Mittwoch, 4.12. - Wer sind SIE denn???
Es klingelt. Mir ist nicht ganz klar, warum das so weit weg klingt. Aber es hört sich doch an wie meine Klingel. Also beschließe ich aufzustehen. Die Augen kriege ich allerdings nicht auf, und da mir seltsam schwindelig ist, komme ich nicht mal bis zur Bettkante. Stöhnend sacke ich in mir zusammen. Da ertönt eine weibliche, mir völlig fremde Stimme neben meinem Bett.
„Bleiben Sie einfach liegen. Det wird der Arzt sein, ik mach ihm auf."
Leise Schritte von Socken auf Teppich. Dann eine männliche Stimme, die mir bekannt vorkommt.
„Dr. Schäfer? Können Sie ..."
Dr. Schäfer brummt.
„Liegen bleiben. Nicht bewegen. Abwarten. Gesund werden. In der Reihenfolge. Sie haben Pfeiffersches Drüsenfieber und sind mehr tot als lebendig. Sie können von Glück sagen, dass Ihre Bekannte hier gestern bei Ihnen war und sich um Sie gekümmert hat."
Bekannte???
Ich bin nun komplett verwirrt, mein Hirn scheint neuerdings aus Watte zu bestehen, aber die Augen kriege ich immernoch nicht auf.
Dr. Schäfer erklärt nun der freundlichen, weiblichen, mir völlig fremden Stimme mit Berliner Dialekt, welche Medikamente er noch mitgebracht hat, was sie im Einzelnen damit tun muss, bei welchen Anzeichen sie ihn aus der Praxis hochrufen soll und wie es jetzt in den nächsten Tagen voraussichtlich weitergehen wird. Die mir völlig fremde Stimme stellt – soweit ich das mit meinem Wattekopf beurteilen kann – ein paar intelligente Fragen, gibt ein paar vernünftige, wahrscheinlich auch zum Zusammenhang passende Antworten und bringt den Arzt wieder raus. Ich raffe gar nichts. Außer - ich muss auf Toilette.
Dann ist die Stimme wieder da und stellt eine raschelnde Tüte neben mir ab. Völlig klaglos bringt sie mich ins Bad, lässt mich mit der Toilette allein, holt mich wieder raus, geht mit mir ein paar Schritte den Flur rauf und runter.
„Damit Ihnen der Kreislauf nich abschmiert, hat der Doc gesagt."
Und bringt mich wieder ins Bett.
„Haben Sie Hunger?"
Habe ich Hunger? Keine Ahnung. Frag die Watte in meinem Kopf.
„Ik mach Ihnen einfach ein, zwei Toast mit Butter, viel werden Sie sicher nich auf einmal runterkriegen."
Die Stimme verschwindet.
Allmählich wird es mir zu bunt. Ich befehle meinen Augen energisch, sich zu öffnen, und scheinbar hat die Watte da oben doch genug Autorität. Die Augen öffnen sich. Und schließen sich. Zuviel Licht. Ich taste nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch und greife dabei in eine Tüte. Der Inhalt fällt neben mir aufs Kopfkissen. Da. Die Fernbedienung. Dimmen. Können meine Finger blind. Watte befiehlt. Augen öffnen sich. Ich schiele neben mich aufs Kopfkissen und sammle mit letzter Kraft die Schachteln, Taschentücher-Werbegeschenke und Handcreme-Pröbchen ein, um sie wieder auf den Nachttisch zu legen. Dabei fällt mir was Schweres runter, zurück aufs Kissen. So richtig will die Watte das nicht einsortieren, aber ich glaube fast – das ist ein kleiner Engel aus Glas. Aber was der zwischen den bunten Schachteln auf meinem Kopfkissen zu suchen hat – keine Ahnung.
Watte??? ... Egal? Okay. Egal.
Klo. Geh aufs Klo! Du gehst jetzt aufs Klo!!!
Die Watte in meinem Kopf hat während der letzten drei Traumeinheiten eindeutig zuviel an Autorität dazugewonnen. Jetzt weckt die mich einfach so!
Naja, Toilette ist ja nicht verkehrt.
Ich richte mich auf und bin ehrlich erstaunt, wie schwierig das ist. Alles schwankt. Bin ich auf einem Schiff?
Möp. Wer war das denn!?!
Ich hasse Kreuzfahrten noch mehr als die Puppe an meinem Empfangstresen. Immerhin bin ich diesmal nicht nur in der Lage, die Augen zu öffnen. Sie bleiben sogar freiwillig offen und geben sich redlich Mühe, meine Umgebung scharf zu stellen.
Ich sehe mich um und schaue direkt in die mit schwarzem Kajal umrandeten Augen einer jungen, hübschen, ansonsten aber ziemlich seltsamen und mir definitiv unbekannten Person. Die Watte meldet sich.
Das KÖNNTE die Person zu der unbekannten Stimme sein!
„Wer sind SIE denn?"
Dann kippe ich wieder um.
Watte an Ohren – ihr seid wieder dran.
Die angenehme, aber immernoch unbekannte Stimme lacht leise.
„Ik bin sowas wie ihr Schutzengel. Nennen Sie mich einfach Lilli. Ik hab sie gestern vom Bürgersteig gekratzt, zum Doc reingeschleppt und davor bewahrt, dass er sie ins Krankenhaus verfrachtet, indem ik behauptet habe, ik sei eine Bekannte, die sich rund um die Uhr um Sie kümmern kann."
In dem Moment klingelt irgendwo in der Wohnung ein Telefon.
Autsch! Zu laut!!!
„Könnten Sie ..."
Es raschelt, sie steht wohl auf.
„Soll ik das Telefon herholen oder gleich selbst drangehen, weil sie sowieso noch nich gradeaus denken können?"
Watte!
„Wie wärs mit'ner Kombi?"
Ui, eine vernünftige Antwort. Geht doch.
Sie verschwindet eilig, und einen Moment später verstummt das nervige Geklingel, um der freundlichen Stimme dieser Lilli Platz zu machen.
„Bei Kämpe? ... Ja, der ist hier, liegt ziemlich krank im Bett und wird sich noch ein paar Tage nicht von der Stelle rühren. ... Wie bitte? ... Ja, ik kann ihm den Apparat geben."
Lilli taucht in der Schlafzimmertür auf und hält mir mein Festnetztelefon hin.
„Kämpe?"
...
„Ah, Sie sinds, Sabrina. Ja, danke, ich lebe noch. Aber ich habe ..."
Fragend sehe ich Lilli an.
„Was hab ich eigentlich?"
Lilli lacht.
„Pfeiffersches Drüsenfieber. Nich unter zwei bis drei Wochen, sagt der Doc."
Uuuups, das war mir bisher entgangen!
„Pfeiffersches Drüsenfieber. Nicht unter zwei bis drei Wochen, sagt der Arzt. Grüßen Sie bitte Florian von mir, er möge mich doch in zwei Tagen mal anrufen. Vorher bin ich ganz bestimmt noch nicht in der Lage zu denken."
...
"Ja, danke. Mache ich. Tschüß."
Alex, sei stolz auf dich, du hast es geschafft, Sabrina unter drei oder so Minuten wieder loszuwerden. Jei!
„Danke, Lilli. Ich weiß grade nicht, was ich ohne Sie machen würde. Wenn ich denken könnte, würden mir zwar so Leute wie meine Mutter und meine Schwester einfallen, die herkommen könnten. Aber ich kann grade nicht denken. Darum ..."
Wieder dieses Lachen, das sich fast anhört wie singen.
„...bleib ik gern ein paar Tage hier. Bevor sich noch diese hirnlose Amsel hier einnistet, die ik da eben an der Strippe hatte. Die hat eindeutig viel zu viel geflötet. Das macht Kopfweh."
Die Watte meldet mir völlig zusammenhanglos, dass Lilli anscheinend ziemlich viel Menschenkenntnis hat.
„Danke! Mein Dank wird Ihnen ewig sicher sein."
Einen Moment lang ist es wieder still. Dann melden sich gleichzeitig mehrere Fragen aus der Watte und ein ziemlicher Druck aus der Blase.
Womit fange ich an? Blase.
„Lilli, könnten Sie mich zur Toilette bringen?"
Lilli verfrachtet mich aus meinem Bett und in mein Bad. Es wirkt fast, als ob sie darin schon Übung hätte.
Will ich eine Antwort? Nö.
Sie stellt mich neben dem Klo ab und geht raus. Nach einer Weile habe ich Arme und Beine und Klamotten sortiert, mein Problem gelöst und kann sie zurückrufen. Lilli kommt wieder rein, hakt sich bei mir unter, biegt draußen falsch ab und fängt an, mit mir den Flur entlang zu laufen.
„Ähhh – Bett?"
An dieses Lachen könnte ich mich gewöhnen. In dieser Wohnung wurde eindeutig schon viel zu lange nicht mehr gelacht.
„Der Doc hat gesagt, ik soll sie bei jeder Gelegenheit ein bisschen durch die Gegend schleppen, damit Ihnen nich dauernd der Kreislauf schlapp macht."
Watte an Füße – einfach gehorchen.
Ich laufe.
Brave Füße.
Als wir am Wohnzimmer angekommen sind, sehe ich, dass auf dem Sofa Bettzeug liegt.
„Haben Sie hier auf dem Sofa geschlafen?"
Lilli nickt.
„Ja klar. Wo denn sonst?"
Ich bremse ab.
„Lilli, ich kann nicht mehr, darf ich wieder ins Bett? ... Ich hab ein Gästezimmer."
Sofort macht Lilli mit mir kehrt und bringt mich zurück. Gegenüber von meinem Schlafzimmer klopfe ich an die Tür.
„Hier. Das Gästezimmer. Ist bestimmt bequemer."
Kurz darauf sinke ich mit einem Seufzer wieder in mein eigenes Bett. Von ganz weit weg höre ich Lilli noch was sagen.
„Wenn Sie das nächste Mal aufwachen, wollen Sie vielleicht duschen oder sich wenigstens ein bisschen frisch machen. Aber jetzt schlafen Sie erstmal wieder."
Und schon bin ich weg.
Als ich das nächste Mal aufwache, habe ich wieder heftige Kopfschmerzen, und auch die Augen wollen schon wieder den Dienst versagen. Aber am Rascheln von Kleidung merke ich, dass da jemand ist und zu mir kommt.
„Sie sind aufgewacht! Wie geht es Ihnen?"
Schon wieder Kreuzfahrtfeeling. Ich möchte das bitte sofort abbestellen!
„Mir ist saumäßig schwindelig, ich fühle mich schwach wie ein Baby. ... Und wenn ich es richtig bedenke – ich habe jede Orientierung für Zeit und Raum verloren."
Lilli lacht.
„Sie sind in Ihrer eigenen Wohnung, im Moment in Ihrem Bett in Ihrem Schlafzimmer. Sie sind gestern früher von der Arbeit nach Hause gekommen, weil Ihnen so schwindelig war – hat jedenfalls heute Mittag die Amsel am Telefon geflötet – und Sie haben heute bis auf drei kleinere, helle Momente den ganzen Tag geschlafen. Es ist jetzt 21:00 am dritten Dezember 2019, der Doc war vorhin nochmal da. Ik mach alles richtig, und Sie sind noch am Leben."
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4.12.2019 - 24.7.2022
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