Kapitel 1
Ich starrte in das Wasser. Es schlug kleine Wellen und ein chloriger Duft stieg mir in die Nase. Während ich mein verzerrtes Spiegelbild betrachtete, sah ich unten, im Wasser, ein dunkelblaues Auto. Und eine Gestalt, welche sich darin bewegte.
Schnell wandte ich den Blick ab und schüttelte den Kopf. Aber auch ohne dass ich ins Wasser starrte, schossen mir nun Bilder in den Kopf. Bilder, welche ich mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und schloss die Augen.
Denke nicht daran. Denke nicht daran. Verdränge die Erinnerungen.
Aber trotzdem gelangen einige Bildfetzen vor mein inneres Auge.
Auto. Wasser. Schreie.
«Marianne.»
«Marianne!»
Schlagartig öffnete ich meine Augen und hob den Kopf. Kurz blinzelte ich, denn das Sonnenlicht, welches schräg durch die Fenster in das Schwimmbad fiel, blendete mich. Als ich mich daran gewöhnt hatte, wandte ich mich Ms. Swatz zu. Automatisch fiel mein Blick auf ihre dunklen Augen. Es war unmöglich, ihre Pupille von ihrer Iris zu unterscheiden, da auch erstgenanntes beinahe schwarz war. Und da sie auch noch überdurchschnittlich grosse Augen hatte, hatte sie den Namen Mrs. Knopfaugen jahrelang mit sich getragen und bei den unteren Stufen trug sie heute noch diesen Namen. Offenbar war bei unserer Schule der Film «Coraline» sehr beliebt gewesen.
Als ich an den Film zurückdachte, zuckte ich leicht zusammen. Dieser Film hatte verursacht, dass ich wochenlang bei meinem Vater im Bett schlafen musste. Erst, als ich sicher sein konnte, dass es nirgends in unserem Haus eine verschlossene Tür zu einer anderen Welt gab und wir alle Nadeln und Knöpfe aus dem Haus verbannt hatten, verschwanden die Alpträume langsam.
«Marianne!»
Schnell schüttelte ich den Kopf und versuchte mich zu konzentrieren.
«Ja, Mrs. Kno... Swatz?»
Peinlich berührt blickte ich nach unten und hoffte, dass mir die Röte nicht ins Gesicht stieg. Sie räusperte sich und fuhr dann fort:
«Marianne, was ist los mit dir? Du bist doch sonst so konzentriert. Ich kann verstehen, dass...»
«Nein, alles bestens. Ich war nur kurz abgelenkt.»
Ich blickte sie lächelnd an.
Hoffentlich sah sie nicht, wie gezwungen es war.
Trotzdem beendete sie ihren Satz.
Erkannte sie denn nicht, dass ich genau das verhindern wollte?
«Ich kann verstehen, dass du nur ungern den Schwimmunterricht wieder aufnehmen willst. Aber möchtest du es nicht zumindest versuchen?»
«Ach nein, damit habe ich überhaupt kein Problem mehr. Ich bin gerade nur etwas erkältet. Sonst würde ich schon wieder mitmachen.»
Ich lachte locker, aber es klang erstickt und gekünstelt und nach einigen Sekunden hörte ich auf damit und ein peinliches Schweigen setzte ein.
Sanft lächelte sie mich an.
«Ist gut, aber du weisst, du kannst zu mir kommen, wenn du darüber sprechen willst.»
«Natürlich, ja. Danke. Aber alles ist in Ordnung.»
Sie war eigentlich eine so liebenswürdige und verständnisvolle Person und ich verspürte wieder etwas Mitleid mit ihr und ihrem Spitznamen. Sie hatte ihn wirklich nicht verdient.
Sie nickte und drehte sich um. Dann lief sie zu den anderen Schülern zurück.
Einige Momente starrte ich noch in das Wasser. Dann drehte ich mich um, nahm auf einer kleinen Bank platz und schaute dem Unterricht zu.
«Hey, aufpassen. Hört zu. Hört bitte zu. Wir müssen mit dem Unterricht fortfahren, ihr könnt nicht...»
Aber die Schüler tobten im Wasser herum wie kleine Kinder und jeglichen Versuch unserer Lehrerin, Ruhe in den Unterricht zu bringen und mit dem Kraulschwimmen fortzufahren, brachte überhaupt nichts.
Ich hatte das Gefühl, dass normale Kinder sich so verhalten, wenn sie im Kindergarten sind. Aber wir waren schon lange nicht mehr im Kindergarten. Manchmal hatte ich wirklich die Befürchtung, dass diese Klasse ein Entwicklungsdefizit besass. Ich meine, es war doch nicht normal, dass die Jungs sich immer noch diese Schaumstoff Schlangen in die Badehosen steckten und es so aussehen sollte, als ob sie einen grossen...
Ich schüttelte leicht den Kopf und blickte aus dem Fenster hinter mir. Eine trostlose Landschaft blickte mir entgegen. Der Wind fuhr leise durch die kahlen Äste und liess diese erzittern. Alle Blumen waren verschwunden und teilweise sah man nur noch die vertrockneten und verfallenen Überreste, welche schwer in Verbindung zu bringen waren mit den vor einigen Monaten noch bunten Blüten. Das ganze Landschaftsbild wirkte grau und verblichen und innerlich machte ich eine Notiz an mich selber, mich daran zu erinnern, dass ich Zuhause auf den Dachboden meine wärmsten Wollpullover und Jacken herabholen musste.
Ein Gong, welcher das Ende der Stunde ankündigte, holte mich zurück aus meinen Träumereien. Schnell erhob ich mich und eilte zu der Umkleidekabine, um der Schar von Leuten auszuweichen, welche nun aus dem Becken kamen und schon in meine Richtung stürmten.
Ich zog meine Socken und Schuhe an und trat dann nach draussen. Sofort bildete sich auf meinen Armen eine Gänsehaut und ich sog scharf die Luft ein. Schnell lief ich die wenigen Schritte, welche das Schwimmbad von unserem Schulhaus trennten. Beim Spind angekommen, nahm ich meinen Rucksack heraus und überlegte kurz, was wir als Nächstes hatten. Englisch!
Ein leises Lächeln streifte kurz meine Lippen. Da ich das Buch, welches wir gerade lasen, schon dabeihatte, brauchte ich nichts anderes mehr aus dem Spind zu holen und ich schloss ihn wieder. Meine Jacke behielt ich an, denn im Schulhaus war es im Winter immer furchtbar kalt. Die Begründung des Schulrektors war, dass wir ja auf die Umwelt achten mussten und so jeder von uns einen Beitrag dazu leisten konnte. Auch das erfrieren zwei drei Schüler pro Jahr wurde in Kauf genommen.
Aus irgendeinem Grund waren die Heizungen im Sommer dann aber an.
Als ich das Klassenzimmer betrat, war es, wie ich erwartet hatte, leer. Ich setzte mich an einen Fensterplatz in der vordersten Reihe und nahm das Buch, welches wir gerade fertiggelesen hatten, aus dem Rucksack. Frankenstein. Ich war positiv überrascht gewesen von dem Buch. Vorgestellt hatte ich mir irgendeinen billigen Gruselroman, aber das Buch war tiefgründig und hatte mich ziemlich bewegt. Über den Fakt, dass die Autorin das Buch mit 19 geschrieben hatte, kam ich immer noch nicht ganz hinweg und das verdeutlichte nur noch, wie unproduktiv ich selber doch war.
Immer noch produktiver als deine Mitschüler, die ja wirklich einfach nur einen Haufen Idioten sind.
Da musste ich meiner inneren Stimme recht geben.
Im Verlauf der nächsten zehn Minuten füllte sich der Raum nach und nach. Als unsere Lehrerin Ms. Merel eingetreten war und hinter ihr die Tür schloss, trat für gewöhnlich augenblicklich Ruhe ein. Im Gegensatz zu Mrs. Swatz hatte sie Autorität und den Respekt der Schüler. Oder vielleicht auch mehr die Furcht der Schüler. Oder fast aller Schüler. Ich mochte sie nämlich und so war es meistens so, dass wir gemeinsam über das aktuelle Buch diskutierten, während der Rest der Schüler schweigend dasass und zu verstehen versuchte, über was genau wir sprachen.
In ihrem Unterricht konnte ich wirklich aufblühen, denn die Literatur fand ich etwas Faszinierendes. Dass ein Autor es schaffte, neue Welten und Leben zu kreieren und sie uns so nah zu bringen, dass wir mit ihnen lachten und weinten, das fand ich unglaublich bemerkenswert. Meine sonst eher unscheinbare und ruhige Person wurde in diesen wenigen Lektionen lebhaft und wild.
Es fiel mir nur am Rande auf, aber ich hatte das Gefühl, dass es heute einen Moment länger als sonst dauerte, bis Ruhe einkehrte und die Stimmen der restlichen Schüler klangen merkwürdig aufgeregt.
«Bis heute habt ihr alle das Buch «Frankenstein» von Mary Shelley fertiggelesen. Wie ihr vielleicht schon hinten bei «Daten zum Leben und Werk» nachgelesen habt, ist die Geschichte in der Villa von Lord Byron in Genf 1816 entstanden. Dass die Geschichte in der Schweiz spielt, hängt sicher mit diesem Umstand zusammen. Das durchgehend schlechte Wetter, welches sie daran hinderte, oft nach draussen zu gehen, hat die sich dort versammelte Gesellschaft auf die Idee gebracht, sich gegenseitig Gruselgeschichten vorzulesen, die sie teilweise auch selber geschrieben haben und hier entstand die Grundidee von «Frankenstein». Es war aber nicht die einzige berühmte Geschichte, die in diesem Sommer geschrieben worden war. John Polidori hatte «Der Vampir - eine Vampirgeschichte» geschrieben. Im Januar 1818 erschien dann anonym der Roman «Frankenstein», später gibt sie sich aber als Autorin zu erkennen. Dass sie so einen düsteren Roman geschrieben hat, hängt bestimmt auch damit zusammen, dass sie bereits mit 17 schwanger war und ihr Kind kurz nach der Geburt stirbt. Auch später noch sterben zwei weitere ihrer Kinder, nur Percy Florence überlebt. Im Alter von 25 Jahren stirbt dann ihr Mann bei einem Segelausflug. Das ist ein ziemlich hartes Schicksal für...»
Beinahe die ganze Lektion sprach sie noch von der Entstehung des Buches, der Biografie der Autorin und von Interpretationen zum Buch. Am Ende zog sie uns in den Unterricht mit ein.
«Ich würde gerne euren Eindruck zum Buch hören. Wie fandet ihr es? Wen konntet ihr sympathisieren? Wen nicht?»
«Ehrlich gesagt konnte ich niemanden im Buch ganz verstehen.»
Im Unterricht von Ms. Merel mussten wir nie zuerst aufstrecken, sondern konnten uns gleich direkt melden, was ich sehr begrüsste.
«Wirklich? Niemanden? Nicht einmal das Monster? Oder Frankenstein selber?»
«Frankenstein am wenigsten. Wenn man etwas kreiert, hat man eine Verantwortung der Kreation gegenüber, die er definitiv nicht eingehalten hat. Jemanden zu verlassen und von ihm zu flüchten, nur, weil er hässlich ist, ist schrecklich. Hätte er diesen Fehler nicht gemacht, hätte das Buch ganz anders geendet. Und auch, dass alle anderen im Buch sich von dem Monster abwenden und sich vor ihm ekeln, ist für mich unverständlich. Aber es spiegelt unsere Gesellschaft ziemlich gut wieder. Denn auch wenn wir es alle abstreiten, hätten bestimmt die meisten genau so gehandelt wie die Menschen im Buch. Und das Monster selber trägt auch sehr viel Schuld. Nur, weil man keine Liebe und Zuneigung bekommt und von allen verhasst ist, rechtfertigt nicht, dass man unschuldige Menschen umbringt. Das Monster will erreichen, dass Frankenstein genau so alleine ist wie er selber. Aber das hilft dem Monster selber nichts, denn Rache generell hat keinen Sinn. Der Rächer ist dann ein genauso niederes Wesen wie der, der die ursprüngliche Tat vollzogen hat. Nicht einmal die Begründung, dass nie jemand seine Liebe erwidert hat, rechtfertigt seine Taten.»
«Wirklich? Findest du nicht, dass alle Lebewesen Liebe verdient haben?»
Erstaunt drehte ich mich um, um die Stimme, welche gerade gesprochen hatte, zu lokalisieren. Ich hatte sie noch nie gehört. Auch Ms. Merel schien erstaunt und verwirrt. Aber schnell wich ihre Verwirrung.
«Ah, unser neuer Schüler. Dominik, oder? Tut mir leid, ich habe ganz vergessen, dass du ja ab heute zu uns stösst. Du möchtest dich sicher kurz vorstellen, aber können wir das auf später verschieben? Ich finde nämlich beide eurer Gesichtspunkte sehr interessant und würde gerne noch etwas mehr Erläuterung darüber hören.»
Nun hatte auch ich unseren neuen Mitschüler entdeckt. Mit leicht zusammengekniffenen Augen betrachtete ich ihn. Seine goldenen, leicht gelockten Haare fielen einem sofort auf. Seine Stimme war tief und ruhig, sie schien aber trotzdem seltsam melodisch. Über seine Statur konnte ich im ersten Moment nicht viel sagen, da er weit weg von mir sass, aber er schien hochgewachsen und sportlich zu sein. Und allein die Tatsache, dass er sich in Ms. Merels Unterricht gemeldet hatte, liess ihn interessant erscheinen.
«Jedes Lebewesen hat Liebe verdient, jedes Lebewesen braucht Liebe, um sich richtig entfalten zu können. Wenn man diese in seinem ganzen Leben nicht bekommen hat, wird man automatisch zu einem Monster. Wie hätte das Monster auch die Werte der Menschen kennenlernen sollen, wenn seine Liebe nie erwidert wurde?»
«Aber sehen wir uns einmal andere Werke an. Auch Oliver Twist und Jane Eyre werden ihre ersten Kindheitsjahre hindurch von niemandem geliebt und trotzdem entwickeln sie sich nicht zu Tyrannen.»
«Oliver Twist und Jane Eyre habe ich noch nie für realitätsnahe Werke gehalten. Sie zeigen Menschen auf, wie sie in echt nie existiert haben können. Frankenstein jedoch spiegelt, wie du selbst auch schon gesagt hast, die Realität ziemlich gut dar. Es zeigt, dass wir die Liebe brauchen und ansonsten so verkommen wie das Monster. Glaubst du wirklich, dass wir ohne Liebe überleben können?»
Irgendetwas von dem, was er gerade gesagt hatte, erregte mich. Ich spürte, wie mein Kopf zu dröhnen begann und mein Herz schneller klopfte. Immer wieder das gleiche Bild flackerte vor meinem inneren Auge auf und vergeblich versuchte ich mich zu beherrschen. Obwohl ich es nicht wollte, presste ich, lauter als beabsichtigt, hervor:
«Ja, vielleicht ist es auch besser, gar nicht zu lieben. Denn es gibt nichts schmerzvolleres, als wenn man nicht zurückgeliebt wird oder wenn die Menschen, die man liebt sterben!»
Der Gong ertönte und die anderen Schüler, welche meinen Ausbruch wohl nicht bemerkt hatten, liefen heraus. Auch ich packte schleunigst meine Sachen ein, doch als ich mich umdrehte, streifte mein Blick den von Dominik. Seine zwei dunkelbraunen Augen starrten mich an und schienen bis in meine Seele vorzudringen. Mein Herz zog sich noch mehr zusammen und ich stürmte aus dem Klassenzimmer. Ich hörte noch die Stimme von Ms. Merel, wie sie mir hinterherrief, ob denn alles in Ordnung sei, aber ich ignorierte sie einfach.
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