november
In Zeitlupe zog alles vorüber. Langsam, gemächlich, als wäre es ein dauerhaft abspielendes Band. Fast träge lag es da, unberührt, unentdeckt. Es schien, als würde man sich an einer Geschichte vorbeibewegen, daran entlangfahren.
Die Bilder waren einst sorgfältig aufgenommen, mit Liebe aneinandergereiht worden. Es war wohl jemanden Hobby gewesen diesen Film zu drehen. Ihn aufzunehmen, anschließend zu schneiden, keinen Schritt dem Zufall zu überlassen.
Er wollte es wohl so authentisch, wie nur möglich wirken lassen. Wollte, dass die weit weg scheinende Kälte lebendig erschien. Wollte sie selbst in die Wärme bringen, sie in wohltuende Wärme verwandeln. Als wollte er, dass man spürte, wie er es sah, Gefühle entwickelt nur anhand dieser Bilder.
Draußen, da wirkte alles so still, so unberührt. Die Umgebung war bedeckt, überzogen mit einer puderigen Schicht aus Schnee. An Bäumen glitzerten Blumen. Blumen aus Eis, gefrorene Blätter.
Es war einsam. Keine Menschenseele traute sich hinaus, nicht ein Abdruck eines Schuhs war zu erkennen. Nur ein einzelner Vogel war zu sehen, seine großen schwarzen Flügel bewegten sich gleichzeitig, er schien einen genauen Takt zu haben, sich gleichmäßig fort zu bewegen.
Trostlos und magisch zugleich. Das Kunstwerk brachte eine enorme Wirkung mit sich, regte viel zu leicht zum Träumen an. Veranlasste eine genaueste Betrachtung des bewegenden Gemäldes.
Aus einem dichten Wald drang Dunkelheit hervor, vermischte sich mit der Unschuld des Schnees, der Reinheit des weißen Tones. Ein nicht ausgesprochener Zauber lag in der Luft.
Sanft tanzten winzige Kunstwerke den Himmel hinab, jedes von ihnen war einzigartig. Sie wirbelten herum, drehten ihre eigenen Bahnen, hatten alle ihre eigene Performance. Von außen betrachtet sahen sie alle gleich aus, fast identisch. Nur wer genauer hinsah, sich etwas auskannte, wusste, hier war nichts analog, jedes einzelne war unterschiedlich.
Am Ende dann, endete die Vorstellung auf dem Boden. Jede Flocke allein fand ihren Platz. Einen geordneten Ort zwischen all den anderen. Eine Stelle um das Gesamtbild perfekt zu machen.
Stille untermalte die Perfektion der Ausstellung, nur das Rattern des Zuges war zu vernehmen. Es erinnerte an die Gleichmäßigkeit eines Metronoms. In der einen Kurve schwankte er hin, in der nächsten zurück.
Er, er konnte seine Augen nicht abwenden. Konnte seinen Blick nicht lösen. Die Fensterscheibe war beschlagen, die Ränder waren verziert mit winzigen Eiskristallen. Davon ließ er sich nicht beeinflussen, sah gebannt hinaus, versuchte kein Detail zu verpassen. All das wirkte für ihn so zerbrechlich. Als könnte jede Sekunde das Glas der Scheibe in tausend Teile zerspringen, zerbersten und somit den Schutz vor der eisigen Kälte nehmen. Als würde plötzlich, ohne Vorwarnung das sich bewegende Bild vor ihm verschwinden, sich in Luft auflösen.
Sie, sie ließ ihren schwarzen Kugelschreiber über weißes Papier sausen, füllte Tabellen, notierte Termine. Keinen Moment blickte sie irgendwo anders hin. Die Schönheit der Außenwelt drang nicht zu ihr vor, erreichte sie nicht.
Die Bewegungen um die beiden herum verlangsamten sich. Der Film pausierte, blieb stecken. Ein einziges Bild, als wäre es das Cover.
Außen der Stillstand, innen aufkommendes Treiben. Menschen erhoben sich von ihren Sitzen, standen auf. Hände griffen nach vollbepackten Koffern, Taschen wurden geschultert. All sie nahmen die selbe Richtung. Gingen hinaus, wagten sich in die Kälte des Winters.
Auch die beiden bewegten sich nach draußen. Er erschreckte sich beinahe, als nach jedem seiner Atemzüge winzige, weißgraue Wölkchen in der Luft entstanden. Er war das noch nicht gewohnt. Seine schwarzen Schuhe standen fest auf dem mit Schnee bedeckten Boden, trotzdem lief er vorsichtig. Schritt für Schritt, stets darauf bedacht nicht zu schlittern, auszurutschen. Es war ihm nicht ganz geheuer, dieses veränderte Wasser. Gehört hatte er davon schon, hatte sich früher einige Bilder davon angesehen. Jedoch ihn jetzt unter seinen eigenen Füßen zu spüren, das war etwas völlig Anderes.
Sie strich sorgfältig über die entstandene Falte ihres Kleides, rückte ihre lederne Tasche zurecht. Hektisch warf sie einen Blick auf ihre Uhr, fluchte leise. Die Zeit war schon zu weit fortgeschritten, wieder einmal hatte der Zug eine Verspätung gehabt. Sie würde sich beeile müssen, diesmal mit ihren hohen Schuhen rennen, um nicht zu spät zum Meeting zu erscheinen.
Die kleinwirkenden Flocken welche vom Himmel fielen nahmen nach und nach eine immer größere Form an. Dick und fett, schwer und rund schwebten sie hinab, landeten auf Jacken und Hosen, auf Mützen und Schals. Eine von ihnen, eine besonders schöne, blieb auf seiner Nase liegen. Kurz war sie noch zu sehen, leuchtete beinahe weiß. Hob den Kontrast der beiden aufeinandergetroffenen Farben hervor: Strahlendes weiß auf dunkler Haut. Dann schmolz sie. Verschwand als wäre sie nie dagewesen.
Seine dunkelbraunen Augen erhoben sich, fanden einen Weg in den Himmel, blickten umher, fixierten seine Umgebung. Er sah sich um. Er sah genau hin. Er versuchte zu verstehen.
Doch er verstand nicht. Er kannte den Weg nicht. Denn er war neu hier. Also drehte er sich um.
„Entschuldigung, könnten Sie mir helfen den Gleis hier zu finden."
Sie realisierte die schüchterne Stimme zuerst nicht. Erst, als ihr vorsichtig auf die Schulter geklopft wurde, wurde ihre Sicht wieder klarer, sie verstand die an sie gerichtete Frage. Gehetzt nickte sie der Höflichkeit halber, beäugte die Fahrkarte vor ihr skeptisch. Hastig versicherte sie ihm den Weg zu kennen, bedeutete ihm ungeduldig ihr einfach zu folgen.
Verwirrt, überrascht von ihrer Hektik stolperte er ihr hinterher. Dankbar lächelte er ihr zu als sie sich beide auf neuen Sitzplätzen niederließen. Die Playtaste wurde erneut betätigt, das Schauspiel der Außenwelt begann von neuem, der Zug fuhr an. Erwartungsvoll spähte er abermals hinaus in eine Welt, eingebettet im ersten Schnee des Winters.
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