Rückblick 3 | Der Tag danach
„Der Tag danach"
Dienstag, 4. Januar 1972
Das Einzige, an das ich mich erinnern konnte, als wir das Ministeriumsgebäude verließen, war schwarz. Schwarze Wände. Schwarze Gänge. Schwarze Flure. Die Zauberer (ich glaube, Auroren) mit denen ich gesprochen hatte, die vielmehr mit mir gesprochen hatten, hatten schwarze Uniformen getragen. Wieso war alles schwarz?
„Will?"
Selbst hier, vor der Telefonzelle, die den Eingang ins Zaubereiministerium bildete, war das Pflaster der Straße irgendwie dunkler als sonst – als würde mich das Leben verspotten. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah in den grauen Himmel, hoffte, dass es zu Schütten begann und mich der Regen einfach hinfort spülen würde. Ich fühlte mich leer. So leer, dass ich das, was die Zauberer gesagt hatten, schon wieder vergessen hatte. Ich hatte es wahrscheinlich nie richtig gehört. Er war tot.
Ich lebte.
Und er war tot.
TOT.
„William! Hey, sieh mich an!", rief jemand. Ich hörte es wie aus einer anderen Welt an mein Ohr dringen. Als mich zwei Hände an den Schultern packten und ein Ruck durch meinen Körper ging, sah ich auf. Ein platinblonder Junge schaute mich aus grauen Augen durchdringend an. Eine Strähne seiner schulterlangen Haare war ihm ins Gesicht gefallen, die Brauen in einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Besorgnis zusammengezogen. Lucius. „Es ist alles gut. Du hast es hinter dir."
„Was?" Die Frage kam aus meinem Mund. Das hörte, aber spürte ich nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, als könnte ich je wieder selbst Worte in meinem Mund bilden. Mein Hals tat immer noch weh. Das Kratzen ging nicht weg.
„Die Befragung. Du- Ach, das ist nebensächlich. Geht es dir gut?"
Ging es mir gut? Ich wusste nicht, mit welchem Blick ich ihn anschaute. Wahrscheinlich würde ich ihn mit einer tiefen Unverständnis ansehen, könnte ich es steuern. Wie konnte es mir denn gut gehen? Wie sollte ich je wieder fühlen können? Er war weg. Und ich wollte schreien und um mich schlagen und jemanden treten und mehr schreien, aber ich konnte nicht. Alles war so starr. Meine Glieder waren steif, als wäre ich plötzlich um fünfzig Jahre gealtert. Mein Körper war mir fremd. Es fühlte sich nicht so an, als würde er mir gehören. War dieses Gesicht wirklich meins? Gehörte dieser Körper wirklich mir? Diese Hülle von mir hatte Nic auf dem Gewissen.
Scheiße.
„Es ist alles vorbei, Lucius. Alles ist vorbei." Ich sah in diese stahlgrauen Augen und spürte, wie ich anfing zu zittern. Mein Innerstes bebte, mein Herz flatterte in meiner Brust und meine Augen fühlten sich verdächtig feucht an. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, grub meine Fingernägel in die Handfläche, in der Hoffnung meine Nerven vielleicht ein wenig davon abzulenken, dass ich ein Menschenleben ausgelöscht hatte. Einfach so. In einer Nacht.
„William..." In Lucius Augen trat Unsicherheit und ich wusste, dass er nicht verstand, was ich fühlte. Wie konnte er denn? Mein Sichtfeld wurde immer glasiger und verschwamm langsam vor meinen Augen. Wie konnte er schon das fühlen, was ich fühlte? Er hatte Nicolas nicht so gekannt, wie ich es getan hatte. Er hatte Nics Hand nie in seiner gehalten. Er hatte Nics Lippen nie auf seinen gespürt. Der Schmerz fing an, mein Herz von innen aufzureißen. Ich würde ihn nie wieder berühren können.
Nie wieder.
„Nein, du verstehst es nicht. Es ist alles zu Ende. Wirklich alles!", beteuerte ich, doch aus meiner Kehle klang es eher wie ein verzweifeltes Krächzen. „Wie kann ich nur leben, wenn er es nicht mehr kann?"
Ich krümmte mich zusammen und griff mir mit einer Hand an die Stelle meines Shirts, an der mein Herz unter meiner Haut zu explodieren begann. Ich krallte mich daran fest, um dem Schmerz Einhalt zu gebieten, doch es klappte nicht. Natürlich klappte es nicht. Nics Fürsorge war unbezwingbar gewesen. Seine Zuneigung so rettungslos, dass ich mich ganz darin verloren hatte und so riss mich dieser Schmerz nun in seine Fluten.
Das Beben meines Körpers mündete in einem lauten Schluchzer. Mein Körper zog sich zusammen und ich spürte den Schmerz in jeder Faser meines Seins. Ich atmete stockend und weinte und spürte den Schmerz ungesagter Worte. Spürte den Schmerz eines vergangenen Lebens. Ich fühlte mein Herz brechen, in eine Millionen Teile – mindestens. Wie konnte ich nur leben?
„WILLIAM!" Stechender Schmerz an meinen Wangen und die kühlen Hände, die meinen Kopf nun bestimmt nach oben drehten, holten mich aus diesen schwarzen Wellen. Meine Augen suchten und fanden plötzlich wieder Lucius Graue, die nicht mehr hilflos dreinschauten, sondern durch mich hindurchdrangen und den inneren Schmerz dorthin verbannten. Nach Innen. Nach ganz tief in mir drin. Ich konnte wieder atmen.
„Lucius."
„Hör auf zu heulen, Will." Die dunklen Brauen bildeten in dem hellen Erscheinungsbild des Jungen einen klaren Kontrast und betonten nun seine grimmige Entschlossenheit. „Nichts ist vorbei. Sei froh, dass zumindest du überlebt hast. Du kannst zurück in die Schule. Du hast die Auroren gehört; Die Flammen sind das Produkt schwarzmagischer Kraft. Sie vermuten eine Gruppe, deren Anhänger sich Todesser nennen, dahinter. Ihr hattet schlichtweg Pech."
Er verstärkte den Druck auf meine brennenden Wangen und der Anflug eines aufmunternden Lächelns glitt über das sonst so ernste Gesicht des Slytherin. Er verstand es nicht, begriff ich. Keiner hatte es verstanden. „Niemand macht dir einen Vorwurf."
„Das müsst ihr aber!" Ich riss mich von ihm los, taumelte zurück und landete rücklinks auf meinem Hintern. Tränen stiegen erneut in meine Augen. Wieso munterte er mich denn auf? Er sollte toben und fluchen und mich verfluchen. Vor allem mich verfluchen. Sein Gesicht zeigte Unverständnis, aber keine Wut. „Ihr solltet mich alle hassen. Es ist meine Schuld. Ich habe Nic umgebracht!"
„Wie bitte?" Lucius Bewegung versteifte und er zog die Brauen in die Höhe, begleitet von einem verdammten Anflug eines ungläubigen Lächelns. „Das kann nicht sein." Er fing an leicht mit dem Kopf zu schütteln. „Deinem Zauberstab konnten keine Zünd- oder feuerentzündende Sprüche nachgewiesen werden. Du hast damit nichts zu tun."
Er hatte Recht. Mein Zauberstab hatte die Nacht mutterseelenallein in Nics Schlafzimmer verbracht. Ich hatte ihn in der Nacht schlichtweg vergessen, da Nic mich so unvorbereitet mitgeschleppt hatte. Aber es war ja auch nie meine Absicht gewesen Feuer zu legen, geschweige denn ein Leben zu beenden. Daran war einzig und allein das schwarze Feuer schuld.
„Du- Es tut mir so leid." Erneut verschleierten Tränen meine Sicht. Sie hörten einfach nicht auf, immer weiter über meine Wangen zu laufen. „Es tut mir so so leid."
„Was meinst du damit, Will?", fragte Lucius, dessen Lächeln langsam erstarb. Mit einer Hand kaum merklich ausgestreckt, machte er einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. „Du hättest ihn nicht retten können. Wieso sagst du so etwas?"
Wieso sagst du so etwas? Diese Frage traf mich härter, als ich es zugeben wollte und ich musste schlucken. Ich hatte die ganze Zeit geschwiegen, war vor den Auroren wie in Trance gewesen, aber nun hatte ich es ausgesprochen. Lucius und ich starrten uns unverwandt an.
Wieso sagte ich so etwas? Es tat weh. Aber es tat nicht nur mir weh. Ich sah in diesem dunklen Stahl, in dem ich mich vergraben hatte, dass es Lucius genauso wehtat. Ich musste es gar nicht aussprechen. Niemand erwartete von mir, dass ich es aussprach. Niemand wollte, dass ich etwas mit dem Unfall zu tun hatte. Niemand würde mir glauben, dass ich etwas damit zu tun hatte. Denn es gab neben mir nur eine weitere Person auf dieser Welt, die von dem schwarzen Feuer wusste und Professor Dumbledore würde dieses Wissen mit ins Grab nehmen, da war ich mir sicher.
Wieso sollte ich also etwas sagen?
Ich blickte in seine grauen Augen voller Schmerz und Lucius blickte in meine braunen Augen voller Schmerz. Ihn zerstörte es auch. So wie er gerade reagiert hatte, ließ ihn Nics Tod längst nicht so kalt, wie er es bisher vermuten gelassen hatte. Ich war dermaßen mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich sein Leid überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Nicolas war sein bester Freund gewesen. Lucius Welt hatte auch zu einem Teil um Nic gekreist und nun war er weg. Unser Anker.
„Ich", setzte ich an, doch brach ab. „Es tut mir nur leid, dass ich ihn nicht retten konnte. Er hat mich aus dem Fenster gestoßen, ohne selbst rauszukommen."
Eine gewisse Erleichterung trat in die Augen des Slytherin und er stellte sich wieder gerade hin. Seine Mimik wurde zu einer starren Maske.
„Er hat es sich selbst ausgesucht. Du kannst nichts dafür."
Ich konnte nichts dafür.
Na klar.
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