Kapitel 35
Wiegenlied
Kapitel 35
»Willst du mir wenigstens sagen, wo wir hingehen?«, fragte ich, als mir bewusst geworden war, dass ich meinen Arm einfach nicht von seinem Griff befreien konnte und er mich nun schon eine Weile herumgezerrt hatte.
Es war ein angenehm warmer Tag, die Sonne schien hell und das Zirpen von Heuschrecken war leise im Hintergrund zu hören.
Burak antwortete mir nicht und hastete mit groben Zügen weiter. Plötzlich blieb er dann stehen und ließ sich auf den Boden fallen. Gerade noch hatte er so gefährlich ausgesehen und nun so verletzlich. Er hatte sein Gesicht nach unten gerichtet und atmete flach.
Gestern noch hatte ich seine Atmung gezählt und mich damit gebändigt.
Langsam hockte ich mich auch hinunter.
»Eigentlich wollte ich sauer auf dich sein«, gestand er. »Aber aus irgendeinem Grund geht das einfach nicht. Ich weiß nicht einmal wieso.«
Ich schwieg. In solchen Momenten fiel es mir einfach schwer, die richtigen Worte zu finden.
»Ich hab dich nicht da raus gezerrt, damit du nichts mitkriegst. Ja, am Anfang wollte ich, dass du nichts weißt, damit du nichts damit zutun hast und so weit wie möglich von diesen Tatsachen Abstand hast, aber ich hab gemerkt, dass du so stur bist und einfach nicht nachlassen kannst. Ich hab dich da weggezogen, damit ich die Person bin, die dir davon erzählt. Ich sollte dir erzählen, dass die Frau, die mein Vater getötet hat, seine beste Freundin war, dass er an einem Tag sie angelächelt und sie am nächsten Tag mit einem Messer getötet hat.«
Ich sah mit an, wie er unter diesem Druck zerbrach und doch versuchte, alles wieder aufzubauen. Er versuchte seine Stärke zu zeigen.
»Du musst mir das nicht erzählen«, flüsterte ich leise. »Ich wollte doch nur wissen, wie mich Cesur ausnutzen will und nicht einmal das hab ich verstanden.«
»Um das zu wissen, muss man die Vorgeschichte wissen. Mein Vater und Karahan waren Freunde. Sie kannten sich lange und waren schon wie Verwandte. Er hat seine Frau getötet. Ich kannte sie. Unbeschreiblich hübsch, anmutig, sie war die Harmonie selbst, ein Mensch wie keine andere. Sie war wie eine zweite Mutter für mich und er hat sie umgebracht. Es gab wohl eine Zeugin, die schnell weg wollte und den nächstbesten Zug genommen hatte. Der Zug ist explodiert. Alle Passagiere tot. Karahan ist sauer. Ziya amca geht allem aus dem Weg. Er will damit nichts zutun haben. Denn in seinen Augen wird mein Vater nie ein Mörder sein. Cesur amca sieht die Sache anders. Er wollte immer gut bei Karahan und seiner Firma ankommen, er wusste nur nie wie. Erinnerst du dich an die erste Feier, die Cesur arrangiert hatte? Wo der Pianist nicht aufgetaucht war und ich Gülpembe gespielt hatte.«
Ich nickte. Daran erinnerte ich mich gut.
»An diesem Abend war Karahan auch da. Er hat dich wohl kurz gesehen und ist dann zu Cesur gegangen, nachdem die Feier zu Ende war. Er hat gesagt: "Ich nehme deine Entschuldigungsangebot an".
Guck mal, stell dir vor, du verlierst viele Familienmitglieder auf einmal. Der Mörder ist gefunden und der Bruder des Mörders hat eine Angestelltin, die dich an jemanden erinnert, was würdest du denken?«
»Dass der Typ mich verarschen will! Ich wäre sauer. Ich meine, tausend Menschen auf diesem Planeten und er findet gerade eine, die ihr ähnlich aussieht?«
»Das ist es ja!«, ruft Burak. »Das ist krank, ich weiß! Aber ich weiß auch, dass Cesur Karahan angefleht hat, seiner Familie zu verzeihen, als seien wir alle jetzt eine Schande. Und ich weiß, dass Karahan ihm gesagt hat, er solle sich Mühe geben bei seiner Entschuldigung. Jetzt findet Cesur jemanden, der so aussieht wie die Person von seiner Familie und Karahan denkt, es ist eine kreative Entschuldigung.«
»Ich finde das immer noch krank.«
»Ich hab noch nie gesagt, dass Karahan richtig tickt. Ich hab nur gesagt, dass ich seine Frau mochte.«
»Das widert mich an.«
Ich stand auf und klopfte die Erde von meinen Klamotten ab. Burak stand ebenfalls auf. »Am liebsten würde ich das auch sagen. Nur damit ich mir einreden könnte, dass er mir nicht leid tut. Aber wieso soll jemand noch richtig ticken, wenn so viele plötzlich aus seiner Familie sterben? Erst die Eltern, dann der Bruder, die Ehefrau-«
»Ich will nicht die Liste hören«, murmelte ich. So viele Tote auf einmal. So viel Schmerz auf einmal.
»Karahan hatte vorher komische Angewohnheiten. Seine Sekretärin sah aus, wie seine Frau und sein "bester" Mitarbeiter wie sein Bruder. Was sagt dir das?«
»Wollen die jetzt, dass ich dort arbeite und der so tun kann, als sei ich eine andere?«
»Sieht so aus.«
Ich schüttelte den Kopf. Wie verrückt musste man sein? Hass durchströmte mich. Eine Puppe, mehr war ich in deren Augen nun auch wieder nicht.
»Ich kündige nicht«, sagte ich entschlossen. »Wenn Cesur spielen kann, kann ich das auch. Zum Beispiel könnte ich, wenn Karahan wieder da ist, ein Getränk auf ihn schütten und sagen, es sei ein Gruß von Cesur.«
»Misch dich da lieber nicht ein.«
»Wieso?«
»Weil mir Karahan leid tut. Es geht ihm nicht gut und er versucht es mit allen Mitteln zu verbergen. Er lacht, aber innerlich ist er kaputt.«
»Ja, es geht ihm nicht gut!«, stieß ich aus und deutete auf meinen Kopf. »Hier!«
»Du kanntest ihn vorher nicht. Er war ein guter Mensch.«
War.
Ich schüttelte alle weiteren Gedanken zur Seite. »Cesur wird es trotzdem büßen.«
»Damit bin ich einverstanden.«
Ich musste lächeln.
Er lächelte zurück. »Jetzt weiß ich wieder, weshalb ich nicht sauer sein und dich anschreien kann. Ich sehe dich einfach viel lieber beim Lachen zu.«
Bis ich nach Hause kam, passierte nichts mehr und ich war dankbar dafür, dass der Tag danach ausnahmsweise mal ruhig vergangen war.
Neslihan war immer noch nicht nach Hause gekommen.
Das hieß, ich konnte in Ruhe nachdenken. Ich konnte mich entspannen und es genießen, allein zu sein.
In Wirklichkeit aber, genoss ich nur zehn Minuten von der Leere des Hauses.
Einsamkeit schmeckte bitter.
Mein Blick wollte einfach nicht von der Tür weichen. Ich musste sehr viel Selbstbeherrschung dafür aufwenden, Neslihan nicht mit Nachrichten oder Anrufen zu bombardieren, denn einmal wenigstens wollte ich zeigen, dass ich Selbstständig war.
Das Haus war zu groß, zu still, zu farblos.
Ich verkroch mich in mein Bett und versuchte die Augen zu zubekommen. Erfolglos.
Wie ein Kind sprang ich vom Bett, als ich hörte, dass jemand mit dem Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Sie war endlich da.
»Wo warst du?«, fragte ich.
»Büro, es gab etwas Stress in letzter Zeit. Wie war dein Sonntag?«
Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und alles war gegessen. Ich fühlte mich wohl und sicher bei meiner Tante. »Ziemlich okay, ausnahmsweise.«
»Freut mich«, lachte sie und massierte sich dann den Rücken. Währenddessen tanzten ihre Locken. »Ich bin sehr erschöpft. Macht es dir etwas aus, wenn ich mich schon hinlege?«
Ja. »Überhaupt nicht. Schlaf du.«
»Ist wirklich alles okay?«
Sie blickte mich verunsichert an. »Wenn du willst-«
»Wie kommst du darauf? Ich will sowieso auch schon schlafen.«
Meine Tante lief in ihr Zimmer und kurz bevor sie die Tür hinter sich zu machte, sprach ich sie an. »Ach und Neslihan? Ich will nichts mehr hören, dass du vielleicht weg bist. Okay?«
Auf ihr "Okay" wartete ich gar nicht mehr, sondern lief sofort in mein Zimmer. Ich hatte eben panische Angst davor, dass sie meinem "Okay" nicht zustimmen würde.
Die Sonne schien grell gegen mein Gesicht und weckte mich früher als gewohnt. Somit sollte ich eigentlich noch Neslihan erwischen, bevor sie das Haus verließe, aber sie war schon nicht da. Am frühen Morgen schon eine Enttäuschung ins Gesicht geklatscht zu bekommen, fühlte sich hart an.
War sie gestern extra früher schlafen gegangen, um früh aufzustehen? Vermutlich.
Ich reckte mich, nachdem ich mich fertig gemacht hatte. Gerade als ich mein Zimmer dann verlassen wollte, hörte ich, wie kleine Steine auf mein Fenster prallten. Keine Sekunde später öffnete ich das Fenster und spähte hinaus. Ein schief Grinsender Burak sah mich von unten an. Meine Laune hob sich auf Anhieb.
»Schütte ja nicht wieder Wasser auf mich«, warnte er mich.
»Sieht aber so aus, als ob du genau das wollen würdest. Was tust du hier?«
»Komm raus, ich fahre euch zum Restaurant.«
»Und warum tust du das?«
»Vielleicht weil ich da auch seit kurzem arbeite?«
»Ich will noch frühstücken!«
»Wir frühstücken da. Beeil dich. Ecrin wartet auch schon.«
Wieso eigentlich nicht, dachte ich und nickte stumm. Kaum hatte ich das Fenster geschlossen, lief ich schon aus dem Apartment. Draußen wartete Burak, an seinem Wagen angelehnt.
»Ach, Ecrin wartet also?«, sagte ich, als ich sie nirgends sah.
»Anders kriegt man dich ja nicht auf die Beine.«
Seine Laune konnte man nicht vermiesen.
»Bin schon da«, hörte ich Ecrins Stimme da von hinten. Ich stieg hinten ein, damit sie sich nach vorn setzte, was sie nicht tat. Stattdessen hatte sie sich zu mich gesetzt und mir ein breites Lächeln geschenkt.
Stimmt ja. Ich hatte noch Ecrin und mein Gefühl sagte mir, ich konnte ihr vertrauen. Sie würde mich nicht allein lassen. Kaum zu glauben, dass sie das geschafft hatte.
Ich würde sie nicht allein lassen.
Ich würde niemanden mehr loslassen.
Weder Neslihan, noch Ecrin oder sonst wen.
Den ganzen Weg schwieg ich und hörte den beiden zu. Ihre unbeschwerte Art gefiel mir und ich fragte mich, ob man wirklich so wenig brauchte, um glücklich zu sein.
Burak schloss das Restaurant auf. Wir waren also die ersten, die es betraten. Kaum waren wir auch schon da, bereiteten wir uns ein kleines Frühstück vor.
»Wie kommen wir überhaupt zu dieser Ehre?«, fragte Ecrin, als wir uns hingesetzt hatten. »Der wunderbare Burak will mit uns etwas essen.«
»Ich wurde dazu motiviert«, antwortete er und betrachte mich vom Augenwinkel. Ich beachtete seinen Blick nicht und begann zu essen.
Frühstück war meine große Liebe.
Beim Frühstück waren die beiden wieder lebensfroh, ich eher still, wie immer. Das machte mir aber nichts aus.
»Ich gehe mal für kleine Mädchen«, meinte Ecrin irgendwann und lief in die Damentoilette.
»Vielleicht«, setzte Burak an, hatte nun nicht mehr sein Grinsen im Gesicht, sondern eine ernste Miene. »Vielleicht könnte es auch sein, dass Karahan will, dass du seinen engsten Arbeiter heiratest oder mit ihm zusammen kommst, um dir nahe zu kommen und so zu tun, als seist du seine Verwandte.«
»Seinen engsten Arbeiter? Klingt das nicht eher unwahrscheinlich?«
Nahezu lächerlich, wollte ich sagen, unterdrückte es aber.
Burak schüttelte den Kopf. »Hätte ich gestern auch nicht gedacht, bis ich herausgefunden habe, dass sein engster Arbeiter ständig hier ist.«
»Und wer soll das sein?«
»Lianas Freund. Kaan.«
Ecrin war da wieder gekommen und so beendeten wir das Thema. Wir räumten den Tisch ab und langsam kamen der Rest der Angestellten. Ich hatte das Gefühl, dass Kaan heute wieder kommen würde, was er nicht tat. Als ich Liana nach ihm fragte, zuckte sie zusammen, erklärte mir aber, dass er etwas zutun hatte.
»Burak, wieso hilfst du mir überhaupt?«, stellte ich ihm die Frage, als ich wieder eine gute Gelegenheit bekam. Das Restaurant war heute fast voll und es schien nicht so, als würde es sich bald ändern.
»Wieso?«, fragte ich wieder aufdringlich. Ich wusste nicht recht, ob ich ihm vertrauen konnte. Ob er mich anlog. Ob er mein Vertrauen gewinnen und dann mich von hinten angreifen würde. Das wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand verletzten würde, der mir nahe stand.
»Wieso?«, wiederholte er verwirrt und schien nachzudenken. »Das ist ganz einfach. Wenn du mich hasst, wenn du mich verurteilst, dann tust du das wegen mir, wegen meinem Verhalten, nicht wegen meines Vaters, wegen Cesur oder sonst irgendwen.«
»Ist das nicht selbstverständlich?«
»Deshalb tue ich es. Deshalb helfe ich dir. Weil du es als selbstverständlich siehst, mich als eigene Person zu sehen, während andere mich schon beim ersten Anblick verurteilen.«
Nach unserer Schicht hatte Burak wieder darauf bestanden, mich und Ecrin nach Hause zu fahren.
»Ich hole nur noch mein Armband, hab es drin vergessen«, schlug ich mir auf die Stirn. Ecrin und Burak saßen im Wagen.
»Ihr könnt schon fahren, wenn ihr wollt, ich-«
»Aslı, saçmalama (Spinn nicht)«, unterbrach mich Burak und sah mich ernst an. Ich lief schnell weder zurück ins Restaurant, weil ich es hasste, jemanden warten zu lassen.
Meine Schritte hallten auf dem Boden, als ich die Treppen hochstieg. Das Restaurant war immer noch voll. Es war nun länger auf, weshalb noch neue Kräfte gesucht wurden.
Auf dem Tisch des Personalzimmers stand ein Laptop und darüber folgende Nachricht: "Sieh es dir an oder ich zeige es allen auf einer wundervollen Leinwand.
Kaan.
PS. Das Passwort: ich nenne dich so."
Eigentlich sollte ich gehen. Ich sollte mir dieses verdammte Teil nicht ansehen, aber was konnte denn darauf sein, dass er es allen zeigen wollte?
Ich klappte das Laptop auf und eine Aufforderung, das Passwort einzugeben, erschien. Mit zusammengebissenen Zähnen tippte ich "kleinediva" ein und drückte auf "Enter". Wie ich es hasste, dass er mich so nannte.
Ein Video erschien.
Ich drehte die Lautstärke vorher schon so ein, dass nur ich es hören konnte.
Das Video startete, während ich überlegte, es doch sein zu lassen.
...
"Verpiss dich von hier!", rief die jugendliche Neslihan darauf und schmiss meine Mutter auf den kalten Asphalt. Meine Mutter knallte hart auf den Boden und starte ihre Schwester verzweifelt an.
»Ich will dich hier nicht wiedersehen, Behrem«, stieß Neslihan hervor und sah sie zornig an. "
...
Ich drückte auf "Pause".
Das konnte nicht wahr sein.
Nein.
Das war nie passiert.
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