8. Kapitel
Einer der beiden kam auf mich zu, packte mich am Oberarm und zog mich in die Höhe. Mit Mühe sah ich Lawrence hinterher, um den sich der andere der beiden kümmerte. Mir wurden die Augen verbunden und dann wurde ich weggeführt. Bereits von meiner ersten Entführung wusste ich, dass es besser war, klein beizugeben. Erst aus dem Raum, dann eine Treppe hinauf, durch ein Erdgeschoss und dann wieder eine kleine Treppe hinunter. In diesem Zimmer hing der unverkennbare Geruch von Garage. Der gummiartige Reifengeruch, die komische Mischung aus Frischluft, die aber trotzdem mit Abgasen gespickt war. Dort wurde ich losgelassen, um im nächsten Moment auf eine Ladefläche gehievt zu werden. Wieder ein Pickup Truck?
Hinter mir wurden die Geräusche von Lawrence lauter, die sich meiner Position näherten.
„Finger weg, du Arschloch! Was fällt euch eigentlich ein?", hörte ich ihn laut und wehrhaft. Das Auto senkte sich kurz, als auch er auf die Ladefläche platziert wurde. Im nächsten Moment wurden meine Beine und Fußknöchel verbunden. Für Gegenwehr fehlte mir immer noch die Kraft.
Neben mir war Lawrence deutlich weniger bereit, sich mit der Situation abzufinden und ich hörte ihn schreien, bis dieser Schrei verstummte und dumpfen Lauten wich. Was dort passierte, wurde mir schneller klar, als mir lieb war.
„Sammy, Schätzchen, bist du so lieb, und öffnest deinen Mund? Ich weiß, Rabenmutter, aber leider können wir nicht das Risiko eingehen, dass du uns verrätst", ertönte die weibliche Stimme wieder.
„Aber dann ersticke ich, wenn ich mich wieder übergeben muss", murmelte ich kraftlos.
„Das Risiko muss ich dann wohl eingehen", erwiderte sie und schon wurde mir etwas in den Mund gesteckt und mit etwas anderem um meinen Kopf verbunden.
Moment mal, Rabenmutter? Was zum Teufel? Stieg jetzt eine weitere Person in Chases' Illusion mit ein?
„So, noch eine Decke über jeden, damit ihr nicht friert, dann wird die Laderaumabdeckung geschlossen und los geht die wilde Fahrt. Juhu!", flötete die Dame und ich hörte, wie eine Rollladenabdeckung über uns drübergezogen wurde. Die Decke war warm und weich, aber dieses Mal blieb ich wach, verzweifelt begann nun endlich mein Überlebenswille. Hinter mir hörte ich ähnliche Geräusche von meinem Mitgefangenen. Es war aussichtslos, egal, wie sehr ich es versuchte. Auch Lawrence musste zu dieser Realisation gekommen sein, da ich auf einmal seine Hände in meinen hielt und sie fest zudrückten. Zwar war ich schon siebzehn, aber ich fühlte mich gar nicht der Situation gewachsen. Wie oft hatte ich betont, schon erwachsen zu sein, wenn es um Privilegien in meiner Wohngruppe ging. Und jetzt? Wünschte ich mich in mein altes Kinderzimmer zurück mit meinen Legos, ohne die Grausamkeiten der echten Welt.
Die Fahrtgeräusche nahmen zu und wir waren bestimmt auf der Straße unterwegs. Ich verlor jegliches Zeitgefühl und war erstaunt, als wir irgendwann anhielten.
Das Rollcover wurde nach hinten geschoben, da mich sofort die kalte Luft an der Nasenspitze traf. Neben mir begann ein kleiner Aufruhr und sein Griff wurde noch fester.
„Wie süß, du musst aber deinen neuen Freund loslassen, Lawrence. Ihr werdet euch ohnehin nie wieder sehen. Du wirst jetzt schön am Ortsausgangsschild von Morgantown fixiert, da kann dich dein Vater später einsammeln. Noch ein Polaroid Bild für deinen Vater, und fertig. Sieht super aus. Dann geht es weiter zur Übergabe", ertönte die Frauenstimme und die Abdeckung wurde wieder entrollt. Allein. Ganz allein lag ich nun hier auf dieser verdammten Ladefläche. Fast wollte ich Lawrence einen Vorwurf machen. Er hatte versprochen, mich nicht allein zu lassen. Aber ich musste einsehen, dass das außerhalb seines Wirkungskreises lag. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was für Pläne die Frau hatte, wenn sie meinem Mobber verkündete, dass wir uns nie wieder sehen werden.
Wieder konnte ich nicht genau bestimmen, wie lange wir fuhren. Irgendwann kamen wir wieder zum Stehen. Nur dieses Mal blieb die Abdeckung geschlossen. Ich lag auf dem mittlerweile angewärmten Metalluntergrund und spitzte die Ohren. Entfernt konnte ich die Stimme von Sheriff Fauver erkennen.
„Sam?", rief dieser vorsichtig. Wusste er doch, dass ich mit entführt wurde?
„Es ist noch nicht zu spät. Sag mir einfach, wo du meinen Sohn hingebracht hast, und ich versuche einen guten Deal für dich auszuhandeln. Ich setzte mich persönlich dafür ein, dass du nach Jugendstrafrecht verurteilt wirst und nicht in ein Erwachsenengefängnis kommst. Wenn du dich gut hältst, wirst du früher entlassen und kannst später dein Strafregister löschen lassen. Wirf doch nicht dein Leben weg, Sam. Nicht für einen Kriminellen", brüllte er zu uns.
Fuck, dieser Vollidiot dachte, dass ich hinter dem Scheiß stecke? Um einen mir fast unbekannten Mann aus dem Knast zu holen? Der traute mir mehr zu, als alle Menschen, einschließlich mir, es jemals in meinem Leben getan hatten. Am liebsten hätte ich ihm entgegen geschrien, was er denn für ein Armleuchter war. Doch zum einen hielten mich ein Knebel und meine lähmende Angst davon ab. Ich konnte nicht sprechen, was würde passieren, wenn? Die Entführerin würde Gott weiß was mit mir anstellen. Sie hatten schließlich schon einen Autounfall provoziert, der hätte böse enden können. Erneut wand ich meine Hände hinter meinem Rücken, doch gegen Handschellen konnte ich einfach nicht ankommen. Leise wimmerte ich, was draußen bestimmt niemand hören würde.
Eine verzerrte Stimme antwortete dem Sheriff. „Geben Sie mir Whitaker, dann erfahren Sie, wo sich Ihr Sohn befindet." Ohne große Umschweife. Klar würde niemand aufklären, dass ich unschuldig war.
„Hier ist er, wo ist mein Sohn?"
„Erst Whitaker, dann erfahren Sie es."
Schritte näherten sich, die Beifahrertüre wurde geöffnet und geschlossen.
„Auf diesem Foto ist der Standort der Geisel. Ist ziemlich selbsterklärend. Ciao!", hörte ich noch einmal die verzerrte Stimme, dann wurde auch die Fahrertüre geschlossen. Der Motor startete und wir setzten uns in Bewegung.
Tränen drängten aus meinen Augen, die in der Augenbinde hängen blieben. Es war alles so ungerecht. Wieso ich? Immer ich? Hatte ich nicht schon genug Schlimmes erlebt? Alles tat mir weh, ich merkte die Auswirkungen der Gehirnerschütterung immer noch deutlich, obwohl das Schmerzmittel schon einiges abgefedert hatte.
Im Pickup vernahm ich Gespräche, konnte aber nicht genau verstehen, was gesprochen wurde. Der Fahrtlärm war zu laut. Nicht mal das blieb mir, Informationen über meine Situation zu sammeln.
Plötzlich stoppte der Wagen. Die Türen wurden wieder geöffnet.
„Hier, zieh dich um. Keiner soll deinen orangen Knastoverall sehen. Wir müssen Fluchtwagen wechseln", erklärte die Frau.
„Veruca, das ist wirklich nett von dir, aber ich wollte nicht aus dem Gefängnis raus. Wirklich nicht. Den Sohn des Sheriffs entführen? Bitte, es ist doch schon genug passiert", erwiderte Chase, der sich anscheinend neben dem Auto umzog.
„Du verstehst das nicht, Chase. Ich liebe dich und kann nicht sehen, wie du leidest. Jetzt, wo du umgezogen bist, kann ich dir ja eine kleine Überraschung präsentieren. Wobei du es auch gern als dein Geschenk für unser zukünftiges, gemeinsames Leben sehen kannst", hörte ich die Frau, Veruca, freudestrahlend verkünden. Als nächstes wurde erneut das Rollcover geöffnet, was ich nur durch den Luftzug spürte.
„Scheiße, Veruca!", entfuhr es Chase. Ich versuchte etwas zu sagen, doch es verließen nur gedämpfte Laute meinen Mund.
„Tada! Ist das nicht super? Unsere kleine, eigene Familie. Ich bekomme einen tollen Mann, du deinen Sohn wieder und alle sind glücklich! Es hat mir im Krankenhaus das Herz gebrochen, als ich dich so leiden sah. Und seit du den Jungen da gesehen hast, hat sich deine Laune so verbessert. Zugegeben, deine Entführung war ein wenig holprig und nicht von langer Dauer gekrönt, aber das ist jetzt alles anders. Ich fühle es. Wir müssen ihn ins andere Auto bringen, dann fahren wir in meinen Unterschlupf, unser neues Zuhause! Dort können wir in aller Ruhe leben. Du, ich, Sammy. Irgendwann wird sich unser Sohn schon mit der Situation anfreunden."
Die Alte war offiziell verrückt. Verrückter als ein Hutmacher. Und was war das mit dem Krankenhaus? War sie wirklich diese ominöse Krankenschwester? Da hatte ich unabsichtlich voll ins Schwarze getroffen.
„Aber das ist doch nicht nötig", sagte Chase nach einer kleinen Pause.
„Ich würde ungern ein Risiko eingehen und ihn erst losmachen, wenn wir im Versteck sind, Darling", meinte Veruca.
„Das ist mir klar, Schatz. Vielleicht lag ja darin mein Fehler. Du bist so viel besser darin als ich, Schatz. Aber die Augenbinde kann ich ihm doch abnehmen, oder? Es würde mich so sehr freuen, meinem Sohn in die Augen zu sehen. Und was soll er denn schon tun, nur weil er etwas sieht?", beschwichtigte Chase. Der Fiesling stieg auch noch voll auf die Geisteskranke ein. War er froh, doch endlich seine Fantasie ausleben zu dürfen? So viel zum Thema ‚psychologische Hilfe' und alles hat sich gebessert.
„Na gut. Aber nur, weil ich dich liebe und sehen will, wie du dich über Sammy freust", lenkte die Bekloppte ein.
An meiner Schläfe spürte ich auf einmal ganz sanft Fingerspitzen, die sich unter die Augenbinde schoben und mit größter Vorsicht diese wegzogen. Wieder war ich geblendet, blinzelte verschwommen durch meine getrockneten Tränen hindurch und sah in das liebevolle Gesicht von Chase, neben dem eine Frau in seinem Alter stand mit wilden, roten Haaren und einem freundlichen Blick, der aber eine Prise Wahnsinn innehatte.
Er legte seine warme, fürsorgliche Hand an meine Wange und sah mich liebevoll an. „Hallo, Samuel, schön dich wieder zu sehen."
Kurz wollte ich verzweifelt mein Gesicht verziehen, enttäuscht von seinen Lügen und seiner gespielten Läuterung. Moment mal, nannte er mich Samuel? Zusätzlich zu meiner Verwirrung tat er etwas Unerwartetes. Er zwinkerte mir zu.
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