Montag, 16.12. - schon wieder!
Ich war zweiundzwanzig und Informatikstudent, als ich begriffen habe, dass im Zeitalter von computergesteuerter Technik und Datenpiraterie Sicherheit neu buchstabiert werden muss. Ich habe angefangen, Sicherheitsmodule für Türen, Fahrstühle und Server zu programmieren, die zuverlässig Hackerangriffe erkennen und melden. Als ich dreiundzwanzig war, fingen große Firmen an, mir diese Programme aus den Händen zu reißen. Ich gründete meine eigene Firma CASA SECURA und durchsetzte Berlin mit meinen Sicherheitsmodulen. Doch schon ein Jahr später entstand ein seltsames Phänomen. Nach ganz bestimmten Mustern begannen Hackerangriffe auf genau meine Software. Immer, wenn wir was verändern oder neu rausbringen, passt sich der geheimnisvolle Hacker sofort an. Er ist kreativ und uns immer auf den Fersen. Bei unserem Service und bei der Polizei laufen ständig Meldungen ein. Es wurden auch Haushalte und Firmen tatsächlich gehackt und gründlich ausgeräumt. Die hatten aber ausnahmslos keine Software von uns. Im Laufe der Zeit entstand ein ziemlich kurzer Draht zwischen der Cybercrime-Abteilung bei der Polizei und mir. Inzwischen bin ich mit Kommissar Karsten Mann per Du.
Und genau den habe ich nun deutlich früher in der Leitung, als mir heute lieb ist.
„Sag mal, Alex, was geht denn da bei dir ab?"
Ich bin noch nicht ganz wach und ziemlich irritiert.
„Warte, lass mich erst wach werden. Was meinst du? Das Ding mit dem Fahrstuhl von vor drei Tagen?"
Ich strecke mich ausgiebig und unterdrücke ein Gähnen.
''Das und der zweite Versuch heute Morgen. Hat Florian dich noch nicht informiert?"
Jetzt sitze ich kerzengrade im Bett.
„Heute Morgen???"
Karsten lacht.
„O.K., er sagte was von krank und so. Da hat er dich wohl schlafen lassen. Ja, heute ganz früh morgens. Aber diesmal kam es nicht aus deinem Haus, was übrigens stimmt, ob du willst oder nicht. Diesmal war es Robin Hood, der an dich ranwollte."
Nicht schoooooon wieder!
„Oh Mann, der Kerl geht mir allmählich unglaublich auf die Nerven! Soll der sich doch im Sherwood Forest tummeln und nicht in meinem Fahrstuhl. Was will der denn hier!?!"
Karsten wird wieder ernst.
„Das möchte ich ja gerne von dir wissen. Was gibt es bei dir zu holen, dass er unbedingt haben will? Ich bin inzwischen bereit, auf meine Mutter zu schwören, dass Robin Hood es direkt auf CASA SECURA abgesehen hat. Oder sogar auf dich. Ich lass dich jetzt weiterschlafen. Aber wir sollten uns demnächst mal zusammensetzen und genauer hinschauen, ob wir nicht doch eine direkte Verbindung zwischen Robin Hood und dir finden. Dieses Mal ist er echt zu weit gegangen."
Wir legen auf, und ich packe mich wieder hin. Aber schlafen kann ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr. Ich angele mir mein Handy vom Nachttisch und rufe Flo an.
„Moin! Karsten hat mich grade mit einer überaus entzückenden Nachricht geweckt. Ich bin völlig aus dem Häuschen vor Glück."
Flo grummelt.
„Spar dir deinen Sarkasmus. Bisher hab ich hier problemlos die Fahne hochgehalten, während du dich auskurierst. Aber wenn ich ehrlich bin – könntest du heute mal hier angewackelt kommen und mit mir zusammen über die beiden Hacks drüberkucken? Du solltest damit nicht noch zwei Wochen warten. Das gilt eindeutig direkt dir."
Ich seufze. Aber er hat Recht.
„Lass mir Zeit, langsam in die Gänge zu kommen. Ich schneie dann im Laufe des Tages rein. Informier aber bitte alle, dass sie soweit wie möglich Abstand von mir halten sollen. Diese Krankheit macht echt üüüberhaupt keinen Spaß ..."
Langsam in die Gänge kommen hab ich gesagt. Dann sollte ich damit langsam mal anfangen ...
Ich schlurfe also zum Bad und bringe für mein Äußeres etwas mehr Sorgfalt auf als in den letzten Tagen. Als ich mich in den Wohnbereich aufmache, höre ich schon wieder Lillis fröhliches Pfeifen aus der Küche.
„Morgen, Alex. Du siehst echt wieder besser aus. ... Aber warum bist du so ordentlich angezogen?"
Ich überlege, wieviel ich ihr erzählen kann.
„Ich muss heute ins Büro. Lässt sich nicht vermeiden. Es gab ein paar Probleme mit einem Standort, wo unsere Software läuft. Mein Stellvertreter möchte das nicht mehr ohne mich händeln müssen."
Lilli sagt dazu gar nichts sondern wendet sich der laut schlürfenden Kaffeemaschine zu.
"Milchkaffee wie immer?"
„Ja, danke! Das ist echt ein super Service hier. Fast wie im Schlaraffenland."
Sie kommt an den Tisch und setzt sich.
„Alex? Tust du mir 'nen Gefallen? Fahr bitte nich mit dem Auto. Das is einfach zu gefährlich. Die Fieberschübe kommen doch recht plötzlich."
Uuuups, fühlt sich das gut an, wenn sich jemand Sorgen um einen macht.
„Das Auto ist ja eh noch beim Büro. Aber du hast Recht, ich nehm ein Taxi. Auch zurück."
Ich zwinkere Lilli zu, und sie schaut ziemlich erleichtert.
Wir frühstücken gemütlich zu Ende, dann rufe ich mir ein Taxi und mache mich auf die Socken. In der Wohnungstür drehe ich mich nochmal um.
„Was wirst du heute machen mit deiner freien Zeit?"
Lilli zuckt mit den Schultern, kuckt dann aber ganz verschmitzt.
„Geige spielen, Engel jagen, Essen kochen und rausfinden, wo wir die Klamottensäcke hinbringen können."
Sie winkt mir zum Abschied, und ich fahre mit dem Fahrstuhl nach unten. Mit dem Fahrstuhl, den ich persönlich mit meiner Sicherheits-Software ausgestattet habe. Mit dem Fahrstuhl, den dieser Robin Hood versucht zu knacken. Wie auch immer er in dieses Haus gekommen ist ...
Ich lasse mich direkt vor der Firma absetzen und fahre gleich nach oben. Und ich habe tatsächlich inzwischen so viel inneren Abstand gewonnen, dass ich völlig vergesse, was mich gleich am Empfang erwartet. Entsprechend unvorsichtig bin ich. Und laufe sofort der Amsel in die Arme, die mich sogleich anflötet und anbaggert.
Himmel, hilf!
Eh ichs mich versehe, habe ich einen Schoko-Nikolaus und einen furchtbar glitzerigen Engel in der Hand.
„Nein, ist das schön, Alex, dass du wieder da bist. Du siehst schon wieder richtig gut aus! Hier, ein bisschen Advent für deine verwahrloste Singlebude."
Gnade! Sie kennt weder meine durchaus nicht verwahrloste Wohnung, noch hat sie mich wirklich krank gesehen. Und dieses Glitzer...ding. Wobei ... Engel! Ich bin heute dran. Und in der Masse zwischen all den anderen wird er nur ein bisschen vor sich hinglitzern. Nett kucken tut er ja ...
Quer durch unser modernes Großraumbüro grinst mich Flo an.
Miststück! Na warte ...
Ich eise mich irgendwie von der Amsel los und flüchte in Flos „Arme".
„So, dann lass uns mal kucken. Lange halte ich noch nicht durch."
Zum Glück versteht die Amsel den Wink mit dem Lattenzaun und lässt uns in Ruhe. Flo zeigt mir die elektronischen Protokolle von beiden Angriffen auf meinen Fahrstuhl. Es ist eindeutig – der erste war nur kurz und kam nur bis zum ersten Hindernis, aber – er kam aus meinem Haus. Allerdings mit so verwaschenen Spuren, dass nicht auszumachen ist, von welcher ID.
Mist!
„Das macht mir echt Kopfzerbrechen. Warum geht da jemand ran, ist dabei so professionell getarnt – und gibt dann sofort wieder auf? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn."
Mir geht es genauso wie Flo. Wo zum Henker steckt da irgendein Sinn dahinter?
Es sei denn ...
Wir sehen uns an und sprechen den selben Gedanken aus.
„Es sei denn, der erste Angriff war nur die Vorbereitung für den Zweiten."
„Komm, ich zeig dir den Zweiten."
Wieder vertiefen wir uns in Datenschlangen auf dem Bildschirm und versuchen, irgend welche Übereinstimmungen zwischen den beiden Angriffen oder den dazu benutzten Geräten oder ... IRGENDWAS zu finden. Aber im Endeffekt ist nur eines klar. Die Spur des zweiten Angriffs verliert sich wie immer beim selben Server – in Pankow. Robin Hood.
„Alex, das musst du jetzt selbst überlegen. Soll Karsten bei dir im Haus alle Geräte konfiszieren und kontrollieren lassen? Oder hast du dann auf alle Zeiten bei den Nachbarn verschissen?"
Mir brummt inzwischen schon wieder ganz schön der Schädel, und wenn ich mir vorstelle, dass Dr. Schneider seine sämtlichen Praxisgeräte weggenommen werden, unter Umständen für mehrere Tage ...
„Nee, das ist glaube ich keine so gute Idee. Er ist ja wieder nicht durchgekommen. Ich werde vorsichtig sein und versuchen, rauszufinden, an welcher Stelle der erste Angriff gestartet wurde. Aber mehr möchte ich im Moment nicht tun. Halte mich bitte weiter auf dem Laufenden."
Flo kuckt skeptisch.
„Macht mich nicht zufrieden. Aber du bist schon ganz grau im Gesicht. Ab nach Hause mit dir!"
Er ruft mir ein Taxi und begleitet mich nach unten.
„Nicht, dass die Lady noch meint, sie müsste fürsorglich werden."
Flo grinst. Ich bin ihm ehrlich dankbar.
„Ach, und Alex? Der Betriebsausflug auf den Weihnachtsmarkt ist am Montag, 23. Die anderen konnten vorher nicht. Ich hoffe, das passt bei dir."
Als ich zu Hause ankomme, hab ich bereits so klapprige Knie, dass ich den Taxifahrer bitte, noch einen Moment zu warten. Ich piepe Lilli an und warte, bis sie runterkommt und mich einsammelt. Kopfschüttelnd hilft sie mir aus dem Taxi, bringt mich nach oben und auf dem direkten Wege ins Bett.
„So. Du hast jetzt Bettarrest! War das soooo wichtig, dass du dich dafür so verausgaben musstest?"
Mit letzter Kraft nicke ich, während mir schon die Augen zufallen.
„Ja, war es. Zwei Angriffe von unterschiedlichen Seiten auf denselben Punkt. Das hatten wir noch nicht."
Ich wache erst wieder auf, als es draußen schon dämmert. Vom Wohnzimmer her höre ich mal wieder Geigenmusik. Aber aufstehen und hingehen – no go. Ich komme nichtmal bis zur Tür. Dafür hört Lilli zum Glück, dass ich nach ihr rufe. Sie „kratzt" mich vom Boden auf und schimpft wie ein Rohrspatz über meine Unvernunft.
„Oh Mann – Männer! Wie beschissen muss es dir eigentlich noch gehen, dass du endlich zur Vernunft kommst!?!"
Sie ist eindeutig verdammt attraktiv, wenn sie sich aufregt.
„Wenn es nach deiner Theorie geht – was erwartest du? Ich bin ein Mann, ich kann doch gar nicht anders!"
Lilli knurrt, und ich habe meinen Spaß.
Sie hilft mir erst aufs Klo, dann verfrachtet sie mich ins Wohnzimmer aufs Sofa. Hier werde ich mit Medikamenten und einem echt leckeren Salat aus Rucola, Birnen, Apfelessig und Walnüssen gefüttert. Dazu frisch geröstetes Weißbrot.
Also – bevor sie wieder auf der Straße landet ... Mein Haushalt ist bei ihr in den besten Händen ...
Es fuchst mich ein bisschen, dass ich heute viel zu fertig bin, um mit der Räumerei weiterzumachen. Aber eine Sache möchte ich doch gleich tun.
„Lilli? Könntest ... könntest du mit mir nach oben gehen?"
Sie schaut mich an und begreift recht schnell.
„Bist du dafür fit genug?"
Ich schüttele den Kopf.
„Ich glaube, dafür werde ich nie 'fit' genug sein. Wir müssen heute auch gar nichts räumen. Aber ich möchte wenigstens schonmal in den Raum rein."
Lilli steht auf.
„Na, dann komm."
Der Schlaf hat gut getan. Ich komme tatsächlich alleine bis oben. Hier gibt es - an einem kleinen Flur - eine Küche, ein Bad und einen richtig großen Raum, umgeben von der oberen Dachterrasse. Zögernd gehe ich hinein. Auch hier ist alles mit Staub bedeckt. Einerseits ist es besonders gemütlich hier in Karinas nahezu unberührtem Reich. Andererseits stehen da die Kartons mit ihren Büchern, ihr Schreibtisch und die Regale von unten, die ich hier damals reingepfeffert habe, ihr PC hockt einsam auf dem Tisch und einfach alles atmet ihren Geist. Ich beschließe, jetzt mal gar nichts zu tun. Einfach da sein. Hinspüren. Aushalten. Lilli steht neben mir und wartet ab.
Es fällt mir leichter, als ich dachte. Die Olivenholzengel, Lillis Geigenspiel, die Klamottenberge vorgestern – das alles hat schon so viel in mir bewegt. Auch der spontane Gedanke, diese Möbel bei den ebay-Kleinanzeigen für Selbstabholer anzubieten, schreckt mich nicht. Aber ich bin müde. Ich greife nach dem Notenständer in der Ecke.
„Sollen wir den mit runternehmen? Das ist doch bequemer als das Regalbrett, oder?"
Gemeinsam steigen wir die Treppe wieder runter. Ich schließe die Tür oben nicht mehr ab.
Glücklich stellt Lilli den Notenständer zur Geige im Wohnzimmer.
„Weißt du, was schade ist? Heute ist der erste Tag, an dem wir keinen Engel gefunden haben."
Da fällt es mir wieder ein.
„Greif doch bitte mal in die Taschen von meinem Mantel."
Sie geht in den Flur zur Garderobe und kommt nach zwei Minuten wieder rein. Strahlend stellt sie den hässlichen Glitzerengel vor die Vase mit unserem Strauß.
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16.12.2019 - 25.7.2022
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