Samstag, 7.12. - Engelschwemme
Heute ist Samstag, der 7. Dezember. Alex geht es heute wieder schlechter, aber kein Vergleich zu Mittwoch. Er hat einfach hohes Fieber, pennt die ganze Zeit und rafft exakt nix, wenn er mal halb wach ist. Keinen Schimmer, ob er wenigstens noch weiß, wer ich bin. Ich gehe um die Ecke zum nächsten kleinen Laden, den Kühlschrank auffüllen, diesmal mit Alex Geld. Chefkoch.de hat mir ein paar Keksrezepte verraten, dazu kaufe ich Zutaten und Keksstanzer. Außerdem habe ich ein Bündel Tannenzweige gekauft. Jetzt stehe ich in seiner Küche und schaue auf den Tisch vor mir. Keine Ahnung warum – aber da sind schon wieder Engel dazugekommen. Diesmal sogar gleich drei Stück. In dem Tante Emma-Laden um die Ecke gabs nämlich eine Gruschelkiste mit Deko. Und da ist mir ein Päckchen mit Miniholzengeln an Miniholzwäscheklammern dran in den Einkaufskorb gehüpft.
Irgendwo finde ich eine große Vase, da stecke ich die Zweige rein. Die frischen Nadeln duften ganz toll. Ich fülle die Vase mit Wasser auf, stelle sie auf den Wohnzimmertisch und hänge irgendwie alle Engel, die wir zusammenbekommen haben, in diese Zweige. Die Klammerengel haben jetzt fröhliche Gesellschaft von einem Lebkuchenengel, einem Schokoengel, einem Goldpapierengel, einem Glasengel, einem Brotengel und einem roten Filzengel. Der Lebkuchenengel, mit dem am Sonntag alles angefangen hat, hat sogar ein kleines Loch im Kopf mit einer dünnen Schnur. Ich lasse ihn einfach in der Celophantüte und hänge ihn auf. Das leise Knistern bringt mir die Erinnerungen an den Geruch von Glühwein, das Aroma der heißen Schokolade und das warme Gefühl von Geborgenheit in dieser ganz besonderen Stimme. Wieder fühle ich mich zurückversetzt in eine Zeit, in der alles gut war, in der ich geborgen war in einer Familie, in der das Leben noch zauberhafte Geheimnisse mitbrachte und ich neugierig auf jeden neuen Tag war.
Wieso eigentlich „war"??? Ik hab keenen Bock mehr auf „war schön, is jetzt scheiße"! Gut, Stargeigerin werd ik in diesem Leben nich mehr, es gibt nur eine Ann-Sophie Mutter. Aber es muss doch möglich sein, dass ik aus meinem Leben was anderes mach, als mich an einen Möchtegern-Robin Hood zu klammern, weil der meine Gefühle ausnutzt. Ei scheiße, Mann – der Typ hat mich kriminell gemacht, wissend, dass wir alle da so schnell nich mehr rauskommen. Und ik dumme Pute war so gutgläubig und so ausgehungert nach Zuwendung, dass ik mein Hirn ausgeschaltet und mitgemacht hab.
Leises Knistern von Celophan gibt mir die Antwort.
„Gib ihm die Chance, auf dich aufzupassen!"
Alex ruft. Ihm ist heute wieder so schwindelig, dass ich ihn lieber bis zum Bad begleite. Anschließend möchte er wieder aufs Sofa.
„Lilli, könnten Sie mir meinen Laptop bringen? Ich würde gerne ausprobieren, ob alles noch funktioniert."
Du mich auch. Du willst kontrollieren, ob ik wirklich nich reingekommen bin. Is in Ordnung. Wird Zeit, dass du aufwachst und wieder normal tickst. Hier springt 'ne Fremde in deiner Wohnung rum und kann an wirklich ALLES ran.
Ich versorge ihn erst mit Decken, Kissen, Tee und Co. und gehe dann ins Arbeitszimmer. Der Laptop hängt immernoch am Netzkabel, dürfte jetzt also satt und zufrieden sein und freudig seinen Dienst tun. Ich stöpsele ihn ab und trage ihn ins Wohnzimmer.
Alex Blick hängt an dem Strauß mit unserer kleinen Engel-Sammlung. In seinem Gesicht ist so viel, dass ich es nicht sortieren kann. Kindliche Freude? Amusement? Trauer?
Jei, was 'ne Mischung!
Ich bin so vertieft in seine Augen, dass ich kaum höre, dass er wieder mit mir redet.
„Das ist schön. Das hatte ich viel zu lange nicht mehr. Danke, Lilli."
Es wirkt fast, als müsse er sich mühsam losreißen von dem Anblick, als er nun nach dem Laptop greift und ihn auf seinen Schoß legt.
„Soll ik Sie allein lassen?"
Er schaut auf und direkt in meine Augen. Irritiert.
„Warum? ... Oh. Nö. Schon gut, Lilli. Ich vertraue Ihnen. Wenn Sie mich irgendwie hätten betrügen oder ausrauben wollen, dann hätten Sie das längst getan."
Alex konzentriert sich auf sein Laptop und freut sich, dass alles noch in Ordnung ist. Ik konzentrier mich auf meine Zehen, die in meinen Socken wackeln und versuchen, von dem tobenden schlechten Gewissen in meinem Kleinhirn abzulenken.
Wenn du wüsstest ...
„Aber ik könnt schonmal in den Keller gehen und die Weihnachtsdeko raussuchen."
Er schaut mich gar nicht an bei seiner Antwort.
„Bin ich so eine schlechte Gesellschaft, dass Sie unbedingt hier rauswollen?"
Wir müssen beide lachen, und die komische Stimmung verfliegt.
„Bringen Sie mir doch mal mein Schlüsselbund, dann erkläre ich Ihnen, wie sie runterfinden."
Er zeigt mir den Schlüssel zum Kellertrakt und zu seinem eigenen Keller und erklärt mir den Weg dorthin.
„Ach, wieviel Mineralwasser ist eigentlich noch in der Küche?"
„Jetzt wieder zwei Flaschen. Mehr konnt ik nich auf einmal tragen."
"Ach, du Schreck. Sie müssen nichts schleppen. Rechts vor der Küche ist die Besenkammer, da steht eine Sackkarre. Damit fahren Sie den leeren Kasten runter und holen bei der Gelegenheit einfach einen vollen mit rauf. Das Wasser ist nämlich auch im Keller."
Die Besenkammer hatte ich schon gefunden, jetzt entdecke ich auch die Sackkarre, stelle den leeren Wasserkasten aus dem Küchenschrank drauf und mache mich auf den Weg in den Keller. Fahrstuhl. Unten raus und rechts. Den Gang entlang. Dritte Tür links. Name steht dran. Da kann ja nix schiefgehen. Ich finde den Keller problemlos, schließe auf und gehe rein. Gleich links steht ein Turm mit Wasserkästen. Ich tausche also als erstes den leeren gegen einen vollen Kasten aus. Dann folge ich Alex Wegbeschreibung durch einen Parcours aus Kisten, Säcken mit irgendwie Klamotten, Schränken und potentiellem Sperrmüll.
Na, die Sachen sind ja gut versteckt.
Im hintersten Schrank finde ich zwei Kisten mit der Aufschrift Weihnachten, eine Osterkiste, eine Sommerkiste und eine Herbstkiste.
Wenn der mal so systematisch nach Jahreszeiten dekoriert hat – wieso hat er das dann jetzt so weit nach hinten verbannt? Das klingt doch eigentlich nach Methode und nach Spaß an der Sache. ... Naja – sein Leben.
Ich will die Osterkiste wegheben, um an "Weihnachten" dranzukommen. Dabei rutschen ein paar kleinere Bilderrahmen von der Osterkiste und fallen zum Glück auf den nächsten Klamottensack.
Glück gehabt. Bin halt ein Zwerg und kann da nich draufkucken ...
Ich hebe die Bilder auf und sehe lauter Fotos von einem lachenden Alex mit einer sehr attraktiven, genauso fröhlichen Frau an seiner Seite. In den Bergen, am Meer, hier auf der Dachterrasse, in voller Motorradmontur, vor irgend einem goldbekuppelten Tempel. Und mir dämmert, dass diese ordentlichen Kisten nicht von ihm beschiftet wurden. Sondern von ihr. Aber sie ist weg. Wohin auch immer. In DIESER Wohnung lebt jedenfalls keine Frau.
Die Schnüfflerin in mir gewinnt die Oberhand. Ich schaue mich genauer um. In den Müllsäcken sind Frauenklamotten. In der einzigen unbeschrifteten Kiste in diesem Schrank sind Fotoalben. In der Ecke stehen zwei Paar Skier, ein großes und ein kleines. Unter den Säcken ist ein Karton mit Schuhen. Frauenschuhe.
Wieso ist die Schnecke so gründlich weg, aber ihr ganzer Krempel ist noch hier???
Ich zucke vor der Antwort zurück, stelle die beiden Weihnachtskisten mit zu dem Wasser auf die Sackkarre und trolle mich wieder nach oben.
Oben finde ich Alex schlafend vor. Er sitzt etwas verrenkt auf dem Sofa, schnarcht leise und der Laptop auf seinem Schoß hat bereits gefährliche Schieflage bekommen. Schnell klappe ich den Läppi zu und stelle ihn auf den Tisch. Dann gebe ich Alex einen Schubs in die richtige Richtung, packe ihm noch ein Kissen unter den Kopf und decke ihn zu. Er glüht wieder. Ich öffne die Tür zur Dachterrasse weit, um ein bisschen zu stoßlüften ...
Keine Ahnung, wie das richtig heißt ...
Dann gehe ich in die Küche und koche uns eine dicke Kartoffelsuppe. Kochen hab ich schon von meiner Mama gelernt. „Stargeigerin mit Hausfrauenqualitäten" war das Lieblingsberufsprofil meiner Eltern für mich ... Und in dem Männerhaushalt beim Eulenspiegel muss ich auch selbst kochen, wenn ich nicht bei Tiefkühlpizza und Dosenravioli an Herzkranzverfettung verrecken will.
Im Wohnzimmer schließe ich die große Tür wieder und decke den Tisch. Aber ich warte lieber ab, bis Alex wach ist. Zusammen essen macht definitiv mehr Spaß. Bis dahin schnappe ich mir einfach einen Apfel.
Auch Mangelware im Hause Eulenspiegel.
Und ich habe mal wieder Zeit für den dicken Fantasyschinken. Ich tauche ab in den beschriebenen Klängen der zauberhaften Flöte, als wären sie nicht nur in meinem Kopf sondern auch in meinen Ohren, in meiner Seele und einfach überall.
Tschüß, Welt, ik geh dann mal ins Kopfkino ...
Erst gegen Abend holt Alex mich wieder zurück in die Wirklichkeit. Und mir wird bewusst, dass ich mich hier wie zu Hause fühle, warm, gemütlich, geordnet, sicher, angenommen. - Angekommen.
Das Gefühl darf sich bloß nich festsetzen, meine Tage hier sind gezählt.
Alex regt sich auf dem Sofa, klappt die Augen auf und schaut suchend um sich. Dann kommt er langsam im Hier und Jetzt an, grinst, richtet sich auf. Und fällt gleich wieder um.
„Boah, Schwester? Bitte Ibuprofen intravenös. Das ist ja nicht zum Aushalten!"
Eine Weile muss er dann doch noch aushalten, bis die Tabletten wirken und er sich mit klapprigen Knien zum Esstisch schleppen kann.
Ich wärme derweil die Suppe wieder auf und setze mich dann zu Alex.
„Hmm! Selbst gekocht oder selbst gekauft?"
Kopp dicht, du Schnösel!
„Selbst gekocht. Kein Bock auf Dosenfressen."
Aber ICH bin grade etwas angefressen. Alex schaut mich an.
„Böse? Ich wollte Sie nicht beleidigen."
Naaaagut. Hast gewonnen.
„Schon Okay."
„Hm. Klingt so. Ganz unbedingt!"
Jetzt muss ich doch lachen und verschlucke mich dabei fast an der Suppe.
„Laaaangsam, Mädel. Ich brauche Dich noch. ... Ähm. Ich meine ... Sie. Ich brauche Sie noch."
Fühlt sich gut an. Versprich dich ruhig noch öfter, bei den Vornamen sind wir ja schon ...
„Lilli, ich gehe sofort ins Bett. Ich fühle mich völlig gerädert. Ich bin einfach noch kein guter Gesellschafter. Ist das in Ordnung?"
Aber schon wieder ganz Gentleman ...
„Natürlich. Ik bin hier, weil Sie krank sind. Schlafen Sie sich gesund! Ik fress mich einfach weiter durch Ihre Bibliothek."
Ich bringe Alex erst aufs Klo, dann ins Bett, verpasse ihm noch ein paar Medikamente und trolle mich wieder zu meinen Flötentönen.
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7.12.2019 - 25.7.2022
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