Montag, 2.12. - Rette sich, wer kann!
Montag Morgen, 2. Dezember, und ich bin jetzt schon völlig bedient von Weihnachten. Jingle Bells hier, Zimtsterne da, Kompanien von aufdringlichen Weihnachtsmännern dort. Der Briefkasten quillt jeden Abend über vor lauter Spendenaufrufen. Weihnachten kann echt schön sein, aber so wird es begraben unter einer Lawine von Kitsch und Kommerz.
Wenn das wenigstens nur draußen wäre. Aber irgendjemand hat diese hübsche Dame für den Empfang eingestellt, und die ist dermaßen im Festrausch, dass alle Mitarbeiter durch das Entré rennen, um ihr nicht in die Finger zu fallen und mit Engelshaar behängt zu werden.
Selbst Schuld. Die Dame habe ich selbst eingestellt, weil sie auf den ersten Blick so superkompetent gewirk hat.
Sie hat sich am Anfang ja auch nicht dumm angestellt. Aber kaum war die Probezeit rum, hat sie ihr wahres Ich offenbart. Schwupp, schon am nächsten Tag hatte ich sie an den Hacken. Das sind die Tage, an denen ich es bereue, dass ich während des Studiums nicht in einer schlagenden Verbindung war und mit drei großen Narben im Gesicht rumlaufe. Ich habe nicht danach gefragt, so attraktiv zu wirken. Im Gegenteil, es geht mir gewaltig auf die Nerven, dass ich nie weiß, woran ich bin. Das hat schon in der Schule angefangen. Alex niedlich, Alex süß. Und seit ich studiere, waren nahezu alle Mädchen nur nach dem Schmuckstück an ihrer Seite bzw. dessen Bankkonto aus.
Bis auf ... - Aus! Nicht jetzt!!!
Und jetzt dekoriert die Dame von ihrem Empfangstresen aus in wellenartig sich ausbreitenden Schüben die ganze Firma „weihnachtlich". Wobei – weihnachtlich? Ich fühle mich wie in einer Tropfsteinhöhle, so sehr glitzert und funkelt und blinkt es vom Boden bis zur Decke. Fehlt nur noch, dass sie sich selbst kleine, rote Kugeln an die Ohren hängt und sich ein Minikleid aus Lametta strickt.
Ich komme jeden Morgen um die selbe Zeit, etwas vor meinen Angestellten, um den Tag in Ruhe beginnen lassen zu können. Am Anfang kam Sabrina noch normal zum Dienst, aber irgendwann fing sie an, auch zu früh zu kommen, damit sie mich gleich alleine erwischen und mich schonmal wimpernbeklimpern und hinternbewackeln konnte. Als nächstes habe ich versucht, noch früher zu kommen, aber sie hat locker nachgezogen. Ausdauer hat sie, das muss man ihr lassen. Jetzt komm ich wieder normal zwischen 7:30 und 8:00, gehe mit dezent freundlichem Nicken stur an ihr vorüber und lasse mich auch nicht zurückrufen. Um 8:30 ist Morgenmeeting, da besprechen wir alle den Tag, da ist sie sowieso dabei. Und vor allen traut sie sich nicht so richtig.
Gott sei Dank!
Am Nachmittag habe ich heute den Termin des Jahres. Wir haben die Chance, den Security-Auftrag für gleich mehrere Bundesministerien zu ergattern – draußen Leute, drinnen Leute. Wenn ich den Deal mache, dann kann ich gleich ein ganzes Rudel Leute mehr einstellen. Ganz zu schweigen von der Publicity. Und die Bezahlung ist wegen der Wichtigkeit der Objekte so gut, dass ich mir endlich meinen Traum erfüllen kann. Seit Karina vor knapp zwei Jahren nach diesem fiesen Unfall erst im Koma gelegen hat und dann gestorben ist, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mit der Firma genug Gewinn zu machen, dass ich garantiert das Gehalt für zwei Mitarbeiter im Hospiz spenden kann. Die Einrichtung im Johannesstift in Spandau steht ständig kurz vor der Schließung, weil dauernd die öffentlichen Zuschüsse gekürzt werden und die paar Mitarbeiter einfach völlig überlastet sind. Dabei wäre ich wahnsinnig geworden damals, wenn die mir nicht während der ganzen Zeit so toll zur Seite gestanden hätten.
Ich sagte: Aus! Nicht jetzt!!!
Während ich die Treppen aus der Firmengarage hoch zum Büro laufe und mich äußerlich schonmal für den Glitzeranschlag wappne, driften meine Gedanken wie so oft in dieses schwerste Stück meiner Vergangenheit ab, ob ich will oder nicht. Wir wollten heiraten. Illegales Autorennen mitten in der Stadt. Puff – tot. Ihr Schutzengel, an den sie so fest geglaubt hat, war wohl grade mal am Handy ... Ich schüttele die Gedanken endgültig aus meinem Kopf, hole tief Luft, trete aus dem Fahrstuhl und sprinte in mein Büro.
Die Routine empfängt mich mit dem glücklichen Gefühl von Ablenkung. Mails lesen, Post öffnen, Termine checken. Dann gehe ich in unseren Konferenzraum, wo alle Innendienstmitarbeiter jeden Morgen kurz zusammenkommen. Ich begrüße alle, wünsche ihnen einen schönen Advent, spreche kurz die Angelegenheiten der Woche durch und stehe noch für Fragen zur Verfügung. Ich nicke den Dienstplan für die Außendienstler an den Feiertagen und zwischen den Jahren ab und ziehe mich für die nächsten Stunden in mein Büro zurück.
Nachdem ich mir hinter verschlossener Tür meine mitgebrachte Stulle zu Gemüte geführt habe, damit ich nicht an der Mittagstheke der Puppe vom Empfang in die Hände falle, hole ich Flo an seinem Schreibtisch ab, der hoffentlich bald der Zuständige für das Objekt „Ministerien" sein darf, und wir brechen auf zum vereinbarten Termin im Innenministerium. Unterwegs einigen wir uns nochmal auf eine gemeinsame Argumentationslinie. Aber ich bin ganz zuversichtlich.
Gemeinsam mit einem Staatssekretär und einem unabhängigen Juristen gehen wir den Vertrag nochmal Punkt für Punkt durch, besprechen Einsatzorte und -Zeiten, regeln die Finanzierung und legen Kommunikationsstrukturen fest. Eine Sekretärin reicht Kaffee und Tee herum. Auf jeder Untertasse liegt ein Schokolädchen.
Ein Engel. Habe ich heute Morgen noch dran gedacht. Allerdings eher bitter als süß...
Das Schokolädchen ist in Alufolie gewickelt – ein kleiner, fröhlich grinsender, Harfe spielender Engel. Gedankenverloren stecke ich meinen in meine Aktentasche.
Drei Stunden später treten wir mit einem Vertrag in der Tasche wieder hinaus ins verschneite Berlin. Wenn meine Berechnungen stimmen, darf Flo sich jetzt auf die Suche nach zwanzig kompetenten Security-Mitarbeitern machen. Einen für den Innendienst, neunzehn für den Außendienst - und dazu zwei weitere Einsatzfahrzeuge. Ab 1. Februar beziehungsweise 1. März haben wir die Aufgabe vertraglich fest.
Als wir wieder die Firmenräume betreten, schallt uns vom Tresen her „Schneeflöckchen, Weißröckchen" entgegen, und ich unterdrücke einen Würgereiz. Das viele Glitzern und Blinken verursacht mir Kopfschmerzen, und irgendwie tun die Augen weh bei dem grellen Licht.
Ich glaube, ich werde heute zur Feier des Tages nicht alt hier. Wenn es mir dermaßen hinter den Augen sticht, kann ich mich sowieso nicht konzentrieren.
Eine Stunde später kann ich endgültig keinen klaren Gedanken mehr fassen und breche etwas früher als gewöhnlich nach Hause auf. Unterwegs halte ich noch an einer Apotheke an und decke mich mit Kopfschmerztabletten und den üblichen „im Winter habe ich immer mindestens einmal einen grippalen Infekt"-Medikamenten ein.
Zu Hause parke ich in der Tiefgarage, fahre mit dem Fahrstuhl ganz nach oben und betrete mit einem Seufzer der Erleichterung meine Wohnung. An solchen Tagen bin ich dankbar, dass ich mir eine dimmbare Lichtanlage gegönnt habe. Im Dämmerlicht schlüpfe ich in meine dicken Wollsocken, koche mir einen Kräutertee, schlucke zwei Ibuprofen und kuschele mich auf mein Sofa. Aber Lesen klappt nicht. Also Buch weg. Ich mache leise Musik an. Nach einer Weile kratzen mir die Geigen im Hirn. Also Musik wieder aus. Ich stelle mich vor das große Panoramafenster und starre durch das Dunkel in die umliegenden, im Sommer wunderschön Hinterhöfe. Jetzt Anfang Dezember liegen Blumenkübel und Balkongeländer im weißen Dornröschenschlaf. Es schneit schon wieder, das Licht aus vielen, vielen Fenstern bricht sich in jeder einzelnen Flocke und lässt die Höfe sanft und geheimnisvoll schimmern.
Karina hat diesen Blick geliebt. Sie hat immer gesagt, das sei wie Kino. Und da liefen dreißig Filme gleichzeitig, man könne sich jederzeit das gewünschte Genre für die momentane Stimmung aussuchen und einfach Film kucken – Romantik, Drama, Krimi, Komödie, Kinderträume, ...
Wann werde ich dich endlich loslassen, Karina? Mein Engel. Meine Seele.
Vom Kopf her weiß ich, dass es Zeit ist. Ich weiß, dass ich nach vorne schauen sollte. Ich weiß, dass ich noch jung bin und ein ganzes Leben vor mir liegt und es noch ganz viele andere schöne Frauen gibt und ich ein viel zu netter Kerl bin, um irgendeine andere Frau leer ausgehen zu lassen, und dass ... Blablabla. Es ist einfach unglaublich, was Menschen freiwillig von sich geben, nur um irgendwas von sich zu geben. Klar habe ich ein paar treue Freunde, die in der Lage waren, einfach mit mir zu schweigen, wenn es dran war. Oder mich in die nächste Bar geschleppt haben, um meinen Katzenjammer in Mineralwasser zu ertränken. Aber bei den allermeisten Menschen hatte ich im Laufe der Zeit zunehmend das Bedürfnis, ihnen ihre ach so mitfühlenden Kommentare in den Rachen zurückzustopfen.
Keine Ahnung, warum ich heute so mies drauf bin. Aber Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit und Melancholie auf einen Haufen sprechen eine deutliche Sprache.
Ich geh jetzt einfach ins Bett. Vielleicht mag mich ja der dritte Dezember lieber als der zweite, dann nehm ich halt den.
...............................................................
2.12.2019 - 24.7.2022
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro