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Wir versuchten unsere Fesseln zu lösen, sie an der rauen Wand aufzuschaben, was allerdings nicht wirklich funktionierte. Wie fest hatten diese Hallunken die eigentlich gebunden? Meine Hände waren bestimmt schon von Druckstellen und Einschneidungen bedeckt. Sie schmerzten undurchdringlich, sodass ich fast denken musste, sie würden bald abfallen.
Dort in der Ecke lag ein Stein oder sowas. Nein, eher eine Scherbe. Warum lag hier unten bitte eine Scherbe? Eine Glasscherbe? Naja, egal. Sie lag ca. 2 Meter von meiner linken Hand entfernt. Ich streckte sie so weit wie möglich nach links und griff nach dem spitzen Gegenstand. Nach einiger Zeit hatte ich die Scherbe in der Hand und rieb damit an dem Seil, bis es sich löste und ich die Fesseln abschütteln konnte. Ich schüttelte meine Handgelenke und stand auf. Ich lächelte Maria an und löste ebenfalls den Knoten um ihre Handgelenke. Anschließend nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her, in die Ecke des Raumes. Mittlerweile wusste ich, dass es nur ein Raum war, hier unten. Nach einer Weile blieb sie stehen und zog an einem Seil, dass von der Decke hing. Ein paar Sekunden später fiel eine Holzstange an zwei Seilen von der Decke und blieb ein paar Meter über dem Boden hängen. Ohne zu zögern kletterte Maria auf die Stange und fing an zu schwingen. Sie hing sich mit den Beinen an die Stange, holte Schwung, zog sich hoch, drehte sich einmal und hing wenig später andersrum an dem Sportgerät. Sie machte auch noch sämtliche Drehungen und Hebefiguren an der Stange und saß am Ende ganz entspannt auf dem Holz. Das alles sah so wunderschön perfekt aus, ich hatte gar nicht bemerkt, dass mir der Mund aufgeklappt war.
„Bitte schließ den Mund wieder, das musste ich mir oft genug im Zirkus ansehen." Sie lächelte. Ich klappte den Mund wieder zu und lächelte zurück.
„Diese Rolle ist eigentlich gar nicht so schwer. Würdest du auch hinkriegen, denk ich."
„Echt?" Ich schaute sie mit großen Augen an. Sie nickte und gab mir ein Zeichen, mich auf die Stange zu setzen. Ich ging auf die Holzschaukel zu, drückte mich hoch und ließ mich auf dem Holz nieder.
„Und jetzt lässt du dich einfach nur nach hinten fallen, ich halte dich, falls du runterfällst."
Ohne lange zu zögern, ließ ich mich nach hinten fallen und ließ die Hände los. Diese Übung hatten wir in der Schule immer Fledermaus genannt. Allerdings hatten wir es dort an einer festen Stange gemacht. Das hier war jetzt schon ziemlich wackelig.
„Und jetzt zieh dich hoch, ich drück dich nach oben, aber rückwärts, als würdest du eine Brücke machen."
Brücke, Brücke hatte ich in der Schule schon nie hinbekommen, wie sollte ich das denn jetzt an diesem Wackelpudding machen? So gut wie es ging drückte ich meinen Rücken durch und machte ein Hohlkreuz. Doch plötzlich spürte ich ein kräftiges Ziehen im Rücken. Aus Reflex ließ ich die Beine los und verzog schmerzverzehrt das Gesicht. Ich rutschte von der Stange und Maria ließ mich langsam auf den Boden.
„Alles in Ordnung?" Ich schüttelte den Kopf.
„Ans Trapez sollte ich wohl nicht mehr gehen, mein Rücken hat wohl doch mehr abgekriegt, als ich dachte." Mein Fuß hat mich ausnahmsweise mal in Ruhe gelassen. Wirklich stark belasten konnte ich ihn allerdings nicht.
„Setz dich erstmal." Langsam ließ ich mich an der Wand hinabrutschen. Jetzt wollte ich so gerne mal etwas ausprobieren und dann sowas. Ich sag doch, mein Leben bestand nur aus Pech, Pech und noch mal Pech. Ich zog die Nase hoch, kniff die Augen zusammen und konnte trotz allem die Tränen, die meine Wangen feucht machten, nicht zurückhalten. Warum muss alles eigentlich immer so unfair sein? Ich bekomme immer alles ab, auch in der Schule. Wenn ich mich nicht melde, nehmen die Lehrer mich dran und ich weiß die Antwort natürlich nicht. Und wenn ich mich melde, übersehen sie mich und tun so, als würde ich nicht existieren. Es ist einfach alles so verdammt unfair! Alles, einfach alles war gegen mich. Ich merkte, wie die Tränen einfach meine Wangen hinunterliefen, wie sich Marias Arm auf meine Schultern legte und sie mich an sich drückte. Ich brauchte gar nichts zu sagen, sie verstand auch so, worüber ich mich so aufregte und auch gleichzeitig so traurig war. Ich weinte in ihren Armen, ließ die Tränen einfach laufen und Maria tröstete mich, wie mich noch nie jemand getröstet hatte. Meine Mutter hatte es nie für nötig gehalten, mich in den Arm zu nehmen und mein Vater war immer zu feige gewesen es vor meiner Mutter zu tun. Meinen Bruder konnte man sowieso vergessen, der bekam immer, was er wollte und ich konnte selbst gucken, wie ich klarkam. Alle waren gegen mich und hassten mich einfach nur, bis auf Maria und vielleicht meiner besten Freundin und Dad, aber sonst gab es keinen Menschen auf der Welt, der auch nur ein kleines bisschen Zuneigung zu mir zeigte. Eventuell meine Oma noch, aber die hatte sich ziemlich zurückgezogen in den letzten Monaten und sie redete kein bisschen mehr mit mir. Ich versuchte tapfer zu sein, aber jetzt konnte ich einfach meinen ganzen Kummer und Frust, den ich schon sehr lange mit mir rumschleppte, rauslassen.
„Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du zu mir fährst und hier in alles mit reingezogen wirst. Es ist alles meine Schuld."
„Nein, es ist nicht deine Schuld, du kannst doch nichts dafür.", brachte ich zwischen den Tränen hervor. Man, ich wollte jetzt nicht mehr weinen. Wir mussten uns jetzt einen Weg überlegen, hier rauszukommen. Tapfer wischte ich die Tränen weg und versuchte die Röte meiner Augen verschwinden zu lassen. Ich stand auf, wobei ich mich so wenig wie möglich auf mein linkes Bein konzentrierte und wischte mir endgültig die Nässe aus dem Gesicht.
„Komm, wir müssen nach einem Happy End suchen." Ich hielt ihr meine Hand hin und sie ließ sich von mir hochziehen.
Wir suchten nach einer zweiten Tür, einer Falltür oder einem unentdeckten Gang, doch alles vergebens. Wir befanden uns in einem riesigen schwarzen Loch ohne Ausgang und wenig Licht. Eine Flucht war zwecklos. Dennoch gaben wir nicht auf und suchten hinter jedem Schrank und in jeder Ecke. Bestimmt eine Stunde lang.
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich an das Bücherregal neben mir. Hier gab es nichts, einfach nichts. Plötzlich hörte ich ein lautes Piepen hinter mir. Schnell zog ich das Tuch, was auf dem Schrank lag weg und machte somit eine Art Uhr sichtbar. Allerdings sah man dort nicht die Uhrzeit, sondern einen Timer. Noch 59 Minuten und 59 Sekunden. Bis was? Verdammt, was würde dann passieren? „Maria, schau dir das mal an." Maria kam auf mich zu und zog das Tuch noch weiter zurück. Sie starrte den Timer an, als wollte sie ihn hypnotisieren. „Diese Dreckskerle! Was wollen die nur?"
„Was ist das denn?"
„Das ist ein Timer und sehr wahrscheinlich wird hier, wenn die Zeit abgelaufen ist, die Bombe explodieren."
„Was?!"
„Ich weiß nicht, was die noch alles anrichten wollen. Die Forschungsunterlagen bewahre ich in einem Tresor oben in der Küche auf und den Schlüssel trage ich immer bei mir."
„Na los, draußen kannst du mir das auch erklären, aber wir müssen jetzt hier raus. Wir haben schon nur noch 58 Minuten Zeit." Panik stieg in mir hoch und hektisch begann ich erneut alles abzusuchen. Die Schränke, die Teppiche, die Ecken, nichts, einfach nichts. Eine einzelne Träne rollte mir die Wange hinunter, doch ich wischte sie weg und riss die Augen noch weiter auf. Die Minuten verstrichen, noch 50 Minuten. Und immer noch kein Ausweg. Ich könnte wirklich kotzen! (Sorry, für den Ausdruck)
Ich ließ die Augen noch einmal durch den Raum schweifen, in der Hoffnung doch noch etwas zu entdecken. Aber natürlich sah ich nichts, rein gar nichts. Außer Keller natürlich. Moment mal, da war doch ein kleiner dreckiger Griff im Boden. War das etwa eine Falltür? OMG, das könnte unsere Rettung sein. Hoffnungsvoll ging ich auf die Luke zu und untersuchte sie. Zu meinem Erstaunen ließ sie sich sogar öffnen und knarrend hoch ziehen. Darunter befand sich nur ein tiefes schwarzes Loch, aber tief unten konnte ich Wasser hören. Um genauer zu sein, wie das Wasser an die Betonwände klatschte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. War das einfach nur ein Gang oder ein Fluchtweg für uns? Noch 45 Minuten. Verdammt, wir mussten es ausprobieren. Aufgeregt rief ich nach Maria und zeigte ihr die Falltür. Sie überlegte, meiner Meinung nach zu lange. Am Ende nickte sie. „Wir müssen ja schließlich hier irgendwie raus." Aber an dem Ton ihrer Stimme konnte ich merken, dass sie eigentlich ganz und gar nicht da runter wollte. Aber, was hatten wir denn für eine Wahl? Mit meinem Rücken und meinem Bein wollte ich da auch nicht runter, obwohl sich mein Rücken wieder beruhigt hatte, was man von meinem Bein nicht gerade sagen konnte. Doch so oder so, hatte ich keine andere Idee parat. Ich betrachtete noch einmal kurz den Timer; 42 Minuten und 37 Sekunden, 36, 35... wir mussten da jetzt runter. Das Wasser war ziemlich niedrig. Warum stand überhaupt Wasser in dieser, ich sag jetzt mal, Höhle? „Maria, warum steht da Wasser drin?"
„Keine Ahnung, in der Nähe meines Hauses ist ein See, aber ich wusste noch nicht, dass er meinen tieferen Keller überflutet, ich wusste noch nicht mal, dass sich die Falltür öffnen lässt." Sie zuckte mit den Schultern.
„Egal, soll ich zuerst?" Sie nickte. Also setzte ich mich auf den Rand des Lochs und suchte nach einem Stein oder Fels oder sowas. Ich tastete nach Halt. Da, da war doch gerade etwas gewesen, ja ein Stein, ein rutschiger Stein. Verdammt, zu rutschig. Ich musste einfach versuchen, Halt zu finden. Wenn nicht, dann rutschte ich halt runter, aber dann war ich wenigstens unten. Ich stützte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Stein, rutschte weg, fiel, landete auf meinem Hintern. Wie konnte es denn auch anders sein. Es hatte ein dumpfes Geräusch gegeben, was sich aber schlimmer angehört hatte, als es war. „Alles in Ordnung da unten?", drang wenig später Marias Stimme von oben zu mir.
„Jaja." Ne, irgendwie nicht. Mein Po schmerzte und es war eine bescheuerte Idee gewesen, hier runterzugehen. Ich saß im Wasser, wusste noch nicht mal, ob es sauberes Wasser war, und konnte die Hand vor Augen nicht sehen. „Ich komme jetzt runter."
„Okay, aber pass..." Meinen Satz konnte ich nicht zu Ende sprechen, denn Maria rutschte an der gleichen Stelle ab und landete neben mir. „Alles gut?", fragte ich.
„Ja, gibt es hier auch Licht?"
„Das ist das Problem, über das ich gerade auch nachgedacht habe. Anscheinend nicht."
„Dann tasten wir uns einfach so vorwärts." Wir versuchten uns an den Wänden vorwärts zu tasten, aber wirklich schnell kamen wir nicht voran. Plötzlich leuchtete Licht über unseren Köpfen. „Was war das?"
„Keine Ahnung, warum ist da jetzt auf einmal Licht?"
„Naja, immerhin können wir jetzt was sehen." Diesen Gang könnt ihr euch genauso vorstellen, wie eine Gletscherhöhle mit Wasser darin; kalt, dunkel und ungemütlich. Das Wasser bildete kleine Pfützen und der Gang war sehr hoch, ich konnte die Decke nicht mal sehen. Wir gingen immer weiter, schön langsam, damit ich auch ja nicht ausrutschen konnte und mein Beinknochen nun wirklich brach. Nach ca. 10 Minuten zweifelte ich daran, dass es hier überhaupt einen Ausgang gab. Was, wenn nicht und wir uns hier ganz umsonst abmühten? Ein Schwall Wasser, der mir ins Gesicht spritzte, unterbrach meine Gedanken. Und so langsam begann ich doch richtig Angst zu bekommen. Die Pfützen füllten sich schnell, wurden immer größer, und das Wasser reichte mir schon bis zu den Knöcheln. „Verdammt, was passiert hier?"
„Wir müssen schnell zum Ausgang schwimmen, sonst ertrinken wir!" Oh shit, nicht nur die Bombe im Nacken, auch noch dieses Wasser. Ich rannte, rannte um mein Leben, wurde immer schneller, Maria hinter mir her. Wir flüchteten vor den Wasserfontänen und mein Herz schlug so schnell, dass ich fast Angst haben musste, dass es rausspringt. Das Wasser schoss, wie wild durch den Gang. Ich schluckte etwas von dem Wasser und bemerkte, dass es salzig schmeckte. Komisch, warum... das war jetzt auch egal, es könnte auch sein, dass ich mir das einbildete. Jetzt hatte das Wasser eine beängstigende Höhe erreicht, ich konnte nicht mehr laufen, musste schwimmen. Und bis zum Ausgang zu schwimmen, würde noch länger dauern. Ich streckte die Füße nach dem Boden aus, aber sie berührten ihn nicht; das Wasser stand zu hoch, viel zu hoch. Ich bemühte, mich über Wasser zu halten, schluckte noch einen Schwall davon, hustete und tauchte unter. Ich tauchte wieder auf und holte tief Luft. Die Wellen, die aus dem nichts entstanden waren, wirbelten mich von links nach rechts und tunkten mich unter, wie es mein Bruder immer im Schwimmbad gemacht hatte. Ich schüttelte mich, strich mir die Haare aus dem Gesicht, versuchte nach vorne zu schwimmen, einfach nur vom Fleck zu kommen. Alles brachte nichts, ich bewegte mich keinen Millimeter von der Stelle. Dort, eine Riesenwelle, ich versuchte in sie hinein zu schwimmen, schaffte es allerdings nicht, sie riss mich mit sich und ich hörte nichts mehr, meine Ohren waren von Wasser verstopft und etwas zu sehen war auch eine echte Herausforderung. Wo war denn jetzt oben? Ich musste an die Luft. Verdammte Kacke! Ah ja, jetzt, dort war noch etwas Platz zwischen Decke und Wasser. Meine Hände berührten das Moos an der Decke. Es fühlte sich uralt an und einfach nur ekelhaft. Etwas sehen konnte ich schon lange nicht mehr; meine Lider waren von dem Salz verklebt worden. Das einzige, was ich noch tun konnte, war, versuchen zu schwimmen. Nach vorne. Arme strecken, Beine strecken und wieder von vorne. Früher hatte ich immer diese „Froschbewegungen" gehasst, ich fand den Namen so schrecklich. Ich war auch nie eine besonders gute Schwimmerin gewesen, was ich jetzt hätte gut gebrauchen können. Die nächste Welle. Ich holte noch mal tief Luft und ließ mich untertauchen. Steine schlugen mir ins Gesicht und ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Ich drehte mich herum und schwamm in irgendeine Richtung, keine Ahnung, ob es die richtige Richtung war. Ich schwamm einfach nur, versuchte mich noch zu retten, versuchte einfach alles wieder in Ordnung zu bringen. Blubberblasen entstanden neben meinem Mund, so langsam konnte ich die Luft nicht mehr anhalten. Das Bedürfnis Sauerstoff in die Lungen zu pusten, wurde immer größer. Ich atmete aus und ein, verschluckte mich und bemerkte erst dann, dass man unter Wasser ja nicht atmen konnte. Meine Augen kniffen sich zusammen und ich presste die Lippen aufeinander, sie fühlten sich trocken an, obwohl ich mitten im Wasser schwamm. Mein Körper fühlte sich trocken an und meine Haare waren so komisch klebrig. Meine Kleidung klebte an meinem Körper, als hätte man sie mit Klebstoff festgeklebt. Alles fühlte sich klebrig und einfach nur schrecklich an. Plötzlich verschwand der Boden, den ich vor ein paar Sekunden noch deutlich unter meinen Fußsohlen gespürt hatte. Ich merkte keine Steine mehr, die mir ins Gesicht klatschten, keine Blubberblasen, die neben mir nach oben stiegen und auch kein Wasser, das mich umgab. Ich spürte einfach gar nichts mehr, bis auf vielleicht meine Arme und Beine. Moment, ne, doch nicht. Ich spürte wirklich nichts mehr, hörte nichts mehr, sah nichts mehr. Das Wasser versetzte mich in eine Art Trance und ließ mich alles andere vergessen. Ich träumte, träumte davon, wie der Strom des Wassers mich mitriss, wie ich ein Licht sah, das sich immer weiter entfernte, als ob ich von dem winzig kleinen Hoffnungsschimmer wegschwamm. Träumte von einer Hand, die sich auf meine Schultern legte, was aber eigentlich nicht sein konnte. Ich meine, wer sollte bitte da sein, wessen Hand konnte das sein? Außerdem spüre ich ja eigentlich auch gar nichts, kann nichts bewegen, treibe einfach nur im Wasser. Aber trotzdem war diese Hand da, wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber diese Hand verschwand einfach nicht. Sie lag einfach nur auf meiner Schulter, als ob sie vom Himmel gefallen wäre. Jetzt zog sie mich mit sich, nein, nicht von dem Licht weg, auf es zu. Ich wehrte mich gegen den festen Griff, aber die Hand zog mich von dem Licht weg, oder doch darauf zu? Ich hatte keine Ahnung, ich wusste ja noch nicht mal mehr, was ich für eine Augenfarbe hatte. Ich wusste gar nichts mehr. Mein Kreislauf schaltete ab, ich wirbelte herum, etwas Hartes schlug an meinen Kopf, ich verlor das Bewusstsein und klappte in mich zusammen. Wie lange war ich jetzt schon unter Wasser, ohne Sauerstoff? CO2, wenn ich im Bio-Unterricht gut aufgepasst hatte. Ach man, Schule hin oder her, würde ich sowieso nicht mehr hingehen können. Wenn das nicht meine letzten Sekunden waren, waren es meine letzten Minuten und wenn es nicht meine letzten Minuten waren, waren es meine letzten Stunden, was aber sehr unwahrscheinlich war. Ich wollte mich aber doch noch von meiner Familie verabschieden und mich bedanken. Wofür eigentlich? Für jahrelanges Ignorieren? Gleichgültigkeit? Und das ständige Gefühl, allein zu sein? Wohl kaum, aber trotzdem würde ich meine Mutter doch mal gerne drücken, was ich mich nie zuvor getraut hatte. Sie hatte mich nicht gedrückt, wenn ich eine gute Note in einer Arbeit geschrieben hatte, sie hatte mich nicht gedrückt, wenn ich ein neues Klavierstück gelernt hatte. Sie hatte mich noch nicht mal gedrückt, wenn ich geweint hatte, weil ich mich mal wieder so alleine fühlte. Trotzdem hab ich sie doch lieb, auch wenn sie eigentlich nie für mich da war, aber sie war immer noch meine Mutter. Meinen Bruder hatte ich auch lieb, auch wenn er mich im Schwimmbad keine Minute über Wasser gelassen und mir einmal sogar fast meinen Arm gebrochen hatte, aber er war immer noch mein Bruder. Und meinen Vater hatte ich auch lieb, auch wenn er ein riesengroßer Feigling war und er es nie übers Herz gebracht hatte, mit meiner Mutter zu reden, aber er war immer noch mein Vater. Ich hatte meine Oma so unendlich lieb, mit ihren ganzen Geschichten über Seeräuber und noch viele andere Themen. Und die ganzen Regale voller Bücher und Staub, der Geruch jeder einzelnen Buchseite und das starke Parfüm, das sie immer auftrug. Sie war einfach die beste Oma, die ich mir vorstellen konnte, die beste Person, die ich jemals gekannt hatte. Ich hatte sie einfach alle so schrecklich lieb und wollte mich noch verabschieden. Ich konnte sie doch nicht einfach so alleine lassen.
Ich träumte von hellem Licht, grellem Licht, was mir direkt ins Gesicht schien. Eine aufgeregte Frau, die mit zitternden Händen ein Handy hielt und etwas hinein tippte. Wenig später hörte ich ihre laute Stimme, die wild in das Telefon sprach. Dann legte sie es weg und ich sah nur noch ihr Gesicht, das schmerzverzerrt über mir schwebte. Stundenlang, so kam es mir zumindest vor, lag ich da, sie über mir. Es passierte alles so rasend schnell. Wie war ich überhaupt in diese Lage gekommen? Warum lag ich hier, und worauf? Wo war das ganze Wasser hin? So viele Fragen und keine einzige Antwort.
Verdammt, was war hier los?
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