Samstag, 14.12. - Neuanfang
Heute Nacht habe ich von Karina geträumt. All unsere Fotos standen plötzlich wieder in der Wohnung, und ganz egal, in welchem Raum ich war, wo ich auch hingegangen bin – aus jedem Foto hat sie mir zugezwinkert oder mich angelacht und immer wieder gesagt:"Lass mich gehen!" Und dazu habe ich Geigenmusik gehört.
Ich wache seltsam schwebend und entspannt auf. Durch die offene Tür meines Zimmers höre ich Lilli in der Küche wurschteln, und die Wohnung, die für mich seit fast zwei Jahren eigentlich nur noch Schlafplatz war, fühlt sich plötzlich wieder wie zu Hause an – gefüllt mit einer Wärme, einer Freude, einer Neugierde auf jeden Tag. Gefüllt mit der Fröhlichkeit und der Musik von Lilli. Ich fasse einen Entschluss.
Vorsichtig teste ich, ob mein Kreislauf mich heute endlich wieder alleine aufs Klo lässt, dann erledige ich meine Morgenroutine im Bad und ziehe mir bequeme, frische Sachen an. Einen Moment lang lehne ich still in der offenen Küchentür und beobachte, wie Lilli vor sich hinpfeifend den Tisch deckt und dann offensichtlich auf ihrem Handy nach irgendwelchen Rezepten sucht, die Schubladen durchsucht, nebenher Zutaten aufschreibt und dabei glücklich aussieht. Sie streicht sich dabei immermal wieder eine Strähne hinters Ohr, die aber widerspenstig ist und sofort wieder rausrutscht.
„Guten Morgen, Lilli."
Ihr Kopf fährt hoch, und aus dem Lächeln wird ein Strahlen.
„Morgen, Alex!"
Das Verrückte ist, dass sie das wahrscheinlich selbst gar nicht merkt. Aber ich merke, dass es mich glücklich macht, dass sie sich bei mir so wohl fühlt. Ich hab ja immernoch keine Ahnung, wo sie eigentlich herkommt und was sie in ihrem eigentlichen Leben macht. Ich meine – Straßenkind ist nicht wirklich ein Beruf. Es ist ein Leben völlig jenseits meiner Vorstellungswelt. Aber wenn ich ehrlich bin – ich will es gar nicht wissen.
„Kaffee gefällig, der Herr?"
Lachend setzen wir uns an den Frühstückstisch.
„Dir scheint es heute wieder besser zu gehen."
Ich nicke erleichtert.
„Ja. Und ich habe mir grade für heute was vorgenommen. Vielleicht magst du mir dabei helfen."
Neugierig stützt sie ihr Kinn auf ihren Händen ab und schaut mich an.
„Au ja. Was denn?"
Jetzt zögere ich doch.
„Ich ... Ich habe, nachdem Karina gestorben ist, eine ganze Zeit lang diese Wohnung in ein wahres Mausoleum verwandelt. Das war richtig richtig gruselig. Dann habe ich plötzlich alles gerafft, was an sie erinnert hat, und es in den Keller oder in ihr Zimmer oben verbannt. Aber das alles möchte ich nicht mehr. Es ... es ist wie mit den Engeln und der Geige. Es war ein schöner Urlaub, und durch die drei Engel ist eine warme Erinnerung in mir. Es ist eine Geige, aber die Musik kommt jetzt von dir. Ich ... ich möchte mir die Dinge ansehen, die mich an sie erinnern. Und dann möchte ich sie loslassen. Manche von den Dingen und Karina selbst auch."
Stumm und mit großen Augen starrt Lilli mich an. Wieder fange ich an zu zweifeln. Ich höre ihr Flüstern kaum.
„Und dabei soll IK dir helfen?"
Ich kriege keinen Ton mehr raus, weil ich einfach nicht einschätzen kann, was grade in ihr vorgeht. Ich nicke bloß und warte ihre Reaktion ab. Genauso plötzlich, wie sie eben verstummt ist, richtet sie sich jetzt wieder auf und schaut mich entschlossen an.
„Na klar. Aber du gibst das Tempo vor und achtest bitte selbst gut darauf, wann es reicht. Ik kenn dich noch nich gut genug. Ik würde das vielleicht nich merken, wenn es zuviel wird."
„Danke!"
Ich überlege einen Moment, womit ich eigentlich anfangen, wie ich vorgehen will.
„Es sind so viele verschiedene Dinge. Ihre Kleidung und Schuhe zum Beispiel sind alle im Keller. Es sind nur Kleider. Aber wahrscheinlich kommt mir bei jedem zweiten Stück eine Erinnerung hoch an eine Begebenheit, bei der sie das getragen hat. Da sind all die Bilder von ihr, die ich in der Wohnung verteilt hatte. Keine Ahnung, wo ich die versteckt hab. Und alle ihre persönlichen Gegenstände hab ich nach oben in ihre Räume verbannt und dann abgeschlossen."
Lilli nickt und antwortet leise.
„Ich weiß – die Geige."
Wieder schweigen wir einen Moment.
„Ich weiß aber überhaupt nicht, wo ich anfangen soll."
Stille. Dann macht Lilli einen Vorschlag.
„Vielleicht solltest du dich erstmal in deinem Kopf den Dingen annähern. Erzähl mir erstmal, was da alles stecken könnte, und lausche in dich hinein, was dabei hochkommen könnte. Oder schreib es auf."
Sofort tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf.
Vielleicht ist das der richtige Weg? Dann weiß ich, welche von den Dingen ich als erstes tatsächlich in die Hand nehmen will?
„Lilli, könntest du mir aus der rechten Schreibtischschublade einen Block und Stifte mitbringen?"
Sie steht auf.
„Klar. Bin unterwegs!"
Und schon ist sie auf dem Weg zum Arbeitszimmer.
Während Lilli die Küche aufräumt und dabei herrlich normale Alltagsgeräusche macht, taste ich mich vorsichtig in die Kammer meiner Erinnerungen vor. Es entsteht sowas wie eine Tabelle. Da stehen Dinge. Und daneben stehen die Erinnerungen, die damit verbunden sind. Ich stelle zum Beispiel fest, dass mir die Schuhe nun wirklich völlig egal sind. Und bei den Kleidern werden wahrscheinlich ein paar sein, die mir etwas bedeuten – wie das Sommerkleid, das sie trug, als ich ihr den Antrag gemacht habe. Dagegen kann ich überhaupt nicht einschätzen, was passieren wird, wenn ich die Fotos anschaue. Wegen der Geige und der Noten bin ich einmal oben gewesen. Aber mich dort aufzuhalten, mich umzuschauen – das wird ein ganz anderes Kaliber sein.
„Hm. Das ... wird ein bisschen Arbeit sein. Aber ... könntest du dir vorstellen, dass du einfach alle Klamotten aus dem Keller hochholst? Hier auf dieser Ebene gibt es ja auch ein Zimmer von ihr. Da können wir alles reintun, und ich kann die Tür zumachen, wenns mir zuviel wird."
Lilli steht auf und holt die Sackkarre aus der Besenkammer.
„Klar. Mach ik."
Dann schnappt sie sich das Schlüsselbund. Und schon stiefelt sie los zum Aufzug. Ich dagegen stehe auf und wappne mich gegen den ersten Schwung von Gefühlen. Ich stehe im Flur und starre die Türklinke an. Schließlich öffne ich die Tür und schaue in das Zimmer. Es ist leer. So leer wie am Tag der Übergabe durch den Architekten. Also: leer. Aber die Luft ist voll von Karina. Ich lausche in mich hinein und stelle fest, dass ich es gut aushalten kann, hier drin zu sein.
Da höre ich es rumpeln im Flur. Lilli kommt mit den ersten Kisten und Kleidersäcken. Als sie ins Zimmer schaut, sehe ich ihr die Verblüffung an.
„Da sind ja überhaupt keine Möbel. Hast du irgendwo einen Tapetentisch oder Campingmöbel, damit wir hier nich die ganze Zeit auf dem Fußboden rumrutschen müssen?"
Und schon ist sie wieder verschwunden. Mit der nächsten Fuhre bringt sie meinen dreiteiligen Tapetentisch mit und zwei Klappstühle. Dann kommen nochmal Klamotten. Und ein etwas größerer Karton, in den sie mich aber nicht reinschauen lässt.
„Das packe ich in mein Zimmer, bis du danach fragst. Das wär jetzt zuviel."
Was drin ist, verrät sie mir nicht. Und im Moment habe ich auch das Gefühl, dass ich es lieber gar nicht wissen will. Eins nach dem anderen.
Ich hole mir erstmal den Besen und fege alles durch. Da hat sich doch in den vierzehn Monaten seit dem Tabularasa-Anfall einiges an Staub angesammelt. Dann stelle ich die Tische und die Klappstühle auf und sinke erstmal erschöpft auf den einen Stuhl. Ich starre die Kleidersäcke an.
Was mache ich hier eigentlich?
Der Raum scheint mir zu antworten, und er spricht mit Karinas Stimme.
„Du lässt mich gehen, damit Platz für Neues in dir ist. Und das ist gut so."
Entschlossen stehe ich auf und kippe einfach mal so drei der Kleidersäcke mitten im Zimmer aus. Ich beschließe, ganz systematisch vorzugehen. Ich will drei Haufen machen. Oxfam, weil richtig gut erhalten, Rotes Kreuz, weil deutliche Gebrauchsspuren. Und behalte-ich-erstmal, um zu sehen, was meine Gefühle dazu sagen. Als Lilli wiederkommt, hocke ich tatsächlich doch auf dem Fußboden, ziehe wahllos Sachen aus dem großen Haufen, kontrolliere alle Taschen und schmeiße das Stück dann zügig auf einen der drei Haufen.
Wobei der dritte Haufen noch gar nicht der Behalten-Haufen ist. Da liegt noch nichts. Der dritte Haufen besteht aus den Sachen, die ich in den Hosentaschen finde – Münzen, ein Ohrring, eine Fahrkarte, Taschentücher.
Boah. Was hat sie immer mit mir geschimpft, wenn ich mal ein Taschentuch vergessen hatte, das dann eine komplette Maschinenladung eingekrümelt hat. Dabei hatte sie selbst die Taschen voll!
Ich bin vollkommen versunken. Das Verlobungskleid taucht auf. Ich rieche daran und lege es sorgfältig beiseite. Wieder fliegen einige Sachen auf die beiden großen Haufen. Aber es fällt mir nicht mehr so leicht.
Und irgendwann schlingen sich vorsichtig zwei warme Arme um mich. Lillis Stimme flüstert an meinem Ohr.
„Mach Pause, Alex. Du weinst seit einer Viertelstunde leise vor dich hin. Mach Pause."
Ich fasse mir ins Gesicht und spüre, dass es tränennass ist. Erschöpft lasse ich mich nach hinten sacken und lehne mich bei Lilli an. Die zierliche, weiche, warme Lilli, die mich nun einfach hält, bis ich wieder klar denken kann. Sie hilft mir auf, bringt mich wie ein Kind ins Bett und wartet bei mir, bis ich mich in den Schlaf weine. Das letzte, was ich denke, ist:
Womit habe ich dich verdient, Lilli?
Als ich wieder aufwache, ist es Mittag, und ein verführerischer Duft nach Pizza zieht durch die Wohnung. Ich schlappe in die Küche und stelle fest, dass Lilli die Pizza so richtig selbst gemacht hat.
Luxus pur!
Wieder komme ich in den Genuss, dass Lilli eine phantastische Köchin ist. Ich überlege, ob ich weitermachen oder es für heute gut sein lassen soll.
„Ich glaube, es ist hart, aber ich würde gerne mit den Klamotten heute fertig werden. Sonst brauche ich ewig für alles, und das ist wahrscheinlich noch viel anstrengender als dieser Marathon."
Lilli sieht mich mit staunenden Augen an.
„Du bist verrückt!"
Ich schüttele den Kopf.
„Ich möchte, dass dieses Aufräumen und Hinschauen ein Moment ist – und kein Zustand."
Und so schlafe, räume und weine ich mich durch den Tag, während Lilli einfach immer bei mir ist, Sachen holt oder wegbringt, tröstet, zuhört, mich hält, mich immer wieder in den Schlaf wiegt. Aber am Abend stehen dann endlich die Säcke für Oxfam und das Rote Kreuz in zwei Ecken des Zimmers, eine Tupperdose ist gefüllt mit Kleinigkeiten und die Mitte des Zimmers ist wieder leer.
Und: an unserem Strauß hängt ein weiterer Engel, denn zwischen Karinas Mützen, Schals und Handschuhen haben wir eine Tüte gefunden, die mir echt Rätsel aufgegeben hat. Bis mir klar wurde, dass sie den kleinen Strohengel, der in der Tüte steckte, irgendwann auf dem Weihnachtsmarkt gekauft und dann aus Versehen mit ihren Handschuhen ins Regal gestopft haben muss. Nun wird er zu einem letzten Gruß, der sich wie ein Puzzlestück in unseren engeligen Advent einfügt und Karina ohne Schmerz einfach an unserem Alltag teilhaben lässt.
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14.12.2019 - 25.7.2022
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