Kapitel 32
Wiegenlied
Kapitel 32
Neslihan schenkte mir ein kurzes Lächeln. In diesem Moment merkte ich erst, dass sie gar nicht richtig glücklich war. Sie tat nur so als ob. »Ist nur eine Adresse vom Büro, soll ich sie dir zeigen?«
Sie holte den Zettel wieder heraus und zeigte mir den Inhalt. Es war eine Adresse, wie sie es gesagt hatte und mehr nicht. In Neslihans Augen spiegelte sich Einsamkeit. Sie sagte immer, ich solle Freunde finden und anderen vertrauen, aber in Wahrheit tat sie doch dasselbe.
»Neslihan, wieso hast du nie geheiratet?«, fragte ich sie.
»Wie kommst du denn jetzt aufs Heiraten? Ist unsere Aslı verliebt?«
»Ganz bestimmt nicht. Und jetzt komm nicht immer von dir auf mich.«
Sie machte kurz ein nachdenkliches Gesicht. »Männer stehen nicht so auf Frauen, die mehr verdienen als sie. Außerdem ist das Lebensglück kein Mann. Ich glaube nicht, dass alles besser werden muss, nur weil ein Mann an deiner Seite ist.«
Das war es eben nicht. Ich war mir sicher, dass es wegen mir war. Sie war so sehr damit beschäftigt, mich zu beschützen, dass sie nicht einmal auf sich selbst achtete. Immer- alles- all unsere Gespräche gingen auf mich zurück.
»Ich hab gar keinen Appetit«, nuschelte ich voller Gewissensbisse und stand auf.
»Hm, ich hatte Nudeln bestellt«, gab sie von sich.
»Ich kann sie ja später essen.«
Ich lief aus dem Raum und fühlte, wie die Schuldgefühle mich erdrücken.
Vielleicht war ich es ja. Ihr Mörder.
Konnte man wohl so sagen, so viel hatte ich von ihrem Leben gestohlen.
Ich stieg in die Dusche und drehte das heiße Wasser auf. Es brannte auf meine Haut, ließ meine Glieder entspannen und lockerte. Jedoch änderte das nicht viel an meiner Stimmung. Mein Inneres war verwirrt, klein und hilflos.
Während ich versuchte, Neslihan aus meinen Gedanken zu verbannen, drängte sich Burak in meinen Kopf. Warum gerade jetzt, dachte ich im Stillen. Ich verstand diesen Jungen nicht. Mal tat er so, als wolle er mir helfen, Mal verschwieg er mir so viel, als würde er mich ausnutzen. Wahrscheinlich machte er sich lustig über mich. Vielleicht steckte er ja mit Cesur unter einer Decke.
"Du weißt, dass ich das nicht zulassen werde, oder?", sprach er in meinem Kopf. Konnte er es überhaupt verhindern?
Ich musste so bald wie möglich mich mit Ziya treffen und die Wahrheit erfahren. Zu aller erst mussten all diese Fragen aus meinem Kopf. Nur wie?
Sagen wir, die Sache mit Cesur wurde geklärt, wie würde ich das mit Neslihan rauskriegen?
"Du schuldest mir einen Tanz, Aslı Evren", erschien wieder Buraks Stimme. Lügner. Ich war auch noch so dumm, ihm zu vertrauen. Wie konnte ich nur dafür sorgen, dass er so weit in mein Leben hineinkam? Wie konnte ich es nicht aufhalten, dass er so in meinen Gedanken festsaß?
Wütend stieg ich aus der Dusche.
Der nächste Morgen war wie eine Rettung für mich. Es war Freitag und das hieß, dass ich morgen Buraks Gesicht nicht ertragen musste. Ich nahm mir vor, es zu genießen.
Neslihan stand in der Küche und schnitt gerade eine Tomate.
»Du bereitest Essen vor?«, fragte ich, meinen Augen zweifelnd.
»Ich kann ja wohl noch etwas schneiden. So dumm bin ich nun auch nicht.«
»Ich wünsche dir dann viel Spaß beim Essen, ich muss los.«
»Nein! Du isst jetzt etwas! Seit Tagen hast du nie Apetit, das geht nicht!«
»Ecrin wartet!«, protestierte ich schnell und lief aus dem Haus. Ich hatte wirklich keinen Hunger.
Wir fuhren zum Restaurant wie gewohnt und ich entdeckte auf den ersten Blick, dass Kaan an seinem Stammplatz saß. Hatte der Typ nichts zutun? Ich musste an Liana denken. Sie war ja mit ihm zusammen und kannte ihn erst einige Tage. Konnte es sein, dass er sie ausnutzte, um hier spionieren zu können?
Ich nahm eine weitere Bestellung und servierte sie dann. Dabei begegnete ich auf Liana und ich konnte es mir nicht verkneifen, zu reden. Wenigstens warnen musste ich sie.
»Liana, ich hab ein ungutes Gefühl bei Kaan und bevor du jetzt sagst, dass es mir nur so vorkommt, denk bitte einmal nach. Der Junge kennt dich erst einige Tage und hat sich in dich verliebt. Jetzt lässt er dich keine Sekunde aus den Augen, nicht nur dich. Ich will die nicht einreden, du sollst ihn verlassen. Dazu hab ich kein Recht, aber pass auf und denk mal darüber nach. In der Feier von Cesur hatte Cesur geplant, dass Ecrin mit Mahmud tanzt, weil er auf sie steht. Ich sollte auch mit jemandem tanzen und du mit Kaan. Was ist das denn für ein Zufall?«
Mit den Worten war ich schon weg. Ich bemerkte jedoch, dass sie sich wirklich intensiv Gedanken machte. Gut so.
Kaan beäugte mich auch ständig.
Was er konnte, konnte ich schon lange. Ich würde herausfinden, wer er war und was er vorhatte. Bevor er irgendetwas über mich erfahren konnte. Vielleicht sollte ich Fatih fragen. Er war schließlich ein ziemlich guter Stalker.
»Wer ist überhaupt dieser Kaan?«, fragte ich Ecrin, als wir Pause hatten. »Ich meine, was hatte der in dieser Feier von Cesur zu suchen?«
»Kennst du dir Karahan-Firma?«
Anscheinend kannte sie alle. Nur ich wurde nur gestern auf sie aufmerksam gemacht. Immer als letzte.
Ich nickte.
»Also«, begann Ecrin. »Cesur will sich sozusagen bei dieser Firma einschleimen und Herr Karahan, der Chef dieser Firma konnte nicht kommen, angeblich, wenn du mich fragst. Auf jeden Fall hat er deshalb seine rechte Hand Kaan geschickt. Er war sozusagen seine Vertretung.«
»Achso«, nuschelte ich und verstand nun ein winziges Stückchen mehr. Cesur wollte mich, tanzend mit Burak, Karahan präsentieren. Also wollte Karahan wissen, wer ich war. Oder so ähnlich.
Nach Ende meiner Schicht rief ich Ziya an. Er nahm nur nicht ab. Immer und immer wieder sprach der Anrufbeantwortet. Scheiße, da hatte ich umsonst gesagt, dass Ecrin fahren sollte.
»Hallo, Ziya, ich bin Aslı. Das ist meine Nummer. Ich würde mich freuen, wenn du mich anrufen könntest, wenn du Zeit hast. Danke«, sprach ich nach dem Piepen.
»Er wird nie Zeit haben«, lachte Burak hinter mir. »Er ist sehr beschäftigt.«
Ich ließ mein Handy in meine Hosentasche fallen und sah ihn wütend an. »Warum tust du das, Burak? Warum machst du es mir so schwer, verdammt? Was erreichst du damit? Willst du mich wahnsinnig machen, quälen, demütigen?«
»Es ist besser so.«
»Es ist besser so!«, sprach ich ihm lachend nach. »Mal tust du so, als würdest du mir helfen wollen und dann zeigst du wieder, dass alles gespielt war!«
Unerwartet drückte er mich da gegen die Wand und sein Gesichtsausdruck wurde ernster denn je. Ich war wie gelähmt und konnte alles kaum realisieren. Es kam so schnell. »Du tust mir weh«, zischte ich und versuchte meine Arme zu befreien, die von ihm an dir Wand gedrückt wurden.
»Halt den Mund«, raunte er und zu meiner Überraschung schwieg ich.
»Aslı, was glaubst du, warum ich angefangen habe, hier zu arbeiten? Weil ich Geld nötig habe? Weil ich meinen Job verloren habe? Im Normalfall wäre das der letzte Ort, an dem ich arbeiten wollen würde, aber du warst ja wieder so stur und wolltest nicht kündigen. Glaubst du, ich lasse es zu, dass Cesur wieder versucht, dich für seine Zwecke zu benutzen?«
Ich starrte ihn mit verblüfften Augen an. Ein Teil von mir wollte mich ohrfeigen, damit ich ihm nicht glaubte. »Du willst mir doch nicht sagen, dass du mich beschützen willst.«
»Genau das will ich dir sagen.«
»Brauchst du nicht! Ich komme ganz gut allein zurecht! Auf deine Hilfe bin ich nicht angewiesen und jetzt lass mich los!«
Burak hielt mich noch fester. »Was soll ich tun, damit du mir glaubst? Soll ich auf den Knien rutschen, oder was?«
Er lockerte seinen Griff und ließ mich schließlich los. »Es hat keinen Sinn.«
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. »Lass mich in Ruhe, okay?«
Mit den Worten verließ ich eilig das Restaurant. Meine Augen waren fast glasig geworden. Mein Herz raste. Wieso musste er sich so anstellen? Wieso ließ er mich nicht in Ruhe?
Ich konnte allein entscheiden, was gut für mich war und was nicht.
Ich nahm den ersten Bus und fuhr damit nach Hause. Mein Kopf pochte. Zu Hause würde ich auf jeden Fall eine Tablette nehmen. Als ich aus dem Bus ausstieg, erblickte ich Neslihan auf der anderen Straßenseite. Sie hatte mich nicht gesehen, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, in die entgegengesetzte Richtung von mir zu eilen. Wo wollte sie denn hin?
Ich lief ihr hinterher, bis sie in ein Taxi stieg und hinter dem Horizont verschwand. Wäre ich in einem Film, wäre ich auch in ein Taxi gestiegen und wäre ihr gefolgt, aber da es hier eine ruhige Gegend war und keine Großstadt, musste man ein Taxi bestellen und das würde eben dauern. Keine Sekunde später, nachdem Neslihan nicht mehr zu sehen war, düste ein schwarzer Wagen ihr nach. Und in diesem Wagen saß Kaan. Verdammt.
Ich riss mein Handy aus meiner Hosenasche und wählte mich pulsierendem Herz die Nummer von Neslihan. Egal, was sie trieb, Kaan sollte es nicht erfahren.
»Neslihan, wo bist du?«, fragte ich, als sie abnahm.
»Einkaufen.«
Sie log. Aber das war mir egal. »Neslihan, kommst du sofort nach Hause, es ist sehr dringend.«
»Schatz, kann das nicht warten?«
»Nein! Kehr sofort zurück! Sofort! Es- es geht um-« okay, worum sollte es gehen? Ich konnte kaum nachdenken. »Ich erkläre es dir zu Hause. Komm bitte so schnell du kannst.«
»Okay, bin in fünf Minuten da.«
Ich lief nach Hause und suchte eine gute Ausrede, aber der Zeitdruck lieferte mir keine gute Antwort. Ich lief zum Wohnzimmer, in mein Zimmer und ständig wieder in die Küche, weil ich so hektisch war. Ungeahnt sah ich wieder den Zettel von gestern auf der Theke. Neslihan hatte die Adresse wohl dort liegen lassen, dachte ich als ich ihn in meine Hand nahm. Auf der Vorderseite stand wie eh und je die Adresse drauf und auf der Rückseite stand ein Datum und eine Uhrzeit. Es war der morgige Samstag und die Uhrzeit war 15:00 Uhr.
Irgendwie kam mir die Adresse bekannt vor, ich drehte den Zettel noch einmal um, als könnte es eine fehlende dritte Seite geben.
Ich wurde neugierig und genervt. Es war also nicht nur irgendeine Adresse.
Es war ein Treffen.
Ich hörte, wie Neslihan die Tür aufschloss und steckte den Zettel hastig in meine Hosentasche.
»Was war denn so wichtig, Aslı, ist alles okay?«, sprach sie außer Atem. Wahrscheinlich war sie hierher gerannt.
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Danke für die 1K Votes. Ich bin echt so glücklich darüber, dass ich es nicht in Worte fassen kann!
Danke auch an alle Kommentare ❤️
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