elf
sein leben war 'ne achterbahn und dann legte er sich ins grab
»HAST du's schon gehört?«, fragt Lana mich am Donnerstag morgen, als sie genau eine Minute vor acht den Hörsaal betritt. Laut schnaufend lässt sie sich neben mich auf den unbequemen Holzstuhl fallen.
»Was denn?«, erkundige ich mich. Seit ein paar Tagen sind wir die einzigen, die sich morgens aus dem Bett quälen, um die freiwilligen Vorlesungen zu besuchen. Hanna, Livi und Valentina schlafen lieber aus.
Lana redet meistens nur über Partys und Jungs, weshalb ich nicht sonderlich gespannt auf das bin, was sie mir zu erzählen hat. Also fange ich an, nebenbei mein Tablet auszupacken.
»Warst du schonmal im Rewe ums Eck?«
Ich überlege. »Unsere Hochschule liegt im Zentrum Hamburgs! Es gibt gefühlt zehn Rewe ums Eck«, stelle ich fest.
Sie scheint einen Moment lang nachzudenken. Dann verdreht sie die Augen und schüttelt den Kopf. »Ich meine den Rewe neben dem neuen Studentenwohnheim, direkt nebenan.«
»Da war ich noch nicht.«
»Dann hast du definitiv was verpasst.«
Zweifelnd sehe ich sie an. »Ach ja?«
Sie nickt. »Ja. Da hat bis vor kurzem ein total süßer Kassierer gearbeitet.«
Sage ich doch. Mal wieder geht es um Jungs.
»Bis vor kurzem?«
Sie nickt erneut. Dann lässt sie plötzlich den Kopf hängen und seufzt. »Er hat sich das Leben genommen.«
Vor Schreck lasse ich mein Tablet fallen. Gefolgt von lautem Gepolter landet es auf dem Holzfußboden vor unseren Füßen. Der Knall hallt noch eine Weile durch den Saal und ein paar Studenten drehen sich mit genervtem Gesichtsausdruck zu uns um.
Ich beiße mir schuldbewusst auf die Unterlippe und hebe eilig mein glücklicherweise unversehrtes Tablet auf.
»So habe ich auch reagiert«, sagt Lana tonlos. Sie schaut angestrengt auf den Boden, während sie die Haargummis an ihren Handgelenken befummelt.
»Warum hat er das getan?«, frage ich leise.
Mein Mund ist ganz trocken. Ich habe den besagten Kassierer zwar nie gesehen, kannte nichtmal seinen Namen, aber trotzdem wirft mich eine solch niederschmetternde Nachricht aus der Bahn. Wie zersplittert und verletzt muss ein Mensch sein, um sich das Leben zu nehmen?
»Weiß man noch nicht«, raunt Lana mir zu, als der Professor den Saal betritt. »Willst du wissen, wie alt er war?«
Um uns herum wird es still.
Will ich das? »Ja.«
Einen Moment lang schweigt sie. »Dreiundzwanzig«, sagt sie dann und ich habe sie selten so ernst erlebt. »Er war verdammte dreiundzwanzig Jahre alt, Raya.«
Ich wende mich ab und entsperre mein Tablet. Ein fetter Kloß hat sich in meinem Hals gebildet, der auch nach mehreren Minuten nicht verschwindet.
Die leere Worddatei, die ich gestern Abend ›Mein Song‹ getauft habe, leuchtet mir entgegen und plötzlich weiß ich, worüber ich schreiben möchte.
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»Suizid?«, fragt Lana laut kauend während der Mittagspause, nachdem auch die anderen eingetrudelt sind und ich meine grandiose Idee vor versammelter Mannschaft verkündet habe. Ihre Stimme klingt schrill und sie wirkt aufgebracht. »Glaubst du wirklich, das kommt gut an?«
Ich zucke mit den Schultern.
Energisch streicht sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Nach dem, was der Kassierer aus dem Rewe ums Eck gebracht hat, finde ich das irgendwie zu viel des Guten.«
»Eigentlich wollte ich gerade deshalb näher auf das Thema eingehen«, verteidige ich meine Idee, während ich geistesabwesend mit meiner Gabel in meinem Essen herumstochere.
Ich bin noch nicht dazu gekommen, meine zerkochten Nudeln zu essen, die ich in dem Glauben, Kartoffelbrei zu erwerben, schaufelweise auf meinen Teller gekippt habe.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Wir haben noch eine halbe Stunde, dann beginnt die nächste Pflichtveranstaltung.
»Vielleicht solltest du dem Ganzen nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, Raya«, sagt Lana eindringlich. Inzwischen kaut sie nicht mehr und auch die Gabel mit dem Salat hat sie beiseite gelegt, um mich kritisch zu mustern.
Ich runzele die Stirn. Meistens wird solchen Themen doch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
»Der Typ war ein kranker Idiot«, fährt Lana schnippisch fort und schiebt ihren Teller grob von sich.
Gottseidank habe ich noch nicht angefangen zu essen, denn dann hätte ich mich spätestens jetzt an meinen Nudeln verschluckt.
»Nun guckt doch nicht alle so, als hättet ihr es noch nicht mitbekommen.« Lana sieht in die Runde.
Abwartend erwidern wir ihren Blick.
Sie seufzt theatralisch, als ihr dämmert, dass wir absolut keine Ahnung haben, wovon sie spricht. »Ein neuer Artikel über den Vorfall ist online. Der Kassierer hat nicht nur sich selbst umgebracht, sondern auch seine schwangere Freundin.«
Stille.
Hanna starrt betreten auf die Tischplatte. Livi kaut gebannt auf ihrer Unterlippe herum und Valentinas Blick wandert gedankenverloren durch die Mensa.
»Er hat sich erst betrunken, dann seine Freundin in den Kofferraum gesperrt und sein Auto in der Elbe versenkt. Er wollte, dass das Mädchen qualvoll ertrinkt, er wollte es. Er hat den Menschen umgebracht, der eigentlich der wichtigste Bestandteil seines Lebens sein sollte. Und sein eigenes, ungeborenes Kind hat er auch auf dem Gewissen. Ich möchte von diesem Thema nichts mehr hören. Schreib ein anderes Lied, Raya.«
»Aber dadurch, dass du es totschweigst, machst du es nicht besser«, sagt Livi und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie damit irgendwie auch Australien meint. Vielleicht, weil sie mich eindringlich ansieht, während sie redet. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur paranoid, weil wir uns nach unserem gestrigen Streit noch immer nicht ausgesprochen haben.
»Man kann es gar nicht besser machen.« Lana bindet zum ersten Mal seit ich sie kenne ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und widmet sich ihrem Salat, den sie vor wenigen Minuten erst verschmäht hat.
»Über so etwas sollte gesprochen werden«, äußert sich nun auch Hanna. »Ich finde es gut, dass du den Song einem solch sensiblen Thema widmen möchtest, Raya.«
Ich schenke ihr ein dankendes Lächeln. Und dann ist es wieder still.
»Können wir jetzt endlich über was anderes reden?«, fragt Lana genervt. »Wenn das so weitergeht, werde ich noch depressiv!«
Wir nicken, doch niemand weiß so recht, was er sagen soll. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt. Wir hängen alle unseren Gedanken nach. Gedanken an den Kassierer aus dem Rewe ums Eck. Als sich die Szene seines Todes vor meinem inneren Auge abspielt, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Hanna ist die erste, die sich wieder fängt. Sie setzt ein halbherziges Lächeln auf und deutet auf Valentinas T-Shirt. »Ist das eine Anspielung auf den Song Milkshake von Kelis?«
Die Italienerin sieht an sich herunter und versucht die Schrift, die auf ihrer Brust prangt, über Kopf zu lesen: MY SOYMILK FREES ALL THE COWS FROM THE YARD!
»Das ist keine Anspielung«, entgegnet sie nach einem kurzen Moment Bedenkzeit. »Sondern eine Tatsache.«
Dann ist es erneut still in unserer Runde. Die Leute um uns herum laufen in Scharen durch die Mensa. Einige kommen, die meisten gehen. Es herrscht reges Treiben in den Gängen und ein paar Meter entfernt von uns streiten sich mehrere Mädchen um einen freien Vierertisch.
Valentina klatscht motiviert in die Hände. Ich zucke kaum merklich zusammen, ehe ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie richte.
»Was ich euch noch fragen wollte: Weiß jemand, wo man ungestört komponieren kann? Die Bandräume der Hochschule sind ständig besetzt und meine Instrumente können erst in drei Wochen in die neue Wohnung geliefert werden.«
»Bei mir im Wohnheim gibt es auch einen Bandraum«, entgegnet Hanna, während sie mit ihrer Gabel ein Stück Blumenkohl attackiert. »Ich kann dir den Schlüssel geben, wenn du magst.«
Valentinas Augen fangen an zu leuchten. »Du bist meine Rettung!«
»Gibt es da auch ein Klavier?«, erkundige ich mich interessiert. Jetzt wo ich ein Thema für meinen Song gefunden habe, bin ich motiviert. Dass Lana damit nicht einverstanden ist, verdränge ich in die hinterste Ecke meines Kopfes. Es ist schließlich mein Projekt, nicht ihres.
Hanna nickt. »Klar. Da gibt es fast jedes Instrument.«
»Würde es euch was ausmachen, den Schlüssel mit mir zu teilen?«, frage ich hoffnungsvoll und sehe beinahe flehend zwischen den beiden hin und her.
Valentina verzieht gespielt ernst das Gesicht. »Ja, das würde mir definitiv etwas ausmachen.«
Wir müssen lachen. Ich atme erleichtert auf. Die beklemmende Stimmung ist wieder verschwunden. Genauso schnell, wie sie gekommen ist.
»Dann müssen wir uns aber absprechen«, merkt Hanna an.
»Auch das noch«, scherzt Valentina.
»Könnte ich den Schlüssel am Freitag bekommen?«
Hanna und Valentina werfen sich nachdenkliche Blicke zu. Dann nicken beide synchron.
Später erzählt Hanna uns begeistert von ihrer Schwester, die bald zu Besuch kommt. Livi, Valentina und ich nicken ab und zu anerkennend, während wir unser Mittagessen in uns hinein schaufeln. Lana schweigt. Als um kurz vor zwei dann allgemeine Aufbruchstimmung herrscht, schiele ich schnell zu ihr rüber. Sie schaut gedankenverloren auf ihr Handy. Geöffnet hat sie die Internetseite der Lokalzeitung und den Eintrag, der über den tragischen Selbstmord des Kassierers berichtet. Gerade schaut sie sich das Foto an, das dem online-Artikel beigefügt wurde. Und dieses Foto kommt mir verdammt bekannt vor.
In diesem Moment werden mir vier Dinge klar:
Das Leben ist eine Waffe, die ihr Ziel nie verfehlt.
Der Kassierer aus dem Rewe ums Eck, der nicht nur sich selbst, sondern auch seine Freundin und deren ungeborenes Kind umgebracht hat, ist der Junge auf dem Foto, das vor wenigen Tagen mit dem Wort ›MÖRDER‹ beschmiert am schwarzen Brett der Hochschule hing.
Leben und Tod liegen verdammt nah beieinander.
Und Lana ist vielleicht nicht ganz so herzlos, wie sie tut.
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