Sonntag, 15.12. - Ofenengel
Eigentlich hatte ich ja gestern schon Kekse backen wollen. Aber dann kam Alex Wunsch dazwischen, Karina aus seiner Wohnung und aus seinem Herzen zu räumen, und das ging natürlich vor. Grundsätzlich finde ich es ja richtig, dass man nach einer gewissen Trauerzeit loslässt und Platz im Herzen für etwas Neues macht. Aber das hier – und in dem Zustand, so total krank und fiebrig – das war eine einzige Viecherei. Ja, er hat losgelassen, und ich glaube ihm auch, dass er das meiste tatsächlich losgelassen und nicht einfach nur ausgeräumt hat. Aber er hat sich entsetzlich dabei gequält bis zur totalen Erschöpfung. Tausend Gefühle waren in seinem Gesicht zu sehen, Erinnerungen haben ihn mal gegrüßt, mal überfallen wie wilde Wölfe. Und er hat schonungslos einfach immer weiter und weiter und weiter gemacht. Schon das Zusehen war eine Qual.
Den Karton mit den Fotoalben und den gerahmten Fotos, die ich schon vor ein paar Tagen zwischen den Dekokisten gefunden hatte - und beinahe kaputt gemacht hätte – den hab ich vorsichtshalber erstmal konfisziert. Die kleinen Rahmen haben noch in den Karton gepasst, so dass er sie nicht sehen konnte. Das wäre die volle Dröhnung, und damit sollte er noch warten, bis sich alles andere gesetzt hat. Zum Glück hat er gleich fraglos akzeptiert, dass ich den Inhalt nur auf Nachfrage rausrücken werde. Es ist ein ganz sonderbares, wunderbares Gefühl, dass er mir so vertraut. Nicht das blinde Vertrauen eines Kindes in seine Eltern. Nicht das Zweckvertrauen zwischen Straßenkindern. Dieses Vertrauen ist ein kostbares kleines Pflänzchen, gewachsen in den wenigen Tagen und Stunden, die wir miteinander verbracht haben.
Also beschließe ich, dass ich heute gleich früh die Küche in ein Schlachtfeld aus Mehl und Glück verwandele und ihn einlade mitzumachen, wenn er irgendwann wach wird. Wecken werde ich ihn nicht nach diesem Marathon gestern. Und wer bis zum Ellbogen in Teig steckt, hat keine Chance, sich auf seine Vergangenheit zu stürzen. Lieber soll er erstmal mit mir über gestern reden, bevor er die nächste Aktion startet.
Ich habe mir vier verschiedene Rezepte ausgesucht – einmal Vanillekipferl, dann Terrassenkekse mit Marmeladenfüllung und Nussmakronen. Und natürlich einen ganz normalen Mürbeteig, damit ich ganz, ganz viele Engel backen kann. Mal sehen, wie weit ich damit heute komme. Voller Elan mache ich mir das alte Radio an, das da in der Küche rumsteht.
Obwohl - 'ne christliche Sendung.
" ... wieder wie die letzten Sonntage schon über ..."
Blablabla ... Was hab ik da denn für'n Sender erwischt!?! Will ik das? ...
"... heute soll es um die Engel in ..."
Oh, die Sendung geht über Engel. Na dann!
Schnell drehe ich das Radio etwas lauter.
Ich setze die Teige für die Kekse an und schlage grade das Eiweiß für die Makronen, als Alex ziemlich gerädert in die Küche geschlichen kommt. Er zieht den Duft der Zutaten in seine Nase und stöhnt genüsslich auf.
„Hmmmmm, das riecht ja vielleicht gut hier!"
Als er die vielen Schüsseln mit verschiedenen Zutaten sieht, grinst er.
„Na, da hast du dir ja was vorgenommen. Bis heute Abend wird der Ofen glühen! Kann ich dir dabei helfen, oder sind die Kekse danach alle virenverseucht?"
Steilvorlage...
„Solange du die Kekse nich küsst, dürften sie eigentlich gesund bleiben."
Sein Lachen geht in einen Hustenanfall über. Er stützt sich an einer Stuhllehne ab und trinkt schnell ein Glas Wasser.
„Lass uns erstmal frühstücken. Wie geht es dir heute Morgen?"
Er zuckt mit den Schultern und beginnt, den Tisch zu decken.
„Das war anstrengend gestern, und ich brauche das nicht jeden Tag. Aber ich glaube, der Einstieg musste so heftig sein, damit ich wirklich dranbleibe. Wenn ich erstmal wieder arbeite, geht das nur noch in ganz kleinen Dosen. Und ..."
Plötzlich hält er inne und schaut mich ganz weich an.
„Und ich war unglaublich froh, dass ich damit nicht alleine war. Danke, Lilli."
Im Radio bricht die nächste Stunde der Sendung an, und nun wird klar, dass es sich um die wöchentliche, sonntägliche Kirchenlabersendung handelt. Aber in diesem Advent sprechen die tatsächlich vier Wochen lang jeden Sonntag über Engel. Das können wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Also hören wir zu. Der Radiopfarrer liest grade ein Gedicht vor.
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
manchmal sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.
Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
er hört, wenn du rufst, in der Nacht,
der Engel.
Er steht im Weg, und er sagt: Nein,
der Engel.
Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein –
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Wir sehen uns nicht an, als das Gedicht zu Ende ist. Ich höre auch nicht mehr, was die Typen dann weiter labern im Radio. Ich lausche einfach in mich hinein. Und ich bin verwirrt.
War die Alte auf dem Weihnachtsmarkt mein Engel? Und: Bin ik jetzt eine Verbrecherin oder ein Engel? Oder kann man beides sein?
Irgendwann habe ich einen Knoten im Kopf vom Denken und durchbreche die komische Stille.
„Wolln wer mal?"
Nach dem Frühstück stürzen wir uns also auf die Teigberge. Bald schon entsteht ein Keksstau, weil die Bleche nicht so schnell wieder aus dem Ofen kommen, wie wir neues Backpapier mit den nächsten Fuhren belegt haben. Ich habe ein diebisches Vergnügen daran, wie Alex sich abmüht, einigermaßen u-förmige Kipferln zu formen. Und er bricht vor lauter Schadenfreude in helles Gelächter aus, als mir ein großer Schwung Mehl von oben bis unten auf Pulli und Hose fällt. Mit frech leuchtenden Augen kommt er auf mich zu, und ich springe sofort hinter die Kücheninsel.
„Nein! Ohhhh nein, Alex. Wir sind hier nicht in Hollywood in irgendeinem schlechten Klamaukfilm, wir sind im politisch korrekten Deutschland und werden deshalb aus moralischen, Umweltschutz- und welternährungstechnischen Gründen keine Mehlschlacht anfangen."
Schon hat er seine Hand im Mehlhaufen versenkt.
„Alex, nein!!!"
Ich habe keine Chance. Er fängt mich ein und – stupst mir nur einmal mit dem bemehlten Zeigefinger auf die Nase. Dann raunt er mir ins Ohr.
„Wo denkst du hin, Schutzengel. Ich werde doch als guter, politisch korrekter Deutscher kein Mehl verschwenden, von dem hungrige Kinder im Sudan und sonstwo auf der Welt tagelang satt werden könnten. Ich wollte einfach nur mal deine Reflexe testen."
Seine Stimme, dieses Wort Schutzengel, sein Lausbubengesicht und die ozeantiefen Grübchen bringen mich fast um den Verstand.
Scheiße, is das zum Anbeißen sexy. ... Äh ... Lilli? Nein!?! Vergiss es!!!
Ich bin heilfroh, dass ich mich schnell aus seinen Armen winden kann und er so mein Gesicht nicht sieht. Verlieben wär jetzt ganz schlechte Wahl. Auch wenn er es nicht weiß – ich bin sein Feind. Und ich könnte auch niemals was mit ihm anfangen und dabei so tun, als wäre ich das nie gewesen. Das hier – das ist ein wundervoller Traum, der nie in Erfüllung gehen wird. Also – huschhusch, zurück in die Wirklichkeit!!!
Wie gut, dass er jetzt den lauten Rums bei meiner Landung auf dem Boden der Tatsachen nich hören konnte. Das hat ziemlich gekracht. Und ziemlich weh getan ...
Bis zum Mittag liegen Berge von Vanillekipferln und Nussmakronen auf dem Tisch. Wir lassen die erstmal auskühlen und verkrümeln uns derweil mit den mikrowellenwarmen Resten der Pizza von gestern ins Wohnzimmer. In entspanntem einvernehmlichem Schweigen mümmeln wir unser Mittagessen. Ich gehe kurz auf Toilette. Und als ich wiederkomme, ist Alex auf dem Sofa eingeschlafen. Ich gebe ihm einfach einen leichten Schubs zur Seite und decke ihn dann zu.
Während er schläft, räume ich das Schlachtfeld in der Küche auf und suche nach geeigneten Dosen oder Gefäßen für die Keksberge. Ganz oben ganz hinten im Küchenschrank werde ich schließlich fündig. Mehrere Stapel Blechdosen lachen mir entgegen. Da ich zu klein bin, steige ich auf einen Stuhl. Beinahe wäre mir ein ganzer Stapel aus der Hand gerutscht. DAS hätte ein Getöse gegeben! Ich mache vorsichtiger weiter, bis ich alle Dosen unten habe. Einige fülle ich gleich mit den Kipferl und den Makronen.
Aber dann habe ich Lust auf Pause. Ich schnappe mir endlich mal wieder das „Stein und Flöte" und kuschele mich mit einer Decke in einen der Wohnzimmersessel. Dort versinke ich in dem Buch, bis mich ein lautes Gähnen vom Sofa her in die Gegenwart zurückholt.
„Hmmmmm. Hier riecht es so verführerisch. Sind das unsere Kekse?"
Ich muss über seine verwuschelten Haare und sein vom Schlafen zerknautschtes Gesicht lachen.
„Ja, das sind unsere Kekse. Und wir haben da noch Teig für zwei weitere Sorten liegen. Wolln wir wieder?"
Entschlossen machen wir uns an die Terassenkekse und die Engel. Nach einer weiteren ausgiebigen Backorgie kann ich endlich den Zuckerguss für die Engel anrühren, während Alex diesmal die Küche aufräumt. Andächtig schmieren wir zahllose Flügel mit der weißen und die Körper mit blauer Pampe ein, füllen dann noch einen Berg Terassenkekse mit Himbeergelee und lehnen uns schließlich seufzend zurück.
„So. Die müssen wir jetzt erstmal alle aufessen, Küchenfee."
Ich muss kichern.
„Küchenfee? Seh ik aus, als ob ik schwebe???"
Alex grinst schon wieder.
Aus! Pfui! Wegkucken, Lilli. Nicht freuen!!!!!
„Ist das dir selbst noch gar nicht aufgefallen? Du schwebst förmlich zehn Zentimeter über dem Boden, wenn du mit deinen Springerstiefeln über die Straße gehst."
Na warte!
„Ach, was ik dich die ganze Zeit schon fragen wollte, Alex. Bist du eigentlich kitzlig?"
Zu meiner grenzenlosen Verblüffung springt dieser Kerl von einem Mann auf und verlässt fluchtartig die Küche.
„Neeeeiiiiiiin, iiiiich doch nicht!"
Seine Stimme weht vom Flur herein, während er sich hastig entfernt.
Gut zu wissen! Wofür auch immer ...
Kurz darauf betritt er die Küche wieder - „bewaffnet" mit seinem Fahrradhelm auf dem Kopf und einem aufgespannten Regenschirm in der Hand, den er schützend vor sich hält wie ein Ritter sein Schild. In der anderen Hand hält er seine Fahrradpumpe wie ein Schwert und fuchtelt planlos damit herum.
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht loszugröhlen, und schaue mir das Gefuchtel eine Weile an.
„Alles klar. Du bist üüüüüüüberhaupt nich kitzlig. Eigentlich schade. Wir hätten sicherlich viel Spaß miteinander gehabt."
Dann liegen wir uns lachend in den Armen, und ich möchte ihn nie wieder loslassen. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich so ausgelassen und unbeschwert einfach nur albern war – da war ich zwölf oder so. Jedenfalls ist es viel zu lange her und tut einfach nur gut.
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Das Gedicht ist von Rudolf Otto Wiemer
und wurde zitiert aus:
"Engelstöne. Von himmlischen Boten und heimlichen Freunden".
Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, 2005.
15.12.2019 - 25.7.2022
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