Kapitel 9
Nun hatte ich, ganz zu Freuden meiner Lehrerin, wieder begonnen, mich mehr im Englischunterricht zu melden. Bei allem schien Dominik genau die entgegengesetzte Meinung zu haben wie ich. Manchmal fragte ich mich, ob er dies nur tat, um mich zu provozieren.
«Ich muss sagen, dass ich verstehe, warum Mr. Rochester Jane nichts von seiner heimlichen Ehefrau erzählt hat.»
Das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein.
«Äh, nein, da bin ich ganz anderer Meinung. Wie kann er sie heiraten wollen und schon vor dem Altar stehen, wenn sie nicht weiss, dass er eine Frau hat? Das scheint fast zu bedeuten, dass er ihr nicht vertraut und wenn man einander nicht vertrauen kann, sollte man sich auch nicht heiraten.»
«Aber jeder Mensch kann doch seine Geheimnisse haben und eine Heirat sollte das nicht verändern.»
Er zwinkerte mir zu und ich erkannte, dass er mich tatsächlich einfach nur nerven wollte. Ich schüttelte den Kopf, lächelte aber dabei.
«Wenn man nicht bereit ist, sich seine gegenseitige Vergangenheit zu erzählen, dann sollte man auch keine Beziehung erstreben.»
Einen kurzen Moment huschte so etwas wie ein Schatten über sein Gesicht und auch ich spürte plötzlich einen Stich im Herzen. Ich versuchte mich wieder zu fassen.
«Aber ich muss dir zum Teil Recht geben, es ist nicht nur sein Problem. Wenn Jane nicht nachgraben und herausfinden wollte, was es mit Grace Poole auf sich hat, ist sie selber schuld.»
Beim Mittagessen setzte sich Dominik neben mich. Schnell las ich noch den letzten Abschnitt des Buches, dann klappte ich es zu und legte es weg.
«Ist das Essen in Ordnung?», fragte mich Dominik.
«Ja, es ist ganz okay», antwortete ich.
Wir versanken in Schweigen. Ich sah, wie mich einige Mädchen von anderen Tischen neidisch anstarrten.
«Wow, du bist eine sehr gesprächige Essensgenossin», sagte er und schmunzelte dabei leicht.
Ich blickte ihn entschuldigend an.
«Tut mir leid. Ich bin es mir einfach so gewöhnt, alleine zu essen.»
«Soll ich wieder gehen?»
«Nein nein», sagte ich schnell.
Etwas zu schnell.
«Ich lasse mir ein Gesprächsthema einfallen.»
Kurz überlegte ich.
«Was sind deine Lieblingsfilme? Ich meine, wir mögen beiden Game of Thrones, aber es nimmt mich wunder, ob es noch andere Schnittstellen gibt.»
«Lass mich überlegen. Ich schätze etwas anspruchsvollere Filme, bei denen man etwas nachdenken muss. So wie «Memento» oder «Arrival».»
Ich nickte.
«Hast du auch «Inception» gesehen?»
Er schüttelte den Kopf. Erstaunt blickte ich ihn an.
«Wirklich nicht? Er ist auch etwas anspruchsvoller und vom gleichen Regisseur wie «Memento». Er ist wirklich gut. Schau ihn. Oder nein. Schauen wir ihn gemeinsam. Gleich nach «Game of Thrones»»
Nachdem ich aus der Kantine getreten war, klopfte mir jemand auf die Schulter. Ich blieb stehen, aber Dominik bemerkte es nicht und lief weiter. Sehr aufmerksam.
Ich drehte mich um und blickte Laura ins Gesicht. Insgeheim nannte ich sie Barbiepuppe, weil wirklich nichts an ihr echt aussah. Wir hatten einige Kurse zusammen, aber ich hatte mich noch nie mit ihr unterhalten. Deswegen fragte ich mich nun umso mehr, was sie wohl von mir wollte.
«Datest du jetzt Dominik Kayne?», wollte sie wissen.
Ihre Stimme hatte einen zickigen und leicht eifersüchtigen Unterton.
«Äh nein. Und warum willst du das wissen?»
Ihr Gesicht erhellte sich.
«Nichts. Nur so.»
Ich nickte und drehte mich um. Dominik war mittlerweile stehengeblieben.
«Was war das gewesen.»
«Ah, nichts.»
Das, was er ganz bestimmt nicht brauchte, war, dass sein Ego noch grösser wurde.
Er nickte und wir gingen weiter.
In den nächsten zwei Wochen passierte nicht wirklich viel. Wobei nicht wirklich viel wohl auch der falsche Ausdruck war. Denn im Vergleich zu meinem ganzen restlichen Leben war so viel passiert wie noch nie.
Fast jeden Tag ging ich zu Dominik und wir schauten mindestens vier Folgen.
«Wow, wir haben es tatsächlich geschafft. Die ganze Serie in zwei Wochen.»
Irritiert blickte ich ihn an.
«Wenn ich mich nicht irre, dann hat die Serie noch kein Ende. Und es gibt doch eine nächste Staffel.»
«Glaub mir, es wäre besser gewesen, wenn sie die nächste Staffel nie gedreht hätten. Lieber kein Ende als das Ende.»
«Ach komm, so schlimm kann es doch gar nicht sein.»
Zur Antwort blickte er nur vielsagend drein.
«Ich will es trotzdem sehen. Ich brauche ein Ende. Wenn mir das Buch schon keines liefern konnte, dann kann es die Serie jetzt machen.»
«Na schön. Aber ich habe dich ausdrücklich gewarnt. Auf eigene Gefahr.»
«Jaja nun mach schon.»
Wie schauten bis zur vierten Folge.
«Ich muss sagen, der Anfang fand ich jetzt nicht so schlecht. Er war nicht grossartig, aber auch nicht grauenhaft. Mmh warte. Der schlimme Teil kommt erst noch.»
Ich zuckte mit den Schultern.
«Wenn du meinst.»
Und tatsächlich. Als wir am folgenden Freitag die Serie fertig schauten, konnte ich in den letzten drei Folgen nur leise «Nein, bitte nicht. Nein, bitte nicht. Nein, bitte nicht» vor mich hin murmeln. Als ich mich zu Dominik umdrehte sah ich seinen amüsierten Gesichtsausdruck.
«Ich habe es dir gesagt.»
«Ach, halt die Klappe», murmelte ich.
Klar, ich hätte aufhören können, als es begann, grauenhaft zu werden. Aber ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Es war, als ob ich wie erstarrt war und nur mit aufgerissenen Augen beobachten konnte, welche Szenerie sich hier vor meinen Augen abspielte.
Am Ende blickte ich ihn nur mit offenem Mund an.
«Brandon? Warum? Warum er? Es hätte wortwörtlich jeder besser auf den Thron gepasst wie er. Und warum stirbt fast niemand? Warum überleben alle? Was ist los? Wie hat man in so kurzer Zeit eine so wundervolle Serie versauen können? Lösch meine Erinnerungen! Ich flehe dich an! Lösch sie!»
Beruhigend strich er mir über die Schulter. Sofort setzte ich mich stocksteif auf. Auch als er die Hand weggenommen hatte, fühlte sich meine Schulter brennend heiss an. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
«Wollen wir «Inception» anfangen?», fragte er mich.
Ich nickte.
«Wenn es eine Person gibt, welche mich aus meiner Bestürzung heraushelfen kann, dann sind es die vereinten Kräfte von Leonardo DiCaprio, Joseph Gordon-Levitt, Cillian Murphy und Ellen Page.»
«Was? Leonardo DiCaprio spielt mit? Mhmm ich weiss nicht, ob ich den Film schauen will. Ich habe diesen Kerl noch nie gemocht.»
«Ach komm, ihr seid nur neidisch, weil nie irgendein Mann so gut aussehen wird wie Leonardo DiCaprio in Titanic. Er spielt echt gut! Und vor allem: Ich bin sehr verstört. Du musst Mitleid mit mir haben. Ich habe gerade ein sehr, sehr grauenhaftes Ende hinter mir.»
«Na schön, meinetwegen. Sollen wir Pizza bestellen?»
«Ja, gerne? Ich verhungere fast!»
«Was willst du drauf haben?»
«Extra viel Käse und extra viel Ananas.»
«Ananas? Auf einer Pizza? Das schmeckt bestimmt grauenhaft.»
«Nimm das sofort zurück! Pizza ohne Ananas ist keine Pizza.»
«Mmmm machen wir eine halbe mit und eine halbe ohne Ananas.»
«Von mir aus.»
«Wir fingen den Film an und ich sah genau, wie gebannt er auf den Bildschirm starrte.
Von wegen Leonardo DiCaprio ist blöd.
Als es an der Tür klingelte, stand ich auf und nahm die Pizza entgegen. Wieder auf dem Sofa angekommen, platzierte ich die Pizza auf dem kleinen Tisch vor uns.
«Probierst du wenigstens eine mit Ananas?», fragte ich ihn.
Er antwortete «Mhm», aber ich glaubte, dass er mich gar nicht gehört hatte. Aber das war mir egal. Gesagt war gesagt. Also öffnete ich den Deckel und drückte ihm ein Stück mit Ananas drauf in die Hand. Er drückte auf Pause und starrte dann ekelerregt auf sein Stück Pizza.
«Ich will ohne dieses gelbe Zeug. Deswegen haben wir doch halbe halbe gemacht. Schon vergessen?»
«Ja, aber da du so in den Film vertieft gewesen warst, hast du mir zugestimmt, dass du eine probieren wirst.»
«Das nennt sich Ausnutzen einer Person, die nicht ganz bei Bewusstsein ist. Genau wie im Film!»
«Gesagt ist gesagt!»
Also probierte er ein Stück. Zuerst war sein Gesicht verkrampft, aber dann entspannte er sich.
Auch ich hatte mir in der Zwischenzeit ein Stück genommen und biss herzhaft hinein.
Er hatte sich in der Zwischenzeit ein neues Stück genommen – mit Ananas.
«Hey!», rief ich mit noch vollem Mund.
«Meine sind mit Ananas!»
«Du hast mich nun mal auf den Geschmack gebracht. Selber Schuld.»
«Um meinen Punkt zu beweisen, nicht, damit du mir alles aufisst.»
Aber in der Zwischenzeit hatte er schon sein Stück komplett abgeleckt.
«Igitt», sagte ich nur.
Trotzdem zog ich es in Betracht, auf alle restlichen Ananasstücke zu spucken. Ich liess es dann doch sein.
Der Film war recht lang und nach etwas mehr als einer Stunde musste ich mich schon anstrengen, um meine Augen offenzubehalten. Das Gähnen könnte ich dann doch nicht unterdrücken.
«Bist du müde? Sollen wir ein den Film ein andermal fertig schauen?»
«Nein nein, es geht schon.»
Eigentlich war ich unglaublich müde, aber das Sofa war so bequem! Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich jemals wieder davon erheben konnte. Und mein Bauch fühlte sich so voll an!
Ich hatte sehr schnell essen müssen, damit nicht alle Ananasstücke wegkamen und dabei hatte ich mich offenbar überessen.
Ich lehnte meinen Kopf auf den Sofarand du schaute den Film nur noch schräg an. Nach einer Weile öffnete ich meine Augen nur noch alle fünf Sekunden. Alle zehn Sekunden. Alle zwanzig Sekunden. Und dann war ich eingeschlafen.
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