Kapitel 2
Das kühle Wasser auf meiner Haut fühlte sich gut an. Ich stützte mich am Waschbecken ab und blickte in den dreckigen Spiegel. Meine Wangen waren noch leicht gerötet und ein wilder Blick lag in meinen Augen. Aber schnell erlangte ich meine Fassung wieder und lachte beinahe darüber, wie ich gerade ausgerastet war. Ja, es war lächerlich gewesen. Einfach nur lächerlich. Ich trat aus der Mädchentoilette heraus und fasste einen Entschluss: An diesen Dominik würde ich nicht zu nahe herantreten.
Die nächste Stunde fühlte sich alles an wie gewohnt. Erleichtert bemerkte ich, dass Dominik nun nicht auch Geographie hatte. Ich sass in meiner stillen Ecke und machte mir Notizen.
Warum gibt es so viele verschiedene Wolken?, fragte ich mich beim Scheiben.
Nimbostratus, Cirrostratus, Cirrocumulus... Hätte «Wolke» nicht einfach gereicht? Wer beschäftigte sich freiwillig damit, solche albernen Wolkennamen zu erfinden?
Ich legte meinen schwarzen Stift ab und ergriff den violetten Stift, nur um gleich darauf den roten zu benutzen. Mich als einen Ordnungsfreak zu bezeichnen, wäre wohl etwas zu milde. Mit meinen fünf verschiedenen Farben hatte ich mir ein spezielles System erarbeitet. Die Übertitel waren blau, die Untertitel grün, der Text an sich schwarz, was ich mir speziell merken sollte rot und Randnotizen, welche ein bestimmtes Wort genauer erläuterten, violett. Für jeden Tag hatte ich ein neues kariertes, gelöchertes Blatt mit einem Rand und für jedes Fach einen andersfarbigen Ordner. Nach jedem Jahr nahm ich all meine Notizen aus dem Ordner und legte sie in einen noch grösseren Ordner mit der gleichen Farbe. Da ich dieses System seit der Mittelstufe so hatte, waren die Ordner ziemlich dick. Aber jedes Mal, wenn ich sie anschaute, erfüllte mich ein angenehmes Kribbeln. Ich liebte die Ordnung einfach. Wenn jemand in seinem Bücherregal nicht alle Bücher alphabetisch nach Autorennachname angeordnet hatte, musste ich mich sehr beherrschen, um nicht stehenzubleiben, alle Bücher herauszureissen und sie richtig zu ordnen.
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum du keine Freunde hast. Ja, das war wahrscheinlich der Grund. Oder zumindest einer der Gründe. Als es dann klingelte, legte ich mein Blatt in den Ordner, klappte ihn zu, stopfte ihn in meinen überfüllten Rucksack, welcher in zwanzig Jahren wahrscheinlich der Grund für meine massiven Rückenprobleme sein würde und machte mich auf den Weg in die Kantine.
Der Duft von ekligem Hackfleisch strömte mir schon in die Nase, bevor ich die Kantine überhaupt betreten hatte. Mich schauderte es und ich rümpfte die Nase, aber ich lief weiter. Zwischen keinem Essen und ekligem Essen entschied ich mich dann eben doch für das Essen. Die Frau hinter der Theke lächelte mich nett an und ich versuchte gequält, das Lächeln zu erwidern. Als aber mit einem ekelerregenden Schmatzen das Essen auf meinem Teller landete, zogen meine Mundwinkel automatisch nach unten und als ich nun diesen intensiven Duft in konzentrierter Form einatmete, benötigte es schon einiges an Selbstbeherrschung, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Zum Glück hatte ich mir heute Morgen noch einen Apfel eingepackt. Meine einzigen zwei logischen Begründungen, warum diese Frau immer lächeln konnte bei diesem Geruch war, dass sie entweder keinen Geruchsinn besass oder eine professionelle Schauspielerin war, die sogar mehr Talent wie Jennifer Lawrence und Benedict Cumberbatch zusammen hatte.
«Er sieht wirklich gut aus. Ja und so sportlich...»
Zuerst verstand ich nicht, über wen sie sprachen. Ich drehte mich um und erblickte zwei Mädchen, schätzungsweise zwei Jahre jünger als ich. Ich zuckte mit den Achseln, wahrscheinlich sprachen sie über irgendeinen Jungen von den unteren Stufen.
«Wie ist sein Name? Do...»
«Ich glaube Dominik.»
Als ich diesen Namen hörte, erstarrte ich für einen Moment. Dann schob ich mein Tablett schleunigst weiter nach vorne, bezahlte und flüchtete vor ihren Worten.
Aber natürlich hatte es das Schicksal wieder einmal nicht gut mit mir gemeint. Ich steuerte einen Tisch ganz in der Ecke an, rannte beinahe auf ihn zu. Einen Moment war ich von der eklig bräunlichen Substanz auf meinem Teller abgelenkt gewesen und betete inständig, dass sie sich in einen Hamburger verwandelte, als ich mit jemandem zusammenstiess.
Ich bereitete mich schon auf das Klirren von zerbrechenden Tellern vor, doch als es nach einigen Sekunden immer noch nicht eingetreten war, blickte ich erstaunt auf.
Vor mir stand Dominik mit meinem Tablett in der Hand und einem leisen Lächeln. Gerade öffnete er seine Lippen um etwas zu sagen, als ich ihm das Tablett aus der Hand riss, ein leises «Entschuldige» murmelte und mit hochrotem Kopf schnell wegging.
Mein Tempo beschleunigte sich immer weiter und erst bei meinem Tisch machte ich mit einer Vollbremse halt. Klirrend kam mein Tablett auf dem Tisch an und gleich darauf setzte ich mich auf einen Stuhl. Zuerst blickte ich starr auf das Essen vor mir, meine Hände zu Fäusten geballt. Dann aber hob ich den Kopf und blickte mich im Raum um.
Er war weg.
Ich versuchte das gerade Geschehene zu vergessen und konzentrierte mich voll und ganz auf das Essen vor mir. Mit meiner Gabel stocherte ich darin herum und konnte nicht umhin mich zu fragen, wie zur Hölle etwas flüssig und fest zugleich sein konnte. Und wie der Geruch und die merkwürdige Konsistenz schon vorhergesagt hatten, schmeckte das Ganze scheusslich. Das Essen in der Kantine hatte die Auszeichnung «grandios» oder «ganz in Ordnung» nie bekommen und auch alleine den Orden «geniessbar» erhielten sie nur manchmal. Aber so grässlich wie heute war es schon lange nicht mehr gewesen. Ich versuchte diskret, das Essen in meine Serviette wieder auszuspucken. Ich schob das Tablett so weit von mir, wie es das Gesetz der Schwerkraft zuliess, ohne vom Tisch hinunterzufallen. Wobei es auch so schon zuerst zu wackeln begann und dann immer heftiger zu Schwanken. Eine Weile beobachtete ich das Ganze und im letzten Moment, als sich das Tablett schon für das Team Boden entschieden hatte, zog ich es widerwillig zurück.
Ich bückte mich und nahm aus meinem Rucksack den Apfel und sogar eine Packung Kräcker hatte ich noch gefunden, ich hatte sie ganz vergessen, aber nun erinnerte ich mich daran, dass ich sie hier im Falle von schweren Zeiten hineingetan hatte. Ich dankte meinem Vergangenheits-Ich dafür.
Nach meiner trotz der Kräcker ziemlich kärglich ausgefallenen Mahlzeit nahm ich mein Buch aus dem Rucksack. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, zuerst, bevor ich ein anderes Buch anfing, alle Jane Austen Bücher fertigzulesen und eigentlich auch auf einem guten Weg dahin gewesen war, kam plötzlich George R. R. Martin dazwischen und hatte mich sozusagen dazu gezwungen, dass ich seine Bücher zuerst lesen musste. Und wie hätte ich da auch widerstehen können? Janes «Sinn und Sinnlichkeit» hatte mich bitter enttäusch und war mir zu langweilig gewesen. Wobei es wohl auch ziemlich schwierig war, «Stolz und Vorurteil» oder «Emma» zu schlagen. Und nach diesem Tiefpunkt hatte mich Game of Thrones wie ein schützendes Netz aufgefangen. Oder wohl besser Spinnennetz. Denn daraus zu entkommen, war mir unmöglich.
Der Gong, welcher die nächste Stunde ankündigte, zog mich brutal aus Königsmund heraus. Die Vergiftung Joffreys hatte mir eine angenehme Befriedigung gegeben. Generell liebte ich es in dem Buch, wenn die Menschen starben, welche ich aus tiefstem Herzen hasste. Ich wusste nicht, ob mich das zu einem Sadisten machte oder was das generell über meinen Charakter aussagte. Wobei, wenn man schon über krankhafte Charaktere nachdachte, sollte man wohl zuerst einmal George R. R. Martins Charakter unter die Lupe nehmen. Ich konnte mir sein Lächeln so gut vorstellen, wenn er gerade schrieb, wie unser aller Lieblingscharakter starb und wie er sich an unseren Tränen erfreute. Und wer kam auf die Idee, junge Kinder in seinen Büchern vergewaltigen zu lassen? Aber ich sollte ihm trotzdem dankbar sein. Jedes Wort sog ich in mich auf und wollte es am liebsten gar nicht mehr loslassen.
Kurz überlegte ich, ob ich einfach weiterlesen sollte, aber mein blödes und diszipliniertes Ich zwang mich dann doch dazu, mit schmerzverzerrtem Blick das Buch zu schliessen und mich vorläufig von meinen guten Freunden Jon Snow und Arya Stark zu verabschieden.
Die Nachmittagsstunden verliefen ziemlich eintönig und langweilig. Unser Chemielehrer war einfach zu nett und geduldig und wiederholte so zum zehnten Mal, was eine Puffergleichung genau war, um es auch noch den hintersten Reihen, welche am Handy waren und, von einer Haarschicht bedeckt, einen Airpod im Ohr hatten, zu erklären. In dieser Zeit hatte ich einfach schon mit meinen Hausaufgaben angefangen und als ich mit meinen Chemieaufgaben schon fertig war, die Lösungen überprüft hatte, alles richtig hatte, ich das Blatt eingeordnet hatte und er immer noch über Puffergleichungen redete, hätte ich fast laut aufgestöhnt.
Als endlich Schulschluss war und ich nach draussen trat, genoss ich die frische Luft. Sie war nicht kälter als drinnen, aber nicht mehr so stickig. Ich lief an den Parkplätzen vorbei, in denen alles, vom Luxusschlitten bis zum Traktor stand. Auch ich hätte mit dem Auto in die Schule fahren können, mein Haus war nicht so nahe, dass es schnell zu Fuss zu erreichen war von der Schule aus, aber ich bevorzugte das Fahrrad. Zumindest seit neuem. Es war ein sportliches, mit dünnen Rädern und einem tiefen Lenkrad. Ich hatte es Rosalinde getauft. Wenn Leute ihre Autos und Schiffe benennen konnten, dann konnte ich auch meinem Fahrrad einen Namen geben.
Während ich entspannt fuhr und dabei meine Umgebung beobachtete, hörte ich auf einmal das Brummen eines Motors hinter mir. Schnell stand ich ab und trug mein Fahrrad zum Trottoir, da die Strasse hier für längere Zeit ziemlich schmal war und ich das Auto vorlassen wollte. Ich hörte, wie sich das Auto wieder beschleunigte. Ich drehte meinen Kopf wieder zur Strasse. Durch das geschlossene Fenster hindurch, das etwas verstaubt war, blickten mich einen Moment lang zwei dunkelbraune Augen an. Dann war das silberne Auto auch schon um die nächste Ecke gebogen.
Und in diesem Moment fiel der erste Schnee.
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