❄️ 1 - Schneeflocke ❄️
Summer schlägt die Augen auf und starrt an die hell gestrichene Decke ihres Schlafzimmers. Es ist dunkel durch die heruntergelassenen Rollos und sie hört die Vögel draußen fröhlich zwitschern. In ihrer Wohnung dagegen herrscht die gewohnte Stille, lediglich das Ticken des altmodischen Weckers auf ihrem Nachttisch durchbricht die Ruhe.
Ein Traum. Sie hat von ihrer Kindheit geträumt.
Sie lebte eine Zeit lang in einem Waisenhaus, bis sie von der wohlhabenden Familie Winters adoptiert wurde. Debora konnte keine Kinder bekommen und so beschlossen sie und ihr Mann Edward ein Mädchen zu adoptieren. Sie entschieden sich für Summer aus zwei Gründen: Erstens: Sie eroberte die Herzen der beiden im Sturm, sie waren von ihr derart angetan, dass sie für die anderen Kinder kein Interesse mehr hatten. Zweitens: Ihr Name. Das Ehepaar Winters fand, dass ihr Vorname sehr lustig in Bezug auf den Nachnamen klang. Für die beiden war es ein „Zeichen des Schicksals" und besiegelte deren Entschluss, das kleine Mädchen in die Familie aufzunehmen.
Sie hatte es dank ihrer Adoptiveltern nicht schlecht gehabt in ihrem Leben und war ihnen sehr dankbar. Doch das hatte die Jugendliche nicht davon abgehalten sich mit achtzehn Jahren eine Wohnung zu suchen. Debora und Edward brach es das Herz, aber Summer wollte endlich auf eigenen Füssen stehen. Sie hatte es nie ertragen, dass der Rest der Familie Winters sie als Schmarotzer betrachtete. Allen voran ihr Cousin Nicolas, der Sohn von William, dem Bruder ihres Vaters. Er ließ die zahlreichen Gelegenheiten niemals aus, ihr zu sagen, was er von ihrer Abstammung hielt. Der Junge behandelte sie immer wie eine Dienstmagd, sobald sie alleine waren und sie hatte es gehasst.
Mit einem energischen Kopfschütteln versucht sie die alten Erinnerungen zu vertreiben, denn sie fühlt sich immer noch leicht benebelt von dem Traum. Langsam setzt sie sich auf und lässt ihr Füße auf den glatten Fliesenboden gleiten, welcher sich angenehm an die Zehen und Fersen schmiegt. Sie benutzt zum Schlafen weder Decke noch Nachtwäsche, denn das ist ihr immer zu warm. Nur in Unterwäsche sitzt sie auf ihrer Bettkante und starrt vor sich hin. Summer hat schon ewig nicht mehr an die Zeit im Waisenhaus gedacht, sie sogar fast vergessen.
Damals war ihr einziges Glück die kalte Jahreszeit. Wenn die Welt von Schnee und Eis überzogen wurde, dann fühlte sich das Mädchen frei. Sie tanzte mit den Schneeflocken, redete mit dem Wind und spielte mit dem Eis. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, ihre Mutter sei eine wunderschöne Frau in einem weißen Kleid und mit blonden Haaren wie den ihren. Bei dichtem Schneefall bildete sie sich ein, dass es ihre Mama ist, die mit ihr tanzt. Natürlich war dies Unsinn gewesen. Als Summer älter wurde, wurde das immer mehr zur Gewissheit und sie hatte die kindliche Vorstellung von ihrer Mutter bereits früh verloren. Doch das ändert nichts daran, dass sie trotz allem von der Zeit im Waisenhaus geträumt hat. Und ihrer besonderen Bindung zu Eis, Schnee und Kälte.
Sobald es Winter wurde, lebte Summer immer richtig auf. Sie wurde nie krank, auch wenn sie oft barfuß im Pulverschnee stand. Egal wie lange ihr ein Winterwind ins Gesicht wehte, sie bekam niemals blau angelaufene Lippen oder irgendwelche Erfrierungen.
Eine weitere Besonderheit an Summer ist, dass sie keinerlei Körperwärme ausstrahlt. Da sie nie zum Arzt muss, hilft das, ihre Andersartigkeit zu verbergen. Nur Debora ist ihre kalte Haut aufgefallen, aber da es von der Heimleitung aus geheißen hatte, es liege an schlechter Durchblutung, dachte sie sich zum Glück nie was dabei. Und da es Summer gesundheitlich immer gut gegangen ist, sah ihre Adoptivmutter nie einen Grund, diesem Umstand nähere Beachtung zu schenken. Die Heimleiterin hatte sich auch diverse Tricks einfallen lassen, um das kleine Mädchen unbeschadet durch die Standarduntersuchungen zu bringen.
Die anderen Kinder im Waisenhaus hatten sie jedes Mal damit aufgezogen. Sie nannten sie dann Schneeprinzessin und taten so, als wäre Summer in Wahrheit die Tochter der bösen Schneekönigin aus dem berühmten gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen. Das Mädchen ließ es sich zwar nie anmerken, aber das verletzte sie zutiefst. Mit der Zeit verfluchte sie ihre körperlichen Anomalien, und das Bewusstsein „anders" zu sein. So zog sich Summer immer öfter zurück, bis sie eines Winters gar nicht mehr vor die Tür ging. Sie verbrachte die gesamte kalte Jahreszeit in ihrem Zimmer. Damit hörten dann die Spötteleien der Kinder auf. Aber glücklich war Summer nicht gewesen. Denn Glück hatte sie nur empfunden, wenn sie mit Wind und Schnee tanzte. Doch dies hatte sie sich selbst versagt, und so wurde sie immer stiller und in sich gekehrter. Und das Mädchen begann den Winter zu verabscheuen, den sie alleine von ihrem Zimmerfenster aus mit Sehnsucht betrachtete und dem dennoch niemals nachgab.
Immer noch unfähig die Gedanken daran abzuschütteln, beginnt Summer ihren Schultag wie gewohnt mit dem Verlassen ihrer Wohnung in einem Mehrfamilien-Haus. Nachdem Sie sich in ihrem kleinen Badezimmer einer Katzenwäsche unterzogen und ihre schulterlangen glatten, blonden Haare in einen Pferdeschwanz gebunden hat, entscheidet sie sich für einen leichten fließenden Rock und ein bauchfreies Oberteil. Beides in ihren Lieblingsfarben weiß und blau. Sie erfreut sich heute wieder des bereits am Morgen vorherrschenden strahlenden Sonnenscheins, der ihr in die eisblauen Augen sticht, sobald sie aus der Tür des Wohnkomplexes tritt. Sie hebt eine Hand um sich davor abzuschirmen. Das ist eben der Vorteil im südlichsten Teil des Sonnenstaates Florida, grinst Summer in sich hinein. Hier ist nie Winter, egal was der Kalender behaupten mag: Selbst Anfang November herrschen hier sommerliche Temperaturen. Hier konnte sie sein, wie jeder andere Mensch, sogar unbeschwert an den Feiertagen unter dem großen Weihnachtsbaum am Marktplatz stehen und mit den Fremden Weihnachtslieder singen, bevor sie zu ihren Eltern nach Hause fuhr.
Doch alle diese Gedanken sind mit einem Mal wie weggeblasen. Vor ihr schwebt unberührt von den warmen Temperaturen, eine kleine weiße Schneeflocke locker leicht zu Boden. Entsetzt starrt sie auf diesen Verrat ihrer Vorstellungen. Wo immer dieser winterliche Diener hergekommen sein mag, sie bildet es sich ein. Ganz genau! Sie muss nur blinzeln und die Flocke wird verschwinden.
Doch auch nach dem dritten Zusammenkneifen der Augen gleitet sie noch gen Fußgängerweg in ihrer ruhigen Wohngegend mit dem kleinen Park gegenüber. Kurz bevor sie ihn berührt, wird die Schneeflocke von einem unsichtbaren Windhauch wieder himmelwärts getrieben und schwebt scheinbar unbeeindruckt von Summers Bemühungen, auf die gegenüberliegende Seite der kaum befahrenen Straße. Völlig ungläubig und dem Verräter mit den Augen auf die andere Straßenseite folgend, bemerkt die junge Frau jetzt erst, dass sie nicht die Einzige ist, die die Schneeflocke mit Interesse beobachtet. Ein vollkommen weißer Wolf sitzt dort auf dem Gehweg und geleitet die Flocke mit konzentrierter Miene, bis diese vor seinen Pfoten auf dem Boden landet und verschwindet. Es ist das größte Tier seiner Art, das ihr jemals unter die Augen gekommen ist. Auch das Schönste ... nicht, dass sie überhaupt viele Wölfe in natura gesehen hat. Ihr klappt ihr der Mund weit auf vor Staunen. Sein Fell ist schneeweiß mit einem leichten Blaustich, fast wie gefrorener Schnee. Die großen grünen Augen erwidern gelassen Summers erstaunten Blick. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es hier in Florida noch Wölfe gibt, die hiesigen Zoos ausgenommen, versteht sich. Eigentlich ist das, was sie sieht unmöglich. Genauso wie eine Schneeflocke bei sommerlichen Temperaturen...
Das ist es! Eine Fata Morgana! Ihr Unterbewusstsein spielt ihr einen Streich. Sie ist einfach nicht richtig wach, anders kann es nicht sein. Schließlich sieht außer ihr sonst niemand dieses Tier geschweige denn die Flocke. Keiner der wenigen Passanten bleibt fasziniert stehen oder rennt schreiend vor dem Wolf weg. Nicht einer scheint seiner auch nur gewahr zu sein. Summer schüttelt lächelnd den Kopf. Das hat sie nun davon, dass sie gestern Abend bis spät über Mitternacht hinaus gelesen hatte. Sie sollte wirklich früher ins Bett gehen. Dann müsste sie sich nicht mit komischen Träumen an ihre Kindheit und seltsamen Halluzinationen von Wildtieren abgeben.
Innerlich wieder beruhigt steigt sie in ihr kleines rotes Auto. Sie sollte sich beeilen, sonst kommt sie zu spät ins College. Zum Teufel mit dem imaginären Wolf und dieser eingebildeten Schneeflocke! Dennoch die andere Straßenseite mit Blicken meidend, fädelt sie sich in den morgendlichen Verkehr ein.
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Gestank. Laut. Viel zu viel Menschen. Hitze. Will nicht hier sein. Leider eine Mission. Muss weiter. Der Schnee leitet. Es kann nicht mehr weit sein. Kann es wittern. Magie. Da! Auf der anderen Seite dieses seltsamen Weges. Eine junge Frau. Eis. Schnee. Wittere ganz deutlich. Sie muss es sein. Bloß nicht verlieren. Habe sie endlich gefunden. Ganz sicher: Das ist sie!
Erst mal beobachten. Nicht zu nah ran. Sie könnte Angst bekommen. Freude! Habe es geschafft. Die Magie ist schwach, aber das ist kein Problem. Sie wird stärker werden. Doch was jetzt? Kann nicht reden. Nicht in dieser Form. Muss behutsam vorgehen. Wer sie wohl ist? Muss ihr ein Zeichen geben. Eine Schneeflocke! Die Lösung. Die wird sie sehen!
Es klappt! Jetzt die Flocke lenken. Nicht auf den Boden fallen lassen. Hierher. Vorsichtig ... Sie schaut her. Sehr gut! Aber! Was ist jetzt? Sie schüttelt den Kopf? Was bedeutet das? Sie steigt in einen Metallkasten. Er bewegt sich. Jetzt aber schnell! Hinterher.
Oh nein! Zu viele andere komische Kästen. Verdammt! Was sind das nur für Dinger! Habe sie verloren! Was jetzt? Muss sie unbedingt wieder finden! Kann Witterung nicht aufnehmen. Viel zu viel Gestank. Riecht alles gleich. Viel zu heiß. Ratlosigkeit. Vielleicht erst einmal ausruhen? Da, Bäume und Gras. Nicht perfekt, aber immerhin Natur. Kein seltsamer grauer Boden. Großes Gebüsch. Verstecken. Warten. Auf die Nacht. Im Dunkeln erneut versuchen. Dann weniger Menschen. Weniger Metallkästen. Etwas weniger Gestank. Weniger Hitze.
Müde. Erschöpft. Schlafen. Heute Nacht weitersuchen.
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