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Vor zwei Jahren, als ich 11 war, hat alles angefangen. Meine Eltern haben angefangen, stolz auf mich zu sein, ich habe angefangen zu schreiben, mein Bruder hat angefangen, die Schuld nicht immer mir in die Schuhe zu schieben, mein Leben hat angefangen einen Sinn zu machen.
Früher war ich immer die schwarze Tänzerin der Familie gewesen. Jeder aus meiner Familie hatte einmal das Tanzen begonnen, sogar Dad und mein Bruder Philipp, nur ich fand keinen Spaß an diesem sinnlosen Herumgehopse. Wie konnten diese komplizierten Sprünge denn auch Spaß machen?
Bis vor zwei Jahren hatte ich die Sprache meiner Familie einfach nicht verstanden, und sie meine nicht.
Manchmal ging ich rüber zu Oma in die kleine Bücherrei, in der sie noch ein paar alte Bücher zum Austausch anbot. Ich liebte diesen Geruch nach alten Buchseiten, ich liebte dieses Licht, dass die Regale, die Stühle und den ganzen Raum so gemütlich machte, ich liebte meine Oma und die ganzen Geschichten, die sie mir Tag für Tag erzählte, wovon die meisten wahrscheinlich nicht mal wahr waren. Aber es war einfach alles egal, wenn ich neben ihr auf dem Sofa saß und sie von Schiffsunglücken, alten Ruinen und Schlossgespenstern erzählte. Ich vergaß den ganzen Stress, den mir meine Eltern, um genauer zu sein meine Mutter, bis dahin noch gemacht hatte. Oma war einfach die einzige Person in meinem Leben, die ich verstand, die mich verstand. Für alle anderen war ich der dritte Turnschuh, den man nicht mehr brauchte, weil man schon zwei anhatte.
Zu meinem elften Geburtstag schenkte Dad mir eine Zugfahrt nach Augsburg und eine Fahrt drei Tage später wieder zurück. Er steckte mir das Kuvert, in dem sich die Zugtickets befanden, heimlich zu und sprach am folgenden Abend mit mir darüber.
Er wusste, dass Mum es mir nicht leicht machte, aber er hatte sich nie getraut, meiner Mutter zu widersprechen. Sie war genauso aufgewachsen wie ich, sie kannte es nicht anders.
Auf jeden Fall schickte er mich mit elf Jahren nach Augsburg zu meiner Patentante. Für drei Tage. Alleine! Ich hatte ihn nur völlig entsetzt angeschaut und den Kopf geschüttelt, doch er schaffte es schließlich doch noch mich zu überreden. „Es wird dir gut tun.", hatte er gesagt, was ich nicht verstanden hatte.
Also fuhr ich 3 Monate später zu meiner Patentante, die ich noch nie gesehen hatte. Ich hatte gehört, wie Mum und Dad sich darüber gestritten hatten, warum ich fuhr und, ob ich überhaupt fuhr, doch am Ende hatte Dad gewonnen und mich mit seinem schiefen Lächeln ermutigt. Ich hatte zurück gelächelt und aus dem Fenster gewunken. Ich wollte nicht mit dem Zug fahren, schon gar nicht alleine! Wenn nun irgendetwas passieren würde. Ich hatte es schon so oft gelesen, dass Züge ausfielen, oder auf Grund eines Unwetters nicht weiter fuhren. Nur gut, dass ich einen Sitzplatz hatte. Langsam ließ ich mich auf meinen Platz gleiten und stellte meine Tasche zwischen meine Beine. Ich schaute aus dem Fenster und merkte, wie meine Wangen nass wurden. Ich weinte still vor mich hin und ließ die Tränen einfach laufen. Nach einiger Zeit wischte ich mir die Tränen weg und fing an zu lesen. Eine halbe Minute später hielt der Zug und eine Frau mit hellblonden gelockten Haaren fragte mich, ob sie sich neben mich setzen dürfe. Ich nickte und sie setzte sich. Einige Zeit saßen wir einfach da, ich mit meinem Buch und sie mit ihrem Handy. Doch plötzlich fragte sie: „Hast du geweint? Deine Augen sehen rot aus." Was konnte ich da denn schon sagen? Lügen konnte ich nicht, meine Augen verrieten alles. Und eine Ausrede erfinden war auch keine gute Idee, da hatte ich nur eine Wahl, ich musste der Frau die ganze Geschichte erzählen. Also erzählte ich und die Frau hörte aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, es waren bestimmt 15 Minuten vergangen, lächelte die Frau mir zu und zeigte auf mein Buch. „Hast du schonmal versucht, selbst einen kleinen Text zu produzieren?" Ich schüttelte den Kopf. „Versuch es einfach mal, schreib das, was dir in den Kopf kommt und überleg nicht lange. Du wirst sehen, danach geht es dir besser." Sie gab mir Stift und Papier und ich fing an zu schreiben. Ich schrieb über meine Familie, über meinen Bruder und über meine Oma. Die erste Seite wurde voll und ich drehte das Blatt um. Ich fühlte mich frei und klammerte mich immer mehr an dem Stift und an meiner kleinen Kurzgeschichte fest, in der ich selbst endlich mal die Hauptrolle spielte.
Immer mehr schrieb ich und als der Platz zu wenig wurde, schob die Frau mir einen neuen Zettel zu. Ich schrieb über meine Patentante und, wie ich sie mir vorstellte: Blond mit ein paar Naturlocken, Sommersprossen und dünne Lippen, schlanke Figur und braune Augen. Was wohl ihre Eigenarten waren? Trank sie Tee mit angehobenem kleinen Finger, oder trank sie nur Kaffee? War sie total tollpatschig, oder hatte sie immer einen guten Plan? Was für einen Beruf sie wohl erlernt hatte? Vielleicht Schauspielerin? Oder Köchin? Hatte ich sie vielleicht doch schon einmal gesehen und wusste nur nicht, dass sie es war? Hatte ich sie vielleicht schon mal in einer Show im Fernsehen gesehen? War ich ihr vielleicht schon mal auf einem Spaziergang begegnet und hatte es nicht bemerkt? Meine Gedanken schossen Pfeile hin und her und so langsam begann ich mich sogar auf Augsburg zu freuen. War da nicht dieses große Schwimmbad gewesen, indem es um die 15 Rutschen gab? Vielleicht konnte ich mit meiner Patentante dorthin gehen? Hatte ich überhaupt einen Badeanzug dabei? Ja, hatte ich, Dad hatte darauf bestanden. Er hatte meinen Koffer so um die tausendmal ausgeräumt und wieder eingeräumt, nur um sicher zu sein, dass ich nichts vergessen hatte. Das war der riesige Unterschied zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Dad: fürsorglich und interessiert, Mum: motzig und desinteressiert. Aber es war schon in Ordnung, ich hatte mich dran gewöhnt. Ich schaute auf die Uhr, ich war schon 3 Stunden unterwegs. Es kam mir noch gar nicht so lange vor. Die Frau musste wohl meinen Blick bemerkt haben, denn sie sagte: „Die Zeit vergeht dann ziemlich schnell, oder?" Ich nickte schüchtern. Ehrlich gesagt hatte ich keine Lust mehr, neben dieser Schreib-Frau zu sitzen. Ihr ständiges Lächeln schien mich zu durchbohren und es ging mir allmählich wirklich auf den Keks. Ich faltete die Zettel zusammen und ließ sie in meiner Tasche verschwinden.
Ab diesem Augenblick erkannte ich mein Talent. Früher hatte ich immer gedacht, ich hätte keine besondere Begabung. Im Sportunterricht fiel mir keine auf und in meiner Freizeit sowieso nicht. Ich dachte, ich wäre ein stinklangweiliges Mädchen gewesen. Aber jetzt sah ich das aus einer ganz anderen Perspektive. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich ein besonderes Mädchen war, aber jetzt war ich wenigstens normal. Und ich hatte etwas, was ich konnte und mein Bruder nicht. Im Deutschunterricht hatte er immer schlechte Noten in Berichten und solchem Zeug geschrieben, aber ich hatte, wenn ich jetzt mal darüber nachdenke, immer gute Noten mit nach Hause gebracht. Während dem Schreiben fließt ein bestimmtes Gefühl durch meinen Körper. Ich kann es nicht beschreiben, aber es fühlt sich einfach nur schön an. Den Kopf von den ganzen Gedanken zu befreien, die sich ineinander verkreuzen, ist so ein befreiendes Gefühl. Es macht solch einen Spaß seiner Fantasie einfach freien Lauf zu lassen. Ich grinste vor mich hin und schaute aus dem Fenster. Die vielen Häuser, Bäume und Straßen, die am Zug vorbeiflogen, machten mich träge und ich schlief schließlich ein. Ich hatte einen schönen Traum, indem ich eine Autorin traf und sie mir Tipps gab, wie ich meine Texte verbessern konnte. „Aber im Allgemeinen gibt es bei deinen Texten nicht mehr viel zu verbessern.", hatte sie gesagt und ich hatte sie angelächelt.
Ein unangenehmes Vibrieren in meiner Hosentasche weckte mich schließlich. Ruckartig richtete ich mich auf und suchte nach meinem Handy, von dem das Vibrieren ausging. Wie viel Uhr hatten wir? Oh, Hilfe, der Zug würde jeden Augenblick in Augsburg halten. Warum war ich nur eingeschlafen? Nur gut, dass ich mir vorher einen Timer gestellt hatte. Schnell raffte ich meine Sachen zusammen und zog meine Jacke an. Der Zug hielt und erst jetzt bemerkte ich, dass die Frau schon nicht mehr da war. Sie hatte wohl nur eine kleine Reise gemacht. Schnell schlüpfte ich aus dem Zug und schaute mich um. Schitt, wie sah meine Patentante denn jetzt wirklich aus? Ich hatte keine Ahnung. Wie sollte ich sie denn jetzt finden? Orientierungslos lief ich auf dem Bahnsteig hin und her. Wo war denn hier eine Bank, auf der ich warten konnte? Vielleicht hatte sie sich einfach nur ein bisschen verspätet. Ich setzte mich auf die erste Bank, die ich entdeckte und wartete. 5 Minuten, 10 Minuten, 15 Minuten. Nach 20 Minuten machte eine kleine Spur von Panik sich in mir breit. Ich hatte kein Foto, keine Handynummer, gar nichts. Was wenn sie auch nichts persönliches von mir hatte. Würde ich dann die Nacht auf dieser Bank verbringen müssen? Ich versuchte auf andere Gedanken zu kommen, was mir allerdings nicht gelang. Eine halbe Stunde saß ich nun schon hier und kein Mensch hatte mich angesprochen. In Gedanken entwarf ich mir einen Plan für die Nacht, als mich eine braunhaarige Frau ansprach. „Bist du Julia Karakoff?" Ich nickte. „Es tut mir so leid. Ich stand im Stau und bin viel zu spät. Entschuldigung."
„Alles gut, ist doch nichts passiert." Ich lächelte die Frau, die offenbar meine Patentante sein sollte, an. Sie hatte dunkelbraune Naturlocken und ihre Nase war beängstigend weit von ihren Augen entfernt, die hellblau waren. Ihre Lippen waren etwas zu dünn für meinen Geschmack und die Nase war ziemlich kantig. Ich schaute in ein lächelndes rundes Gesicht. Es war ein schönes Lächeln, aber doch war ich mir nicht so sicher, ob wir uns die paar Tage verstehen würden. Sie war schlank und ziemlich groß für eine Frau. Die Sommersprossen fehlten allerdings.
Sie nahm mir meine Tasche ab und marschierte los. Ich musste mich bemühen mit ihr Schritt zu halten. Mit ihren langen Beinen machte sie ganz schön große Schritte. Welche Schuhgröße hatte sie? 43? So sah es zumindest aus. Ihre Füße steckten in dunkelblauen Chucks und ihre Hose war schwarz. Sie sah so aus, als ob sie von jemandem genäht worden war, der kein bisschen mit einer Nadel umgehen kann. Manche Nähte waren nicht zu Ende genäht worden und andere waren schon wieder aufgerissen. Zudem bestand die Hose aus mehr Löchern, als aus Stoff. Ihr T-Shirt war grau-weiß gestreift und passte kein bisschen zur Hose. Maria, so hieß sie, hatte anscheinend keinen guten Modegeschmack. Eher hatte sie gar keinen. Der Parkplatz, auf dem Maria offenbar geparkt hatte, kam in Sicht und sie steuerte ein Auto an, dass noch weniger zu ihrem Outfit passte. Auch wenn grün meine Lieblingsfarbe war, gefiel mir dieses Auto nun wirklich nicht. Es war dunkelgrün und von so viel Dreck bespritzt, dass man eigentlich schon nur noch braun sah. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt und mit dem nächsten Zug nach Hause gefahren. Was war das für eine Patentante? Kein Modegeschmack, viel zu groß, ungesprächlich und noch nie in einer Waschstraße gewesen. Ich schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles einfach nicht wahr sein. Alles, was ich während des Schreibens noch gefühlt hatte, hatte sich jetzt in Luft aufgelöst. Ich spürte nur noch Angst und Unbehaglichkeit. Zögernd stieg ich in das Auto und ließ den Gurt in den Anschnaller schnappen. Maria drückte aufs Gas und brauste los. Erleichtert stellte ich fest, dass wenigstens ihr Fahrstil einigermaßen in Ordnung war. Sie kurvte um verschiedene Kurven und parkte schließlich vor einem braunen Backsteinhaus. Die Fenster und Türen waren weiß und sahen nicht sonderlich stabil aus. Maria stieg aus, holte meine Tasche aus dem Kofferraum und ging schon auf die Tür zu, obwohl ich noch gar nicht ausgestiegen war. Schnell stand ich auf, schlug die Autotür zu und stolperte hinter ihr her. Sie schloss die Haustür auf und ließ mich hinein. „Dein Zimmer ist die Treppe hoch und die dritte Tür links und das Badezimmer ist direkt gegenüber. Du kannst ja schon mal deine Sachen auspacken." Ich nickte. Freundlich war aber was ganz anderes. Ich hatte gar keine Zeit mich umzusehen, sie scheuchte mich direkt die Treppe hoch. Auf halbem Wege hielt sie mich am Arm fest und fragte, ob sie sich mein Handy ausleihen dürfe. Sie müsse mal telefonieren und ihr Telefon wäre kaputt. Ich nickte und gab ihr mein Handy. Sie ging die Treppe wieder runter und deutete mir, weiter rauf zu gehen. Also stieg ich weitere 10 Stufen hinauf und suchte mein Zimmer. Dritte Tür links, das müsste dann da sein. Ich drückte die Klinke einer holzbraunen Tür hinunter und betrat den Raum. Das erste, was ich erkennen konnte, waren zwei weiße Fenster nebeneinander. Die weinrote Tapete bildete einen guten Kontrast dazu. Und der Teppich-Boden war weich, wie Sand am Strand. Die Möbel waren weiß und aus Holz angefertigt worden. Das Bett stand in einer Ecke und rechts daneben der Nachttisch. Das Zimmer war viereckig und an den Schrägen der Decke konnte man erkennen, dass das Zimmer direkt unterm Dach liegen musste. Der Schreibtisch stand unter den Fenstern und der Kleiderschrank auf der gegenüberliegenden Seite. Insgesamt wirkte alles sehr einladend, was man von der Gastgeberin ja nicht behaupten konnte. Ich stellte meine Tasche ab und ließ mich aufs Bett fallen. So hatte ich mir meinen Kurzurlaub nun wirklich nicht vorgestellt. Schließlich wollte ich ja von Anfang an nicht fahren, oder? Vielleicht würde ein Stift mir ja helfen einen klaren Kopf zu bekommen? Auspacken würde ich jetzt definitiv nicht. Die Schränke waren ja noch nicht mal staubfrei, was ich feststellte, als ich eine Schublade des Schrankes öffnete. Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl, der unter meinem Gewicht fast auseinander zu fallen drohte und kramte die Zettel und einen Stift hervor. Lieber würde ich alle Tage in diesem Zimmer verbringen, als mit Maria irgendwelche Ausflüge zu machen. Plötzlich, als ich gerade den nächsten Satz aufs Papier schreiben wollte, hörte ich ein lautes Knarren. Es klang wie Metall, dass auf anderes Metall schlägt. Suchend schaute ich mich um. Das Schlüsselloch! Es kam aus dem Schlüsselloch. War Maria jetzt vollkommen verrückt geworden? Warum schloss sie die Tür ab? Wie eine Verrückte sprang ich auf, wobei ich den Stift und das Papier auf den Boden segeln ließ, und lief auf die Tür zu. Ich klopfte gegen das alte Holz und rief so laut ich konnte, aber es war zu spät, Maria war schon wieder die Treppe hinunter gegangen.
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