I. Dіe Legeпde deг Ғгɵsᴛћexe
Micah trottete wie ein lebender Toter über die Eisfläche.
Sein ganzer Körper, nein, sein ganzes Wesen schien nur noch diese eine, letzte Funktion zu erfüllen: Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Immer wieder. Wie ein endloses Echo. Er hörte, wie seine schwarzen Stiefel die fragile Eisdecke durchbrachen und knisternd kleine Mulden in sie gruben. Spuren im Schnee, hunderte von Schrittspuren, die hunderte von Vertiefungen formten.
Über ihren gesenkten, in Pelzmützen gehüllten Häuptern erklang das Krächzen der Krähen, die in den umliegenden kahlen Baumkronen saßen und Zeugen des vorbeiziehenden Todesmarsches der Soldaten wurden. Wobei Soldaten nicht mehr die richtige Bezeichnung für sie war. Wie nannte man Menschen, die einst für ihr Heimatland in einen unfreiwilligen Krieg gezogen waren und nun auf der Verliererseite standen? Verbrecher? Mörder? Opfer?
Kriegsgefangene, durchzuckte es Micah furchtvoll.
Noch wusste niemand, welches grausame Schicksal sie am Ende des Marsches erwartete. Wahrscheinlich der Tod? Oder noch Schlimmeres?
Der Jüngling, der gerade einmal achtzehn harte Winter durchlebt hatte, legte, einem plötzlichen Impuls folgend, den Kopf schief und blickte zu den lauernden Vögeln hinauf. Wahrscheinlich hofften sie auf eine einfache Mahlzeit. Ein Leichnam, fast noch warm, dem sie genüsslich die Augen aushacken konnten.
Großmutter Vahlaria hatte ihm in seiner Kindheit oft das Märchen von der blinden Frosthexe erzählt, die ihre gefiederten Schergen aussandte, um ihr neues Augenlicht aus den Leichen der Menschen zu stehlen. Deshalb war es so wichtig, die Augen eines Menschen zu schützen, wenn er gestorben war. Großmutter Vahlaria hatte ihm eingeschärft, dass er auf keinen Fall mit offenen Augen sterben dürfe, sonst sei das Letzte, was er sehe, ein Krähenschnabel, der auf ihn einpicke.
»Träum nicht!«, fauchte Sergin, der Hufschmied seines Dorfes, und hob seine gefesselten Hände, um Micah ärgerlich auf den Hinterkopf zu schlagen. »Du kannst träumen, wenn du tot bist. Es dauert nicht mehr lange und die Frosthexe holt uns alle!«
»Sei still!«, zischte die Stimme einer Frau, deren langes, verfilztes Haar ihr wirr ins Gesicht hing. »Sonst beschwörst du ihren Zorn herauf!«
So wie Kaita das sagte, blieb unklar, wessen Zorn sie meinte - den der blinden Hexe oder den ihrer Wärter. Aber am Ende machte es wohl keinen Unterschied.
Micah schaute wieder zu Boden. Bald würde all das keine Bedeutung mehr haben und die Stille würde ihn verschlingen.
Irgendwann lichtete sich der Wald und Micah erkannte eine rot lackierte Dampflok, die auf einem verwaisten Schneefeld hielt und dunklen Rauch in den eisigen Nachthimmel blies. Sie wirkte wie eine Kreatur aus einer anderen Welt, eine rote Schlange.
Micah hatte nur in Büchern von diesen technisch hochentwickelten Transportmitteln gelesen, doch in der Realität wirkten sie weit weniger faszinierend als vielmehr furchteinflößend und seelenlos.
Kaitas frostweiße Lippen bewegten sich und sie sang ein stummes Gebet. Wahrscheinlich zur schweigenden Mutter, die schon die Arme ausgestreckt hatte, um ihre Kinder in der Stille zu begrüßen.
Wenigstens würde es aufhören, dachte Micah sehnsüchtig, und blinzelte die Eiskristalle fort, die sich in seinen langen, tiefschwarzen Wimpern bildeten. Wenigstens würde sein Atem nicht mehr brennen, wenn er die Eisluft in seine Lungenflügel saugte, dann würde es auch keine Rolle mehr spielen, ob sein kleiner linker Zeh wirklich erfroren war und er konnte aufhören, darüber nachzudenken, wie er als Krüppel weiterleben sollte. Alles würde gut werden, wenn er erst einmal in der Stille war.
Hoffentlich ging es schnell, das Warten zermürbte ihn.
Ihre Wärter, die Uniformierten aus Varezy, einem technisch viel fortschrittlicheren Land als Warah, hielten den Marsch an.
Endlich, endlich war der lange Marsch vorüber.
Micahs abgestorbener Zeh quälte ihn, der Rest seines Körpers schrie vor Erschöpfung.
Wahrscheinlich sollten sie hier, an der Grenze, hingerichtet werden und ihre Schlächter würden bald mit unbewegten Gesichtern über ihre durchlöcherten Leichen hinweg steigen, um die Lokomotive zu erreichen, die sie nach Hause brachte.
Wenigstens war es ihnen vergönnt, der Stille auf heimischem Boden zu begegnen und nicht irgendwo in der Fremde.
Auch wenn wir die gleichen Götter verehren und eine ähnliche Sprache sprechen, bleiben sie blutrünstige Wölfe und wir scheue Bergkatzen, dachte Micah schlotternd.
Warah, Micahs Heimat, grenzte in weiten Teilen an Varezy und war flächenmäßig sogar größer, bestand aber fast nur aus dichten Wäldern und unzugänglichen Bergen. Seine Bewohner waren keine großen Denker oder Konstrukteure, sondern eigenbrötlerische Überlebenskünstler. Im Gegensatz zu Varezy verfügten sie auch nicht über eine der mächtigsten Militärakademien des Kontinents, die Wiege ihrer schlagkräftigen Armee.
Micah konnte sich auch nicht erklären, warum Varezy vor acht Monden in ihr Land eingefallen war.
Was hatten sie davon, ein Land wie das ihre zu unterwerfen? Sie besaßen weder nennenswerte Bodenschätze, noch stellten sie in irgendeiner Weise eine Bedrohung für ihre Nachbarn dar. Sie existierten einfach und mischten sich nicht in die Machtkämpfe der anderen ein.
Warum also? Ging es ihnen wirklich nur darum, ihre Klingen mit dem Blut ihrer Feinde rot zu färben?
Nein, dieser Gedanke erschien Micah lächerlich. Es gab sicher einen weniger beunruhigenden Grund. Vielleicht wollten sie neue Kriegsmaschinerie an Menschen erproben? Oder ihre Wälder für ihre unermüdlich arbeitenden Fabrikhallen abholzen?
»Los!«, rief ein Varezy Offizier mit hartem Akzent. »Aufstellen! Los!«
Jetzt ist es so weit, dachte Micah und stellte sich hinter Kaita in die Reihe, die immer noch leise ihre Gebete sang. Bald würde sein Zeh nicht mehr wehtun.
Funfakt: Meine sympathische Frosthexe wurde inspiriert von der isländischen Weihnachtshexe/riesin Gryla✨ googelt mal bitte isländische Weihnachtskatze xD
WT* Island😂😱
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