
siebenunddreißig
you can't be lost
if you can't be found
you can't be hurt
if you don't make a sound
ICH bin unendlich dankbar, dass das Wochenende vor der Tür steht. In der Hochschule hätten mich die Professoren sonst wahrscheinlich rausgeworfen. Ich habe seit Tagen kaum geschlafen und bin unmotiviert und müde.
Weil ich den restlichen Freitag mit weinen verbracht habe, bekomme ich am Samstag morgen ein schlechtes Gewissen und versuche es zu beruhigen, indem ich ein paar Mitschriften von älteren Vorlesungen zusammenfasse. Doch nach einer halben Stunde gebe ich auf. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren, egal wie viel Kaffee ich trinke. Eigentlich mag ich Kaffee überhaupt nicht. Unweigerlich erinnere ich mich an das Gespräch, das ich vor ein paar Wochen mit Yannik im Hochschulcafé geführt habe. Auch er hasst Kaffee. Aber manchmal trinkt er ihn trotzdem, weil er den Tag sonst nicht überstehen würde. Damals habe ich seine Aussage fragwürdig gefunden. Aber inzwischen kann ich mich wunderbar mit ihr identifizieren.
Am Nachmittag zwinge ich mich dazu, eine von Cans Bananen zu essen, weil mein Magen inzwischen von laut protestierendem Knurren zu drückenden Bauchschmerzen übergangen ist.
Als ich einen Blick auf mein Handy werfe sehe ich, dass sowohl Hanna, als auch Lana und Jascha mehrfach versucht haben, mich anzurufen. Einen Moment lang starre ich die Nummern auf meiner Anrufliste an, dann schüttele ich den Kopf und lege mein Handy wieder weg. Kapsele mich weiter von meinen Freunden ab, ohne es zu merken, bis ich alles anzweifele – Mein Studium, die Stadt, die Leute.
Es war idiotisch von mir zu glauben, ich könnte irgendwo anders einfach noch einmal von vorne anfangen. Die Vergangenheit wird man nämlich nur los, wenn man sich mit ihr auseinandersetzt und damit abschließt. Ich habe nicht abgeschlossen und deshalb verfolgt sie mich seit Monaten, egal wohin ich gehe.
Die Lösung meiner Probleme liegt eigentlich auf der Hand – das Geschehene aufarbeiten und lernen, damit zu leben. Doch das ist einfacher gesagt, als getan. Die Wunde in meinem Herzen schmerzt so sehr, dass ich panische Angst davor habe, sie erneut aufzureißen.
Aus Selbstschutz weigere ich mich, an Australien zu denken und mich mit Spencers tragischem Tod auseinanderzusetzen. Stattdessen flüchte ich mich in das, was ich am besten kann: Abhauen.
In den nächsten Stunden packe ich meinen Koffer dreimal ein und wieder aus. Der Fluchtinstinkt in mir wächst von Minute zu Minute, doch ich weiß nicht, wohin ich überhaupt fliehen soll.
Ich will auf keinen Fall zurück nach Hause. Meine Eltern würden mich nicht verstehen. Darin waren sie nie sonderlich gut. Die einzige, die immer für mich da war, ist Aleah. Doch das ändert sich bestimmt, wenn ich ihr erzähle, dass ich ein Menschenleben auf dem Gewissen habe. Ich könnte es nicht verkraften, von ihr verurteilt zu werden.
Meine Verbindungen zu Australien habe ich allesamt gekappt, sobald ich wieder deutschen Boden unter den Füßen hatte. Und zu meinen alten Schulfreunden habe ich den Kontakt verloren. Ich war auf einem anderen Kontinent, und unsere Freundschaft nicht stark genug.
Ich habe nur noch Hamburg. Und jetzt soll ich ein zweites Mal ganz von vorne anfangen? Wofür? Um nach ein paar Monaten wieder von der Vergangenheit eingeholt zu werden?
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als es an der Tür klingelt. Stumm verharre ich auf dem Boden neben meinem Koffer und warte geduldig. Doch niemand macht auf. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass meine Mitbewohner wahrscheinlich noch in der Uni sind.
Seufzend lasse ich mich nach hinten fallen und bete innerlich, dass die Person, die gerade geklingelt hat, von alleine wieder verschwindet. Doch meine Bitte wird nicht erhört, denn es klingelt ein zweites Mal, und ein drittes Mal, und ein viertes Mal.
Stöhnend rappele ich mich auf und schleiche in den Flur. Irgendwo tickt eine Uhr, die die ganze Situation nur noch beklemmender macht.
Ich stehe eine Weile unschlüssig in der Gegend herum und hadere mit mir. Warum hat unsere Wohnungstür eigentlich keinen Spion?
Als es ein fünftes Mal klingelt, zucke ich erschrocken zusammen. Widerwillig sehe ich meinem Schicksal ins Auge: Die Person wird ganz offensichtlich nicht verschwinden. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen.
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»Lana?«, frage ich überrascht.
Sie lächelt mich verhalten an und hebt ihre Hand, mit der sie eine große, raschelnde Papptüte festhält. »Ich dachte mir, du könntest vielleicht etwas Aufmunterung gebrauchen.«
Ein paar Sekunden vergehen, in denen niemand etwas sagt. Ich starre sie an, als hätte sich ein drittes Auge auf ihrer blassen Stirn gebildet, und vielleicht sollte ich damit aufhören, bevor sie sich unwohl fühlt, doch ich kann nicht anders.
Lana möchte mich aufmuntern? Ausgerechnet Lana! Das Mädchen, das immer die Wahrheit sagt, auch wenn sie damit jemanden verletzen könnte, der ihr nahe steht. Die Königin der schnippischen Kommentare, die mit ihren vernichtenden Worten ganze Welten zerstören könnte, wenn sie es wollte.
Sie ist einfach nicht der Typ Mensch, der andere aufmuntert. Zu Lana geht man, um die Wahrheit in Erfahrung zu bringen und nicht, wenn man sie bereits kennt. Und darum weiß ich auch absolut nicht, was ich von ihrem Besuch halten soll.
Wir stehen weitere Minuten regungslos zwischen Tür und Angel herum, bis sie schließlich das Schweigen bricht: »Livi hat mir alles erzählt.«
Was? Mein Puls beginnt zu rasen und ich bekomme augenblicklich schwitzige Hände.
»Alles?«, wiederhole ich atemlos.
Lana hält meinem bohrenden Blick stand und nickt langsam. »Alles«, bestätigt sie. Das hat mir gerade noch gefehlt! Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich kann Livi nicht einmal böse sein. Schließlich hat sie das Gleiche durchgemacht, wie ich. Ihr geht es wahrscheinlich ähnlich beschissen. Ich kann ihr nicht verbieten, sich jemandem anzuvertrauen, wenn sie Hilfe braucht.
Dennoch schaltet mein Gehirn sofort in den Panikmodus und mein erster Gedanke ist, Lana die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch sie durchschaut mich und schiebt blitzschnell ihren Fuß dazwischen.
»Ich bin nicht hier um dich zu verurteilen«, überrascht sie mich mit ihren Worten. »Wir müssen auch gar nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich habe bloß gemerkt, dass du dich vor uns zurückziehst und ... wir machen uns alle Sorgen um dich. Sogar Jascha hat nach dir gefragt!«
Der lässt aber auch wirklich nicht locker! Wahrscheinlich macht ihm die wütende Nachricht zu schaffen, die ich ihm vor einigen Tagen geschickt habe. Aber ich habe keine Lust mit ihm zu reden. Ich will mit niemandem reden. Yannik scheint der einzige zu sein, der das verstanden hat.
Mein Mund steht wahrscheinlich gerade weit offen, doch ich bin viel zu überfordert, um etwas dagegen zu unternehmen.
Dieses Verhalten ist absolut untypisch für Lana. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob die Universitätsmedizin in der Nähe ist und man sie dort vielleicht geklont hat.
»Ich möchte nicht drängen, aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich jetzt reinlassen könntest, die Sachen sind nämlich echt schwer.« Sie schwenkt die große Tüte vor meiner Nase hin und her, wobei ihr zierlicher Arm bereits gefährlich stark zittert.
Wie sooft in den letzten Tagen laufen meine Gedanken Amok. Ich bin nicht einmal im Stande dazu, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wie soll ich es dann schaffen, mit jemandem darüber sprechen? Laut zu sagen, was passiert ist, würde es nur realer machen. Und ich will nicht, dass es real ist. Ich will, dass es aufhört, in meinem Kopf zu spuken, wie ein Geist.
Andererseits ... Lana weiß Bescheid. Und dennoch ist sie hier und verspricht, mich nicht zu verurteilen.
Zögerlich schiebe ich die Tür ein Stück weiter auf. Noch bevor ich es mir anders überlegen kann, mache ich auf dem Absatz kehrt und rette mich auf mein Zimmer, wo ich mich in meinem Bett verkrieche und mich gedanklich ganz weit weg wünsche.
Ich höre, wie Lana behutsam die Haustür hinter sich schließt und ihre Schuhe auszieht. Gedanklich mache ich mich auf ein Donnerwetter gefasst. Als sie leisen Schrittes mein Zimmer betritt, ziehe ich mir die Decke über den Kopf und halte den Atem an. Vielleicht ist mein Verhalten kindisch, aber mein Herz hämmert wie verrückt gegen meine Brust, ich kann kaum noch Atmen und ich weiß, dass ich definitiv nicht in der Verfassung bin, um mich dem Sturm zu stellen, der da draußen auf mich wartet.
Nach wenigen Minuten sackt meine Matratze nach unten – und schon spüre ich Lanas Präsenz neben mir. Sie riecht gut. Nach Lavendel und Zitrone. Es raschelt, bevor sie erneut das Wort ergreift: »Willst du gar nicht sehen, was ich dir mitgebracht habe?«
Stumm schüttele ich den Kopf, was sie trotz der Bettdecke, die über mir liegt, wahrnimmt, denn ich höre sie leise Lachen.
»Da hätten wir einmal ... Süßigkeiten jeglicher Art. Von Gummibärchen, über Schokolade, bis hin zu Eis, das inzwischen wahrscheinlich geschmolzen ist ... aber der Wille zählt«, sagt sie, während es erneut raschelt. »Sechs verschiedene Gesichtsmasken. Eine davon kann man sogar essen. Parfumproben aus dem Douglas ums Eck. Und zu guter letzt ... meine Nagellacksammlung mit allen Farben des Regenbogens, die die Industrie je erschaffen hat.«
Gegen meinen Willen werde ich hellhörig. »Alle Farben des Regenbogens?«, krächze ich heiser.
Einen Moment lang ist es still. »Alle«, bestätigt sie dann.
Vorsichtig und unentschlossen luge ich unter meiner Decke hervor. Lana hat nicht gelogen. Auf der Matratze zwischen uns liegen unzählige Süßigkeiten und Kosmetikartikel. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hingucken soll.
Und plötzlich platzt der Knoten in mir. Eine Welle an Emotionen überkommt mich, erwischt mich eiskalt und bevor ich es überhaupt merke, kullern die ersten Tränen meine Wangen herunter.
Es ist total bescheuert, wegen ein bisschen Krimskrams zu heulen. Doch darum geht es eigentlich auch gar nicht. Es geht vielmehr um die Geste, die dahinter steckt. Lana macht sich wirklich Sorgen um mich und obwohl sie normalerweise die unnahbare, kalte Stütze der Gruppe ist, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt, ist sie hier. Neben mir, auf meinem Bett, und möchte mir helfen.
Zögerlich schiebe ich die Decke ganz zurück. Es wurde auf Dauer eh zu stickig unter dem Ding. Lana hebt aufmerksam den Kopf und sobald sie die Tränen auf meinen Wangen sieht, verzieht sie mitleidig das Gesicht, so als hätte ich ihr mit voller Wucht in die Magengrube getreten. Ehe ich mich versehe, hat sie ihre Arme um mich geschlungen und zieht mich an ihre Brust.
Und plötzlich kann ich mich nicht länger zurückhalten. Der Damm bricht ein für alle Male und ich breche in ihren Armen zusammen. Ich weine und weine, bis ich kaum noch Luft kriege und meine Augen so sehr brennen, dass jeder Wimpernschlag schmerzt. Und Lana ist einfach nur da. Und ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen werde, aber es hilft. Es hilft mir so sehr, dass ich es selbst kaum glauben kann. Und vielleicht habe ich insgeheim genau das gebraucht; Jemanden, der keine Fragen stellt. Jemanden, der mich einfach nur hält und da ist, um mich nach meinem Zusammenbruch wieder zusammenzuflicken.
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