Ѵ. Αъscћіede
Am nächsten Tag ging er zu Rashel.
Nach der Arbeit in der Fabrik waren seine Finger schwer und seine Gelenke verspannt. Immer wieder musste er blinzeln, weil ihn der helle Schnee nach den Stunden in der spärlich beleuchteten Produktionshalle blendete.
Myra wartete bereits am Dorfeingang auf ihn und lief Micah fröhlich miauend entgegen, wobei sie ihren weichen Kopf an seinen abgenutzten Stiefeln rieb.
»Hallo, meine Hübsche«, murmelte der Junge und ging in die Hocke, um sie am Schwanzansatz zu kraulen, woraufhin sie schnurrend ihren Rücken streckte und seine Liebkosung genoss.
»Ich habe gehört, das Rashel krank ist. Gehen wir zu ihr.«
Dann stand der Häftling auf und stapfte durch den Schnee zum Haus. Hinter den Fenstern brannte gedämpftes Licht, und Micah brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und den Mut aufzubringen, anzuklopfen.
Noch nie hatte er von sich aus um Einlass gebeten.
Hinter der geschlossenen Tür hörte er ein pfeifendes Atemgeräusch. Ein trockenes Rasseln, das Micah die feinen Härchen an den Armen aufstellen ließ. Er kannte dieses Geräusch, als hätten die Lungen des Gefangenen zu viele Öffnungen und spielten ein schmerzhaftes Abschiedslied. Es war die Symphonie des Todes, die er unzählige Male in seinem Heimatdorf gehört hatte, besonders in den kältesten Wintern, von den Jüngsten und den Ältesten des Dorfes. Micah hatte nie darüber nachgedacht, das der lärmende Tod auch ihre Nachbarn befallen könnte. Aber das machte natürlich Sinn. Krankheiten kümmerten sich nicht um Landesgrenzen, nur Menschen taten das.
Die Tür schwang auf und obwohl Micah nicht überrascht sein sollte, war er doch überrascht und überwältigt, Njet vor sich zu haben.
»Hallo. Ich wollte nur ...« Noch bevor Micah sein angefangenes Gestammel beenden konnte, winkte Njet ihn herein.
»Schön, dass du gekommen bist. Die stumme Mutter sitzt schon neben ihr und wird sie bald zu sich holen.«
Micah schluckte, denn natürlich hatte er sofort verstanden. Rashel lag im Sterben.
Myra, die hinter ihm hereingeschlendert war, tapste weiter in die Küche und miaute, um frische Ziegenmilch zu bekommen. Sie verstand natürlich nicht, dass ihre alte Freundin nicht mehr aufstehen konnte, um sie ihr zu geben. Dieser Anblick machte ihn so traurig, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte und sie ihm warm über die Wangen liefen. Seltsam. Micah hatte bisher kaum eine Träne über sein eigenes Leid vergossen, aber Myras unschuldiges Miauen berührte ihn zutiefst.
»Geh zu Babicka«, flüsterte Njet und ging dann zu Myra in die Küche, um ihr den Wunsch zu erfüllen. Micah blieb noch einen Moment stehen und beobachtete, wie der junge Offizier mit zitternden Händen die Milch eingoss. Es gehörte sich nicht, ihn in seiner stillen Trauer so zu begaffen, aber sein Verstand brauchte es und saugte den Anblick tief in seine Seele ein. Die Wahrheit war, dass sie gar nicht so verschieden waren und auf die gleiche Weise um geliebte Menschen trauerten.
Schließlich wandte er sich ab und folgte den röchelnden Atemgeräuschen in den hinteren Teil des Hauses, wo sich Rashels Schlafkammer befand. Die Greisin lag versunken in einem einfachen Holzbett, und wie es sich gehörte, stand ein leerer Stuhl neben ihr, auf dem die stumme Mutter Platz nehmen konnte, während sie auf die Ankunft eines ihrer Kinder wartete.
Micah hingegen kniete sich vor sie hin und tastete vorsichtig nach ihrer gebrechlichen Hand, um sie zu halten. »Babicka«, hauchte er leise das varezynische Wort für Großmutter und drückte dabei sanft ihre Hand. »Ich bin es. Micah.«
Rashels Augenlider flatterten und versuchten sein Gesicht zu erfassen. »Micah?«, fragte sie heiser.
»Ja«, bestätigte er. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden und dir zu danken. Für alles. Du hast mich gerettet«, gestand Micah, obwohl er fast sicher war, dass sie ihn nicht verstand. Wieder verschleierten heiße Tränen seine Sicht, und Rotz quoll ihm aus der Nase.
»Deine Güte hat mich gerettet, Babicka. Nach all der Verzweiflung und dem langen Marsch durch die Dunkelheit hast du meine Seele mit deinen gütigen Taten geheilt. Dafür danke ich dir.«
Die Sterbende schwieg, aber Micah glaubte, in ihren dunklen Iriden so etwas wie aufflammende Freude zu erkennen. Ein letztes bisschen Liebe, bevor sie starb.
Micah blieb an ihrer Seite und hielt ihre inzwischen erkaltete Hand in seiner. Njet trat ein und küsste Rashels Stirn, strich mit den Fingern über ihre bereits geschlossenen Augen, vielleicht um sicher zu gehen, dass sie geschlossen blieben und die Diener der Frosthexe sie nicht ihrer Augäpfel berauben konnten. Eine Minute lang war alles still, und Micah war, als spürte er noch immer die Gegenwart der stummen Mutter.
Vielleicht war das ein Zeichen?
»Du solltest jetzt gehen«, murmelte Njet. »Die Ausgangssperre beginnt bald.«
»Ja«, bestätigte Micah heiser. »Ich sollte zurückgehen. Dorthin, wo ich hingehöre. Nach Hause.«
Njet zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen und starrte ihn ungläubig an. »Bist du des Wahnsinns? Du würdest nicht weit kommen.«
»Vielleicht weit genug«, erwiderte Micah rau und stand auf. »Du kannst mich erschießen, wenn du willst. Aber verrat mir vorher nur eins. Warum? Warum habt ihr das getan? Warum seid ihr in unser Land eingefallen?«
Micahs Stimme hatte nicht einmal mehr die Kraft, auch nur ansatzweise anklagend zu klingen. Denn dazu war er inzwischen zu müde und zu kraftlos. Er wollte es einfach wissen, den Grund, warum so viele Menschen sterben mussten. Welchen Sinn hatte all das Leid?
»Weil es uns befohlen wurde«, antwortete Njet knapp und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Soldaten sind dressierte Marionetten ohne eigenen Willen. Wir kämpfen, weil wir müssen. Ich kann dir keinen anderen Grund nennen. Nichts, was das alles rechtfertigen oder entschuldigen könnte.«
Micah nickte mit zugeschnürter Kehle. »Danke, dass du dich um meinen Fuß gekümmert hast.«
»Wenn du das wirklich tust, werden sie die Hunde auf dich hetzen. Sie werden dich bei lebendigem Leib zerreißen.«
Der Gefangene rang sich ein halbes Lächeln ab. »Aber es ist so eine schöne Winternacht, findest du nicht? Perfekt, um der Stille zu begegnen.«
»Bitte tu das nicht.«
Aber Micah hatte sich schon abgewandt und ging zur Tür, wo Myra wartete. »Na, begleitest du mich noch ein Stück?«
Bald würde er neue Mulden in den Schnee drücken und sich fragen, wann sein letzter Marsch endete.
Ende
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