~5~
Ich fühlte meinen Puls, er war viel zu schnell und mein Herzschlag war wahrscheinlich viel zu langsam. Mein Atem erfolgte unregelmäßig, oder...nein er erfolgte gar nicht. Ich hielt immer noch die Luft an. Oh man, wie lange konnte ich das denn bitte? Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier unten lag, ich wusste nicht, wie viel Zeit noch war, bis die Bombe explodieren würde. Ich wusste noch nicht einmal, ob mein anderes Ich in meiner Nähe war. Ich wusste gerade gar nichts mehr. Wusste nicht mehr, wer ich war, wusste nicht mehr wo ich war und bei wem ich war und wusste nicht mehr, wie ich in diese Lage gekommen war.
Mit letzter Kraft öffnete ich die Augen. Ich wusste nicht, warum, vermutlich, um wenigstens einen groben Eindruck von dem Ort zu bekommen, an dem ich in ein paar Minuten sterben würde. Ich bewegte die Augenlider, sie klebten an meinem Unterlid und ich schüttelte mich. Verdammt, ich hatte das alles doch schon mal erlebt, warum dann jetzt noch einmal? Wahrscheinlich hatte Maria es nicht mehr geschafft, mich zu retten und ich lag jetzt im Krankenhaus auf der Intensivstation im Koma, wenn ich nicht schon gestorben war. Vielleicht war das ja das, wovon alle Leute sprachen, was passiert, wenn man in den Himmel kam. Man erlebt seinen Todesgrund noch einmal, nur ein kleines bisschen anders.
Ich rieb mit der Handoberfläche über meine Augen, um den Klebstoff darauf zu beseitigen. Anschließend öffnete ich sie ein zweites Mal und konnte verschwommen ein paar braune Flecken sehen. Moment, da war doch auch etwas Hellbraunes, ne, es war gelb. Gelb?! Moment mal, war das vielleicht Licht? Ein kleiner Hoffnungsschimmer leuchtete in mir auf, war da vielleicht doch ein Ausweg? Ich bewegte mich auf das gelbe Etwas zu, robbte über den Boden. Meine Lunge schmerzte, ich brauchte dringendst Sauerstoff. Ich bewegte mich weiter, versuchte so wenig Körpergewicht auf die Lunge zu lenken und ignorierte den stechenden Schmerz. Verdammt, wo war das andere Ich, ich musste es unbedingt mit nach draußen nehmen. Ich zog mich weiter über den rauen Untergrund und musste mich beherrschen, um meine Lider offen zu halten. Ich drückte mich immer weiter, plötzlich stieß ich gegen etwas und nach kurzem Ertasten erkannte ich mein anderes Ich in dem Gegenstand. Ich fühlte nach der eiskalten Hand, die da auf dem Grund lag. Sie war steinhart und noch viel kälter, als eiskalt. Ich hob sie an und legte sie um meine Schultern, ich musste es schaffen, ich musste es einfach nur schaffen. Ich krabbelte mit mir im Schlepptau den Grund entlang. Verdammt, es war noch so weit weg, ich würde es nicht schaffen. Ich konnte nicht mehr, das Bedürfnis, Sauerstoff in die Lungen zu pusten, wurde einfach zu groß, ich würde es nicht schaffen. Allerdings wollte ich noch immer nicht aufgeben, ich kämpfte mich immer weiter nach vorn, gab nicht auf. Und kämpfte weiter, gab immer noch nicht auf, sah Sterne am Himmel tanzen, konnte ab und zu etwas Wasser erahnen, das Licht, was in kleinen Schritten immer näherkam. Es kam näher, entfernte sich wieder, kam wieder näher und verschwand plötzlich komplett. Ich geriet in Panik, wo war das Licht hin? War es etwa verschwunden? Egal, einfach weiter, immer weiter.
Das Licht verschwand, wurde wieder sichtbar, verschwand, es war wie ein Blinken, das niemand wirklich aushalten kann. Es blinkte, blinkte immer wieder. Jetzt kam wieder dieses dämliche Piepen dazu. Es dröhnte in den Ohren, wie der Gesang eines untalentierten Opern-Sängers. Jetzt wurde alles schwarz. Piep. Blink. Das kann doch kein Mensch aushalten.
Auf einmal lag ich wieder im Bett, diese weiche Bettwäsche war etwas zu weich für meinen Geschmack. Sie war einfach zu weich und dann doch zu hart. Keine Ahnung, aber sie war einfach anders, als die Bettwäsche zu Hause. Zu Hause? Was für ein zu Hause? Sollte ich die Augen öffnen, das Blinken und Piepen hatte aufgehört und das Wasser spürte ich auch nicht mehr, warum sollte auf meinem Bett auch Wasser sein? Auch wenn sich meine Augenlider schon wieder so verklebt anfühlten, öffnete ich sie ein paar Sekunden später. Zunächst konnte ich nur verschwommene Farbenbilder erkennen, weiße und blaue und graue. Ich hörte nichts. Kein Rauschen, gar nichts! War ich taub? Verdammt nochmal, war ich jetzt wirklich taub? Das Bild wurde schärfer, verschwamm wieder. Ich kniff die Augen zusammen, machte das Bild wieder schärfer und erkannte schließlich einen Mann in weißem Kittel, der anscheinend der Arzt im Raum war. Aber da stand doch noch jemand, mit blauem Oberteil, das hatte ich schon mal gesehen. Meine Mutter. Meine Mutter? Was machte meine Mutter denn hier? Ach ja, jetzt kamen meine Erinnerungen wieder zurück. Ich hatte mich mit Mum unterhalten, sie hatte sich geändert, sie hatte mir sogar erlaubt, das Tanzen am Trapez zu lernen. Ich lächelte, aber verdammt, ich hörte immer noch nichts. War ich jetzt wirklich taub? Mein Herz pochte wie verrückt, es müsste eigentlich jeden Augenblick aus meiner Brust springen. Ich wollte nicht taub sein, war es denn so schwer, meinem Leben mal zu sagen, dass es mich nicht immer nur durch den Dreck ziehen sollte? Ich wollte zwar immer Gebärdensprache lernen, ich hatte mal das Alphabet durch meine beste Freundin gelernt. Ihre kleine Schwester war von Geburt an taub. Ich fand das immer interessant, wenn sie sich miteinander unterhielten. Die ganzen Zeichen, manchmal musste man sich die Finger auch wirklich verrenken. Ich beneidete sie dafür, wie sie sich diese Zeichensprache merken konnte.
Auf jeden Fall hatte ich mir immer gewünscht, Gebärdensprache sprechen zu können. Und nun musste ich sie wahrscheinlich unter nicht so tollen Bedingungen lernen. Na super! Da wäre ich lieber noch länger unter Wasser geblieben, als jetzt taub zu sein. Erst jetzt bemerkte ich die vielen Schläuche und die Maschine mit dem Bildschirm neben mir. Ich lag auf der Intensivstation und saß wohl erstmal auch hier fest. Eine stumme Träne rollte meine Wange hinunter, ich war taub, war mit Schläuchen an eine Maschine gebunden, was sollte denn jetzt noch passieren? Der Arzt schaute in meine Richtung, er bewegte die Lippen, er sprach irgendetwas. Aber ohne Ton, er bewegte einfach nur die Lippen. Also wahrscheinlich redete er ganz normal, nur ich hörte ihn nicht, ich hörte gar nichts. Liebend gerne würde ich jetzt das ständige Piepen hören, ich würde es auch noch eine ganze Nacht aushalten, wenn ich nur etwas hören könnte. Die nächste Träne tropfte auf mein Kopfkissen, dann die nächste und dann noch eine und noch eine, ich weinte still vor mich hin und flüsterte, zumindest dachte ich, dass ich flüsterte: „Ich höre sie nicht, bin ich jetzt für immer taub?" Der Arzt kritzelte noch etwas auf ein Blatt Papier und legte dann eine Hand auf meine Schulter. Ich schaute ihn entsetzt an. Jetzt würde das Übliche kommen, Trösten und unnötig Hoffnung machen. Ich hatte wahrscheinlich zu viele Krankenhaus-Serien geschaut. Es war ja sowieso alles, wie in einem schrecklichen Film. Und ich die Hauptdarstellerin mit Schläuchen und ohne Gehör. Der Mann nahm sein Tablet in die Hand und tippte wie verrückt darauf herum. Er lächelte mir immer wieder zu, na super. Was sollte das denn heißen? Schließlich, es kam mir wie nach einer Ewigkeit vor, drehte er das Gerät um und hielt mir den Bildschirm so hin, dass ich ihn sehen und den Text darauf lesen konnte. Dort stand in großen klaren Buchstaben: Wir mussten Sie operieren, da es Komplikationen gab. Komplikationen, welche denn? Und warum siezte er mich überhaupt? Auf das Schlimmste gefasst, las ich weiter: Die OP verlief ganz gut, allerdings mussten wir dabei ziemlich nah an Ihrem Hörnerv hantieren und es könnte sein, dass dieser nun beschädigt ist, aber Ihr Gehör kann sich auch wieder zurückbilden, das muss noch nichts heißen. Na wunderbar, was sollte ich denn jetzt glauben? Ich gab dem Arzt das Tablet zurück und nickte. Hastig wischte ich eine Träne von meiner Wange. Der Arzt verließ den Raum und meine Mutter trat zu mir ans Bett. Ich versuchte mich zu bewegen und zuckte zusammen. Ein stechendes Ziehen zog durch meinen Rücken und meinem Bein ging es auch nicht viel besser. Ich hatte Kopfschmerzen, die nicht schlimmer hätten sein können. Meine Mutter hielt mich an der Schulter fest und drückte mich leicht auf die Matratze. Sie lächelte, ich suchte nach ihrer Hand und sie drückte meine. Ich schmieg mich an ihren Arm und weinte. Sie drückte mich an ihren Körper und strich über meinen Kopf. Ganz anders, wie ich sie kannte. Aber im Moment veränderte sich ja sowieso alles. Es war schon irre komisch, mich nicht selbst weinen zu hören oder generell keine Geräusche zu hören, kein Rauschen, gar nichts. Aber wenn ich mal so überlege, ist es eigentlich gar nicht so schlimm taub zu sein, auch wenn es natürlich ungewohnt ist, aber trotzdem... Ich legte mich wieder auf mein Kopfkissen und starrte die Decke an. Ich würde Gebärdensprache lernen und vielleicht endlich Lippen ablesen können. Vielleicht könnte ich auch ein Hörgerät bekommen, das mein Gehör wenigstens ein kleines bisschen verbessern würde. Es würde bestimmt spannend werden. Ich grinste über mich selbst, ich hatte wirklich immer das Talent, alles positiv zu sehen. Mum schaute mich verwirrt an und grinste dann aber auch. Wirklich unglaublich, dass sie mir erlaubt hatte auf dem Trapez zu turnen. Das würde ich ihr nie vergessen. Ich schaute auf den Bildschirm neben mir und erschrak, auf dem Bildschirm stand in roten Großbuchstaben WARNING. Das stand in Filmen immer nur da, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Vermutlich war etwas nicht in Ordnung. Wäre ich nicht taub, hätte ich jetzt wahrscheinlich ein Piepen gehört. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber klappte ihn erschöpft wieder zu. Meine Augenlider wurden schwer, ich musste sie schließen, es wurde wieder mal alles schwarz. Und als ich gerade dachte, ich wäre jetzt auch blind, tauchte plötzlich ein Zirkuszelt auf. Ich saß innen auf einem der Zuschauerbänke, allein, kein anderer Besucher war zu sehen. In der Manege stand ein kleines Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen. Sie hatte ein wunderschönes Kostüm an. Ein silbernes Glitzeroberteil und eine goldene Hose. Das hört sich jetzt vielleicht nicht so besonders an, aber es stand ihr wirklich ausgezeichnet, mit ihren Haaren und dem Funkeln, das von der Kleidung ausging. Sie sah wunderschön aus. Und das Beste, über ihr hing ein Trapez. Mit geübten Griffen schwang sie sich auf die Holzstange und wirbelte um sie herum, dass man hätte meinen müssen, sie würde jeden Moment herunterfallen. Doch das tat sie nicht, sie schlug eine Rolle nach der nächsten, drehte sich herum und stand auf einmal. Es war wie eine Privatvorstellung und ich hatte das irre Gefühl, sowas auch zu können. Natürlich nur mit etwas Übung, aber ich würde es auch hinbekommen. Sie schaukelte weiter, drehte sich wieder im Kreis und hing wenig später kopfüber an der Stange. Es sah so traumhaft und so leicht aus, was es aber definitiv nicht war. Das hatte ich ja bei Maria im Keller bereits schon gemerkt. Das Zirkuszelt wurde grau, immer dunkler. Aber ich wollte doch noch weiter zuschauen, dem rothaarigen Mädchen weiter meine Aufmerksamkeit schenken. Aber es wurde schwarz und immer schwärzer, wie ich das Gefühl hatte. Wo kam denn jetzt auf einmal das helle Licht her? Und warum piepte es jetzt schon wieder, zwar nur ganz leise und irgendwie auch nur auf der rechten Seite, aber immerhin. Moment mal, es piepte? Es piepte und ich konnte es hören? Ein Grinsen stahl sich in mein Gesicht. Die Ärzte hatten da irgendwas rumgewurschtelt und ich hatte mein halbes Gehör wieder? Ich blinzelte, anscheinend war ich wieder im Krankenhaus gelandet. Weiß, grün, blau, wie ich diese Farben mittlerweile hasste. Ich sah das verschwommene Gesicht meiner Mutter. Sie lächelte, hinter ihr, mein Vater und mein Bruder lächelten auch, sie kamen zu mir und schlossen mich in ihre Arme. Und ab diesem Moment war alles für mich gesagt. Ich würde durchkommen, sonst würden sie bestimmt nicht lächeln. Und Maria würde es auch schaffen, wo auch immer sie gerade war. Sie hatten verstanden, was mich immer so bedrückte. Sie waren darüber hinweggekommen und mein Bruder würde seine Kopfhörer nicht mehr verstecken, nur um mir dann die Schuld dafür zu geben. Alles würde wieder etwas besser laufen und ich hätte vielleicht endlich mal wieder Spaß am Leben. Spaß! Ein Fremdwort! Aber ein schönes Fremdwort!
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