiner Stelle auch tun. »Es ist okay, Jascha. Ich bin dir nicht böse.«
Jetzt sieht er mich doch an. Er wirkt erleichtert. »Wirklich?«
Ich nicke. »Klar, die ganze Heimlichtuerei war ... fragwürdig. Aber inzwischen verstehe ich dich besser. Du bist Pauls Bruder. Du ... du hast so viel durchgemacht ... Die Situation muss unheimlich schwierig für dich sein. Also ... wie könnte ich da sauer auf dich sein?« Wenn er merkt, wie gut ich informiert bin, redet er sich vielleicht nicht länger raus. »Eine Sache verstehe ich allerdings nicht ... wieso hast du die CD in meinen Briefkasten geworfen, anstatt sie mir persönlich zu geben? Ich hätte schon viel früher für dich da sein können, hätte ich gewusst, dass –«
»CD ... Briefkasten ... «, unterbricht er mich. Inzwischen ist seine Anspannung erneut purer Verwirrung gewichen. »Wovon zur Hölle redest du da?«
Verdutzt sehe ich ihn an. Habe ich es übertrieben? Eben gerade noch wirkte er so, als würde er endlich mit mir sprechen wollen und jetzt blockt er erneut ab.
»Ich verstehe dich, wirklich«, versichere ich ihm noch einmal. »Ich verstehe, wieso du mir nichts von Paul erzählt hast, als ich dich auf Johnnys Party nach deinem größten Geheimnis gefragt habe. Das war dumm von mir. Tut mir leid. Hätte ich gewusst, dass es dein Bruder war, der in dem Auto saß, das vor ein paar Wochen von der Brücke gestürzt ist, hätte ich dich so etwas Intimes nie gefragt. Ich ... ich will nur, dass du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe. Du musst da nicht alleine durch, ich bin bei dir. Okay?«
Vorsichtig rutsche ich näher an ihn heran und weil er darauf nicht reagiert, wage ich es, einen Arm um ihn zu legen. Ich spüre, wie er sich unter meiner Berührung anspannt, doch schon nach wenigen Minuten lehnt er sich erleichtert an mich und atmet hörbar laut aus. »O-okay.«
Mein Herz macht einen Hüpfer und ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Ich bin so unendlich froh. Froh, dass er meine Hilfe annimmt. Er darf nicht denken, er müsste einen solch schweren Schicksalsschlag allein bewältigen. Niemand muss das. Es gibt Hilfe, für jeden von uns.
»Willst du ... willst du darüber reden?«, frage ich vorsichtig.
Jascha kaut nervös auf seiner Unterlippe herum. »Ehrlich ... ehrlich gesagt nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Ich weiß dein Angebot sehr zu schätzen Raya, und ich werde auch auf jeden Fall darauf zurückkommen ... ein anderes Mal. Der Tag mit dir war echt schön und ich möchte die Stimmung nicht versauen.«
Ich nicke verständnisvoll. »Meine Nummer hast du ja. Wenn irgendetwas ist, ruf mich an. Ich bin da«, sage ich mit Nachdruck. »Immer.«
Er hebt den Kopf und sieht mich an. Sein Blick wirkt abwesend, der Ausdruck auf seinem Gesicht unlesbar. Doch dann schleicht sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Kaum merklich, aber es ist da. Und so muss ich ebenfalls erleichtert lächeln.
»Danke«, sagt er leise. »Für alles.«
Ich mache eine abwinkende Handbewegung. »Ist doch selbst–«
»Nein«, unterbricht er mich »Es ist nicht selbstverständlich.
Das würde nicht jeder für mich tun. Also nochmal: danke, dass du da bist.«
xxx
Als die ersten Sterne am Firmament zu sehen sind, stehen wir im Innenhof vor meiner Wohnung.
»Der Tag mit dir war echt cool«, sage ich und vergrabe dabei fröstelnd meine Hände tiefer in den Taschen meiner dünnen Jacke. Der Wind pfeift durch Unebenheiten in den Wänden und Türen und irgendwo weiter abseits raschelt eine Plastiktüte.
Es ist dunkel hier, weil das Licht im Eingang nicht funktioniert. Der Mond scheint schwach auf uns herab und wirft kleine Schatten auf Jaschas Gesicht. Ich kann gerade so erkennen, dass er mich ansieht.
»Finde ich auch«, stimmt er mir zu. »Das sollten wir wiederholen.«
Ich nicke. »Definitiv.«
»Ich ruf dich an.«
Wieder nicke ich. »Gut.«
Unsicher tritt er von einem Fuß auf den anderen. Die Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hat, um dem kalten Wind zu entkommen, verdeckt einen Teil seines Gesichtes. »Also dann ... bis morgen.«
»Ja. Bis morgen.«
Keiner von uns macht Anstalten, zu gehen und so stehen wir uns bloß schweigend gegenüber und sehen uns an. Es ist komisch, wirklich. Ich möchte ihn umarmen. Aber ich weiß nicht, ob er das will.
Plötzlich ertönt lautes Schaben im Innenhof und gleich darauf ist leises Gefluche zu hören. Es klingt fast so, als wäre jemand über seine eigenen Füße gestolpert.
Ruckartig drehe ich den Kopf zur Seite. Gerade rechtzeitig, um erkennen zu können, wie jemand hinter den Müllcontainern in Deckung geht. Moment mal. War das etwa Can?
Irritiert widme ich mich wieder Jascha und kriege gerade noch mit, wie er seinen Blick von meinem Mitbewohner abwendet und ihn voller Entschlossenheit auf meine Lippen richtet. Mir wird warm, trotz des Windes, der mir durchs Haar weht und mein Herz setzt einen Schlag aus. Möchte er mich etwa küssen?
Gerade als ich mich frage, ob ich das überhaupt will, mit Can im Hintergrund und Unsicherheit im Kopf, beugt er sich vor, schließt die Lücke zwischen uns und legt seine Lippen auf meine.
Es ist schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal geküsst wurde. Ich schließe die Augen und warte gespannt auf ... ja, worauf eigentlich? Ich weiß es nicht. Es ist ein komisches Gefühl, das sich in meinem Bauch ausbreitet. So, als würde irgendetwas fehlen.
Jaschas Lippen sind weich und er ist vorsichtig, als hätte er Angst, mit jeder Bewegung etwas Falsches zu machen. Weil ich ihm diese Angst nehmen möchte, lege ich meine Hände auf seine Schultern und ziehe ihn noch näher zu mir. Er seufzt leise in den Kuss hinein und genau dann, in der wohl unpassendsten Situation überhaupt, sehe ich plötzlich bernsteinfarbene Augen vor mir.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und schubse Jascha grob von mir. Mein Herz beginnt zu rasen und mein Mund ist trocken. Auch nach mehreren Versuchen verschwindet der merkwürdige Kloß nicht aus meinem Hals, der sich in Sekundenschnelle gebildet zu haben scheint.
»Äh«, stottere ich überfordert. »Sorry, ich wollte dich nicht ... wegschubsen. Da hat mich was am Finger gekitzelt und ich dachte, es wäre eine Spinne. Aber wahrscheinlich waren es nur deine Haare.« Ich bringe ein nervöses Lachen zu Stande. Mir ist schlecht.
Ich kann Jaschas Blick nicht deuten, und das macht mich nur noch nervöser. Glaubt er mir, wenn ich mir nicht mal selbst glauben kann, bei der blöden Ausrede? Auf die Schnelle ist mir nichts Besseres eingefallen.
»Hör mal Raya, wenn du nicht wolltest, dass ich –«
»Quatsch!«, unterbreche ich ihn sofort. »Das war ein schöner Abend, Jascha. Wirklich. Ich hatte eine gute Zeit.«
Endlich zeichnet sich ein Lächeln auf seinen Lippen ab und ich atme erleichtert aus. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten habe.
»Wir lassen es langsam angehen, versprochen«, sagt er, während sein Blick unauffällig zu den Müllcontainern wandert.
Das meinte ich eigentlich nicht. Aber ich kann ihm ja schlecht sagen, dass ich Yanniks Augen vor mir gesehen habe, sobald meine geschlossen waren, schließlich habe ich keine Erklärung dafür. Und noch weniger kann ich erklären, warum ich sie noch immer sehe, als hätte sich ein Bild von ihnen fest in mein Gehirn gebrannt.
»Okay«, sage ich also, fahre mir durch die Haare und ringe mir ein Lächeln ab.
A/N: AHHHH der erste Kuss ist gefallen ... aber ist Jascha überhaupt der Richtige? Und wieso verhält er sich so komisch, jetzt, wo die Katze eigentlich aus dem Sack ist? xx
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