Epilog
Dafür, dass nun schon Ende Februar war, hatte es immer noch sehr viel Schnee. Auch im Radio hatten sie gesagt, dass es der längste Winter seit langem war.
Vor dem Friedhof blieben wir stehen und ich lehnte mich an Dominiks Schulter. Seine Wangen waren vor Kälte leicht gerötet und er gab mir einen Kuss auf den Hinterkopf.
«Und du willst das wirklich tun?», fragte er mich.
Ich nickte.
«Ja. Ich bin bereit dazu.»
In meiner Hand hielt ich einen Strauss Blumen. Es waren Alpenveilchen und Schneeglöckchen.
Die Lieblingsblumen meines Vaters.
Dominik blieb stehen, während ich weiterlief.
Vor dem Grab meines Vaters machte ich halt. Ich wischte den Schnee oben weg und legte die Blumen darauf.
Dann zog ich meine Handschuhe aus und berührte den kalten Stein an der Stelle, wo sein Name eingraviert war. Ich hatte das Gefühl, bei der Berührung einen leichten Stromschlag zu spüren, so als ob mein Vater mir zeigen wollte, dass er da war.
Einen Moment war es still, doch dann riss ich mich zusammen und begann zu sprechen.
«Hey Papa», sagte ich langsam.
«Es ist schon länger her, seit ich dein Grab besucht habe und wenn wir mal ehrlich sind, ist das auch nicht wahnsinnig gut ausgegangen.»
Kurz lachte ich ironisch auf.
«Aber zwischen dort und jetzt ist viel passiert, wie du sicherlich weisst. Ich habe in der Zwischenzeit verstanden, dass ich dich nicht hätte retten können und du mich nur retten wolltest, als du dafür gesorgt hast, dass ich aus dem Wagen befördert worden war. Das erste halbe Jahr habe ich deine Entscheidung nicht nachvollziehen können. Und zwar, weil ich dich zu sehr geliebt habe, um zu verarbeiten, dass du nun nicht mehr bei mir warst. Aber nun habe ich verstanden, dass du getan hast was du getan hast, weil du mich ebenso sehr geliebt hast, wie ich dich geliebt habe. Und deswegen habe ich dir verziehen. Und vor allem habe ich mir selbst verziehen.»
Ich machte eine kurze Pause, da das alles doch ziemlich überwältigend war, endlich einmal laut auszusprechen.
«Wenn ich an unsere gemeinsame Zeit zurückdenke, dann denke ich nicht an das grauenhafte Ende, sondern an all das Gute, das wir zusammen erlebt haben. Du warst der beste Vater auf der Welt und auch wenn ich bestimmt nie ganz über deinen Tod hinwegkommen kann, ich glaube, das Schlimmste ist jetzt überstanden. Ab hier wird es nur noch bergauf gehen. Es wird nur noch...»
Erneut machte ich eine Pause und schüttelte den Kopf.
«Ach, ich weiss doch, wie sehr du es hasst, wenn ich mich nicht klar ausdrücke und nicht einfach sage, was ich denke. Was ich also eigentlich sagen wollte, ist, dass es scheisse, verdammt scheisse ist, dass du weg bist. Aber ich will dir nun mitteilen, dass ich auch ohne dich an meiner Seite weiss, wie ich leben kann. Dass ich nun nicht mehr ein elendes Wrack bin, ich meine, seien wir ehrlich, anders kann man das vergangene halbe Jahr nicht beschreiben. Ich glaube, ich habe einfach nie ganz verdaut, dass ich nicht mehr unter Wasser, im Wagen bin. Dass ich dort nicht gestorben bin. Aber nun, nun bin ich wieder an der Oberfläche. Ich bin offiziell ins Land der Lebenden zurückgekehrt. Und wenn ich ins Wasser blicke, dann sehe ich manchmal das dunkelblaue Auto. Oder dein Gesicht. Dein Lächeln. Deine Augen. Aber dann versuche ich nicht, die Erinnerung zu verdrängen. Ich versuche nicht mehr, eine Maske anzuziehen und mir vorzumachen, dass alles gut ist. Ich muss nicht mehr wegschauen. Nun kann ich darüber sprechen. Und nun kann ich dir offiziell sagen, ohne irgendeine dämliche Maske anzuhaben, dass alles in Ordnung ist. Ja. Es ist alles in Ordnung.»
Ich löste meine Hand vom Grabstein. Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich blickte zum Himmel empor.
Dort, irgendwo, ist mein Vater und wacht über mich.
Ich musste an ein Zitat aus dem kleinen Prinz denken.
Wenn du bei Nacht den Himmel betrachtest, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben.
Ich ging zurück zu Dominik, wo er noch in genau der gleichen Position stand, wie ich ihn verlassen hatte. Ich stand neben ihm und unsere Hände fanden automatisch einen Weg zueinander.
«Ich bin stolz auf dich», flüsterte er.
«Du hast es geschafft.»
«Ja», murmelte ich, «ich habe es geschafft.»
Es begann zu schneien, obwohl das hier in der Gegend wirklich unüblich war in dieser Zeit.
«Langsam habe ich das Gefühl, dass du etwas mit diesem Winter zu tun hast», sagte ich und blickte ihn an.
Auch er drehte sich zu mir.
«Wie meinst du das?»
«Nun, am Tag, wo du in die Schule gekommen bist, ist zum ersten Mal Schnee gefallen. Wir erleben den längsten Winter seit langem und da ist natürlich noch die Sache mit dem Wintersturm...»
«Was ist damit?»
«Wir haben hier alle einen Wintersturm erlebt. Aber es scheint, als ob du verantwortlich für meinen persönlichen Wintersturm warst. Ich meine, du bist wie ein Wintersturm über mich hinweggefegt. Schnee, der sich schon lange gesetzt hat und durch eine dicke Eisschicht begraben worden ist, hast du herausgerissen und herumgewirbelt. Du hast mich in ein völliges Gefühlschaos gestürzt.
Aber ich glaube, es ist nötig gewesen.»
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro